Wissenschaft und Technik
Held der Meere und der Medien
Thor Heyerdahl war ein Mann von Überzeugung: Vehement vertrat er die Thesen, dass der Pazifik von Südamerika aus besiedelt wurde und dass die Ägypter und Sumerer einst die Kunst des Pyramidenbaus nach Mexiko brachten. Der Norweger irrte oft – Erfolg hatte er trotzdem.
Thor Heyerdahls «Kon-Tiki» segelte mitten durch die Kinderzimmer und die Träume vieler Erwachsener. Die Fahrt dieses im Stil der Inkas gebauten Floßes aus Balsaholz hat in Menschen aller Kontinente Fernweh und Abenteuerlust geweckt. Und das Antlitz des gleichnamigen Sonnengotts Kon-Tiki auf dem Segel ist den Lesern des wohl populärsten Expeditionsberichts aller Zeiten nach sechs Jahrzehnten immer noch vertraut – Lesern, die mit Heyerdahl fieberten, wenn er schrieb: «Links sehe ich die mächtige blaue See mit ihren schäumenden Wogen, die sich in endlosem Lauf vorbeiwälzen. Rechts liegt in einer dämmrigen Hütte, die seit Wochen unsere Heimstatt ist, ein bärtiges Individuum auf dem Rücken, liest Goethe und gräbt seine bloßen Zehen nachdenklich zwischen die Querleisten des niedrigen Bambusdachs.»
Im Frühjahr 1947 treibt und segelt Kon-Tiki vom peruanischen Callao aus in gemächlichem Tempo Richtung Polynesien – über etwa viertausend Seemeilen offenen Pazifik, am Heck die norwegische Flagge. «Vor der Hütte arbeiten drei andere Kerle in der prallen Sonne auf dem Bambusdeck», erzählte Heyerdahl in seinem Bestseller, «sie sind halbnackt, braungebrannt und bärtig, mit Salzkrusten auf dem Rücken und mit einer Miene, als hätten sie nie etwas anderes getan, als den Pazifik auf einem Floß überquert.»
Dabei haben weder der 33-jährige Thor Heyerdahl noch seine fünf Freunde und Schicksalsgenossen damals von Seefahrt und Segeln einen Schimmer. Aber sie wollen mit der Nonchalance und dem Draufgängertum junger Männer beweisen, dass die Atolle und Vulkaninseln der Südsee einst von Südamerika aus besiedelt wurden – obwohl die Koryphäen der Völkerkunde bisher kompromisslos die Meinung vertreten, dass das von Südostasien aus geschah. Seefahrtkundige sagen der sperrigen Konstruktion aus Balsa, einer sehr leichten Holzart, die bedenklich flach im Wasser liegt, den baldigen Untergang voraus – «ein unseriöses Selbstmordunternehmen», unkt ein Anthropologe. Doch tatsächlich segeln die Kon-Tiki und ihre Besatzung geradewegs in die Schlagzeilen der Weltpresse.
In den 1950er, 1960er und 1970er Jahren wird Thor Heyerdahl sogar zum populärsten Forscher überhaupt. Ein Reporter will von ihm noch fast dreißig Jahre später wissen, wie die Norweger monatelang ohne Nachschub an frischem Trinkwasser überlebt haben. «Wir haben Regen gesammelt», erklärt Heyerdahl seinem erstaunten Zuhörer, «und jeden Tag fingen wir Fische und pressten ihre Lymphflüssigkeit aus. Die schmeckt zwar nicht gut, hat aber weniger Salz als das menschliche Blut – so kann man ohne Schwierigkeiten überleben!»
Heyerdahls Expeditionen begeistern Millionen Menschen. Und sie brüskieren mit ihrer Mischung aus Querdenkerei, Wagemut und tatkräftiger Naivität immer wieder die etablierte Völkerkunde. Das «Zeit»-Magazin erklärt den Norweger zum «Enfant terrible der Naturwissenschaft», die «FAZ» sieht in ihm einen «unerschrockenen Ernstnehmer eigenen Seemannsgarns». Heyerdahl selbst schreibt in seinem Buch Kon-Tiki – Ein Floß treibt über den Pazifik: «Merkwürdig. Die Wissenschaftler halten mich für einen Seemann und die Seeleute für einen Forscher. Dabei bin ich beides: Ethnologe und Entdeckungsreisender.»
Thor Heyerdahl wurde wenige Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs, am 6. Oktober 1914, geboren. Er wuchs im Walfangstädtchen Larvik, am Südausgang des Oslo-Fjords, auf. Sein Vater war Brauereibesitzer, von seiner Mutter erfuhr er von den Theorien Charles Darwins und las viele Bücher über Entdeckungsreisen, wilde Tiere und fremde Völker. Das muss ihr einziges Kind tief beeindruckt haben. Thor scheint in seiner Jugend eher introvertiert gewesen zu sein, ein wasserscheuer «Angsthase», der erst als Erwachsener schwimmen lernt. In seiner Autobiografie schreibt er: «Als ich 15 war, notierte mein Lehrer im Klassenbuch: Thor ist der ruhigste Junge in der Klasse.»
An der Universität Oslo studiert Heyerdahl Zoologie und Geografie. Ende 1937 bricht er, zusammen mit seiner ersten Frau, zur Südseeinsel Fatu Hiva auf – eine Kombination aus Hochzeitsreise und Forschungsaufenthalt. «Dort», so schreibt er, «wollte ich versuchen, zum ursprünglichen Leben des Menschen zurückzukehren, um die Zivilisation von außen zu betrachten.»
Heyerdahl und seine Frau Liv, beide um die zwanzig, leben ein Jahr lang in den subtropischen Wäldern – wohl auch, um dort nach einem irdischen Paradies zu suchen. «Aber ich muss sagen», gibt er später zu, «es war wirklich sehr schwer. Und ich glaube auch, dass Fatu Hiva die letzte Südsee-Insel war, auf der man ein solches Experiment versuchen konnte. Auf allen anderen Inseln lebten schon damals zu viele Menschen, um im Wald herumzuwandern und Bananen, Papaya und Kokosnüsse zu ernten.»
Myriaden von Moskitos, das feucht-heiße Klima und der Alkoholismus mancher Insulaner setzen den norwegischen Gästen zu. Viele Einheimische sind von schrecklichen Krankheiten wie der Elephantiasis gezeichnet, die ihre Gliedmaßen zu grotesker Größe anschwellen lässt. Tatsächlich waren vier von fünf polynesischen Ureinwohnern an derartigen, von europäischen Seeleuten eingeschleppten Plagen gestorben. Solche Folgen weltumspannender Kontakte scheint Thor Heyerdahl später immer wieder zu vergessen.
Völkerkunde, das Fach, dessen Lehren er gerne herausforderte, hat er selbst nie studiert. In ethnologischen Fragen war der Norweger Autodidakt. «Er ist in erster Linie Abenteurer gewesen, der versucht hat, mit Hilfe seiner Reisen und spektakulärer Aktionen festgefahrene Theorien aufzubrechen», sagt Nikolai Grube, Professor für Altamerikanistik und Ethnologie. Das sei ihm auch gelungen, meint der renommierte Wissenschaftler der Universität Bonn. Heyerdahl habe viele Diskussionen ausgelöst, die heute jedoch keine große Rolle mehr spielten.
In jenem Jahr auf Fatu Hiva stellt sich Thor Heyerdahl immer wieder die Frage nach den «Völkerwanderungen auf dem Meer», wie er sie nennt. In der Tradition seiner seefesten, welterfahrenen Ahnen versteht dieser «Forscher mit Wikingerblut» die Ozeane als Verkehrswege, nicht als unüberwindliche Hindernisse zwischen den Kulturen. Auf die Idee der Völkerwanderungen kommt er, als er im Kanu an der Küste entlang nach Osten paddelt, wo Tausende von Kilometern entfernt Südamerika liegt. Dabei stellt er fest, dass er den Wind immer gegen sich hat und kaum vorankommt. Mit den Meeresströmungen verhält es sich ganz ähnlich. «Und alle beide waren so stark», erzählt er, «dass die Eingeborenen selbst enorme Probleme hatten. Darum habe ich gedacht: Ist es möglich, was alle Lehrbücher schreiben? Dass die Polynesier ursprünglich aus Asien kamen, gegen Wind und Strömung?»
Im Unterholz Fatu Hivas und seiner Nachbarinseln zeigt man Heyerdahl in Stein gehauene Statuen, die ihn, bis in Details hinein, an die Bildhauerkunst südamerikanischer Indianer erinnern. Lateinamerikanische Kulturpflanzen wie der Flaschenkürbis finden sich auch überall in der Südsee – und die indianische Süßkartoffel, die die Andenvölker «Kumara» nennen, wird unter demselben Namen im ganzen Südpazifik angebaut. Das sind nur einige der Indizien, die sich für Thor Heyerdahl zur Gewissheit verdichten.
1941 veröffentlicht er seine gewagte These, der zufolge die eigentlichen Entdecker und Besiedler Polynesiens aus Lateinamerika stammten. Die Flotte des Konquistadoren und Vernichters der Inkakultur Francisco Pizarro hatte im 16. Jahrhundert vor der Küste des heutigen Peru ein indianisches Floß aus Balsaholz aufgebracht. Es war, mit einem runden Dutzend Männern und Frauen und dreißig Tonnen Fracht an Bord, Richtung Panama gesegelt. In den Aufzeichnungen der Spanier findet Heyerdahl Skizzen und Beschreibungen solcher Fahrzeuge.
Im Dschungel von Ecuador lässt er zwölf Balsabäume schlagen, die er und seine Kameraden auf die Namen polynesischer Sagengestalten taufen. Auf Nägel und Stahlseile müssen sie verzichten. Allein mit dreihundert Hanftauen binden sie die Stämme zusammen.
Vor sechzig Jahren, am 28. April 1947, schleppt ein Dampfer die Kon-Tiki schließlich fünfzig Seemeilen auf den offenen Pazifik hinaus. Die Reise beginnt. An Bord sind, neben den Norwegern, ein leuchtend grüner Papagei, ein Funkgerät, 1100 Liter Trinkwasser und Vorräte für vier Monate. Darunter 684 Dosen Ananas aus Beständen des Pentagon. Schon bald merken die Floßfahrer, dass das besonders leichte Balsaholz Wasser zieht: Wenn sie Spreißel aus den Stämmen reißen und in die Wellen werfen, versinken die sofort. Und die Seile, die ihr Gefährt zusammen halten, scheuern im Seegang bedrohlich aneinander. Die sechs sind wagemutig, geradezu tollkühn – und sie machen ihre Sache fantastisch, keine Frage. Man darf aber wohl auch sagen: Sie haben unverschämtes Glück. Das Deck der Kon-Tiki ragte nur einen halben Meter aus dem Wasser. Und bei entsprechendem Wind kann der Pazifik leicht Wellen aufwerfen, die ein solches Gefährt mit einem Schlag umwerfen.
Nach 93 Tagen sichtet ein Mann im Ausguck zum ersten Mal Land: Pukapuka, das nordwestlichste Atoll des Tuamotu-Archipels. Doch mit ihrem plumpen, kaum steuerbaren Gefährt treiben die Abenteurer an zweien der Atolle vorbei, nur wenige Meilen von der Küste entfernt – doch ohne Chance, sie zu erreichen. An Bord wächst die Angst. Nach acht Tagen «böser und gnadenloser Jagd nach Westen» driften sie endlich auf die Korallenriffe des Raroia-Atolls zu, die den dahinterliegenden Gürtel kleiner Bilderbuch-Eilande wie eine Festungsmauer umgeben. Die mächtige Brandung des Pazifiks bricht sich krachend über diesen Riffen und die Reisenden begreifen, dass die Odyssee auf der Kon-Tiki mit Schiffbruch enden wird. «Eine See wälzt sich unter uns in die Höhe», schreibt Thor Heyerdahl, «und wir fühlen, wie sich die Kon-Tiki in die Luft hebt. Jetzt reiten wir mit den Wellenrücken hinein in rasender Fahrt, sodass es knackt und schreit in dem schlottrigen Fahrzeug. Wir fühlen, wie es sich unter uns verschiebt und bewegt. Die Spannung lässt das Blut kochen.»
Fortsetzung folgt
Der Text ist entnommen aus:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,500331,00.html