Wissenschaft und Technik
Tunguska-Rätsel vor Lösung – Spur führt zum Krater
Das Tunguska-Ereignis ist seit 99 Jahren von Geheimnissen umgeben: Bis heute gilt als ungeklärt, was die gewaltige Explosion über Sibirien ausgelöst hat. Forscher glauben jetzt, einen Einschlagskrater gefunden zu haben – was zumindest die obskursten Theorien entkräften könnte.
Es war eines der monumentalsten Feuerwerke, die je ein Mensch beobachtet hat. Am 30. Juni 1908 donnerte ein gewaltiger Feuerball aus südöstlicher Richtung auf Sibirien zu. Dann tauchte ein Blitz den Himmel in grelles Licht. Eine unvorstellbar heftige Explosion ließ noch im 65 Kilometer entfernten Handelsstützpunkt Wanawara Türen und Fenster splittern. In der Taiga fielen der Druck- und Hitzewelle rund 60 Millionen Bäume auf einer Fläche von etwa 2000 Quadratkilometern zum Opfer. Augenzeugen in Hunderten Kilometern Entfernung sahen den Feuerschein oder berichteten von silbrig glühenden Wolken. Sensoren in aller Welt registrierten Druck- und Bebenwellen.
Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass sich an jenem 30. Juni 1908 in einer Höhe von fünf bis zehn Kilometern eine Explosion mit einer Sprengkraft von 10 bis 15 Megatonnen TNT1 ereignet hat – was in etwa 700 bis 1000 Hiroshima-Bomben entspräche. Die genaue Ursache ist bis heute unklar, denn bisher wurden weder ein Einschlagskrater noch andere Spuren des Auslösers gefunden. Die meisten Forscher verdächtigen einen Kometen oder einen felsigen Asteroiden, der beim Eintritt in die Atmosphäre zerplatzte. Daneben gibt es Theorien über den Ausbruch unterirdischer Gasmassen, winzige schwarze Löcher und Antimaterie-Teilchen. Es kursierten sogar Berichte, dass Außerirdische die Katastrophe verursacht hätten. Reste ihres Raumschiffs seien 2004 gefunden worden.
Italienische Forscher glauben nun, zumindest die exotischen und bizarren Thesen entkräften zu können: Sie wollen einen Einschlagskrater gefunden haben, der acht Kilometer vom Epizentrum der Tunguska-Explosion entfernt liegt. Das Loch, das heute vom Tscheko-See gefüllt ist, sei von einem Bruchstück jenes Asteroiden gerissen worden, der 1908 die gewaltige Detonation ausgelöst hat, schreiben die Wissenschaftler im Fachblatt «Terra Nova».
Reste des Asteroiden bleiben verschwunden
«Wir glauben, dass das Bruchstück mit relativ geringer Geschwindigkeit in das sumpfige Gebiet gestürzt ist und diesen Krater geschlagen hat», sagt Studienleiter Luca Gasperini vom Istituto Szienze Marine in Bologna. Wahrscheinlich habe es sich bei dem kosmischen Brocken eher um einen steinernen Asteroiden gehandelt als um einen Kometen.
Letzte Sicherheit gebe es freilich noch nicht, räumen die Forscher ein. Denn nach wie vor fehlt das wichtigste Beweisstück: ein Überbleibsel des Asteroiden. Auf Bildern, die anhand von Schalluntersuchungen angefertigt wurden, ist ein scharfes Echo rund zehn Meter unter dem Boden des Sees zu sehen. An dieser Stelle unterscheidet sich die Dichte des Erdreichs deutlich von der Umgebung.
Gasperini und seine Kollegen vermuten, dass es sich dabei entweder um Sedimente handelt, die bei dem Einschlag stark verdichtet wurden, oder um ein großes Stück des Geschosses selbst. «Leider konnten wir nicht tief genug bohren, um eine Probe zu nehmen», sagt Gasperini. Derzeit sei man auf der Suche nach Sponsoren, um im kommenden Jahr eine neue Expedition zu starten und nach Resten des Asteroiden zu suchen.
Kritik von Experten
Die Abwesenheit eines solchen Fundes lässt andere Experten skeptisch auf die Theorie der Italiener reagieren. «Meiner Meinung nach haben sie keine schlüssigen Beweise vorgelegt, dass es sich hier um die Spuren eines Einschlags handelt», sagte Gareth Collins vom Londoner Imperial College zur britischen BBC. «Die Einschlagskrater-Fachgemeinde akzeptiert keine Strukturen als Krater, wenn es keine Hinweise auf hohe Temperaturen oder hohe Druckeinwirkungen gibt. Dafür sind geschmolzene oder beim Einschlag weggeschleuderte Steine notwendig.»
Der deutsche Einschlagskrater-Experte Kord Ernstson nannte Collins’ Einwände dagegen «typisch in der Impaktforschung2»: «Es wird immer auf Modellrechnungen und bisherige Modelle und Befunde verwiesen, und nach denen darf das kein Impaktkrater sein», so Ernstson. «Auf die Idee zu kommen, dass ein bisher unbekannter Prozess auch zu bisher unbekannten Formen und Befunden führen kann, reicht es offenbar nicht.» Letztlich seien Messungen wichtiger als theoretische Berechnungen. Das, was Collins als «Einschlagskrater-Fachgemeinde» bezeichne, zeichne sich durch eine «rückwärts schauende Betrachtungsweise aus».
In der Tat machen Gasperini und seine Kollegen die besonderen geologischen Bedingungen in der Tunguska-Region für das Fehlen einer bei Meteoritenkratern üblichen Wulst von Auswurfmaterial verantwortlich. Das Gebiet ist von Sümpfen durchzogen, die auf einer rund 25 Meter dicken Permafrostschicht3 ruhen. Die Wucht und die enorme Hitzeentwicklung des Einschlags hätten vermutlich große Wassermengen verdampfen lassen, den Permafrost großräumig aufgeschmolzen und dabei im Boden gespeichertes Methan freigesetzt, glaubt Gasperini. Durch die Ausgasungen und den Kollaps des weichen Erdbodens sei der Kraterrand aus ausgeworfenem Material versunken.
Einschlag als plausibelste Erklärung
Die Italiener erörtern in ihrem Fachartikel auch andere mögliche Mechanismen, die zur Entstehung des Tscheko-Sees geführt haben könnten. Vulkanische Prozesse etwa seien auszuschließen. Das gleiche gelte für den sogenannten Thermokarst – ein Prozess, der durch Schmelzvorgänge im Permafrostboden Seen mit steilen Ufern und nahezu ebenem Grund entstehen lässt.
Der Tscheko-See aber besitzt die Form eines Trichters. Es sei «höchst unwahrscheinlich», dass der Fluss Kimtschu, der den Tscheko-See speist, durch normale Erosions- und Umverteilungsprozesse ein 50 Meter tiefes konisches Loch geschaffen habe, heißt es in der Studie. Vielmehr entsprächen die Trichterform des Sees sowie das Verhältnis zwischen Tiefe und Durchmesser dem, was man bei einem Meteoriteneinschlag in einen weichen Untergrund erwarten würde.
Die leicht elliptische Form des Sees sei gut mit einer relativ geringen Aufprallgeschwindigkeit und einem flachen Winkel vereinbar, meint Gasperini. Sein Team hat errechnet, dass der Asteroid einen Durchmesser von etwa zehn Metern besaß, bis zu 1500 Tonnen wog und sich mit 3600 bis 36 000 Kilometern pro Stunde in einem Winkel von etwa 45 Grad in die Erde gebohrt hat.
Weicher Grund hat Aufprallenergie aufgenommen
Der britische Experte Collins wendet zwar ein, dass ein Einschlag die Bäume im Umfeld des Sees umgeknickt hätte – und dass der See heute mit Bäumen umgeben sei, die offenbar älter als 100 Jahre seien. Doch auch dafür haben die Italiener eine Erklärung: Der weiche Grund habe einen großen Teil der Aufprallenergie absorbiert, was die Druckwelle des Einschlags vergleichsweise gering habe ausfallen lassen.
Kraterexperte Ernstson nennt die Argumentation der Italiener «plausibel»: «Mehr kann man mit dem gegenwärtigen Material nicht machen.» Zweifel aber werden bleiben, bis ein Stück des Asteroiden auftaucht. «Reste des Projektils4 unter dem Seeboden aufzufinden, wäre natürlich wundervoll», meint Ernstson, «weil man dann möglicherweise auch Rückschlüsse auf den Charakter des Tunguska-Impaktors ziehen könnte.»
Die italienischen Forscher sehen das ähnlich. «Das Problem ist, dass wir dieses Objekt finden müssen», sagt Gasperini. Die bisher genommenen 1,80 Meter langen Bohrkerne hätten aber weder Gesteine aus der Zeit des Einschlags noch aus der Zeit davor erreicht, räumen die Forscher ein. Eine neue Bohrung «könnte dieses Dilemma lösen».
Von Markus Becker
Der Text ist entnommen aus:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,490518,00.html
1TNT, Abk. für den Sprengstoff 2,4,6-Trinitrotoluol (Nitrotoluole).
2Im|pakt, der; -s, -e [engl. impact = Auf-, Einschlag; Wucht, zu: to impact = zusammendrücken, -pressen < lat. impactum, 2.Part. von: impingere = (gegen etw.) schlagen, stoßen, werfen] (Fachspr.): Meteoriteneinschlag.
3Permafrost [Kw. aus permanent und Frost]: Dauerfrostboden. Dauerfrostboden (ewige Gefrornis, Permafrost): nur im Sommer oberflächl. auftauender Boden im nivalen Klimabereich (Sibirien, Alaska).
4Pro|jek|til, das; -s, -e [frz. projectile] (Fachspr.): 1. Geschoss [von Handfeuerwaffen]. 2. (Jargon) Rakete.