Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №2/2008

Das liest man in Deutschland

Väter und Töchter

Pascal Mercier erfindet in seiner Novelle «Lea» einen neuen «Homo Faber»

Nach seinem Bestsellerroman Nacht­zug nach Lissabon (2004), der sich millionenfach verkaufte, ist Pascal Merciers neues Buch manchem Rezensenten vermutlich schon deshalb verdächtig, weil es eben aus der Feder eines Bestseller-Autors stammt – und so etwas findet man als gebildeter Leser nicht gut. Zumindest gehört es zum guten (Kritiker-)Ton, wenigstens die eine oder andere Stelle ausfindig zu machen, an der hinter dem scheinbar philosophisch-melancholischen Putz ein aus melodramatischen Steinchen zusammengesetztes Bruchsteinmauer­werk zum Vorschein kommt.
Man braucht dafür auch gar nicht lange zu suchen: Da ist zum Beispiel die etwas pathetisch geratene Figur der verkannten Geigenvirtuosin, die ihr Können an Bahnhofspassanten verschwendet und bei der Hauptfigur der Novelle, der gerade der Kindheit entwachsenen, mutterlosen Lea, eine Begeisterung für die Musik auslöst, an der alle Handlungsfäden der Geschichte ihren Ausgangspunkt nehmen.
Aber der Schweizer Autor Mercier, der im wirklichen Leben Peter Bieri heißt und Professor für Philosophie gewesen ist, bevor er kürzlich aus Unmut über die Zerstörung der alten Universität durch die Bachelor-Studiengänge freiwillig in den vorzeitigen Ruhestand gegangen ist, weiß nur zu gut, in welchen literarhistorischen Horizont er hineinschreibt, wie man literarische Motive einsetzt und Gattungstraditionen aufgreift. In Nachtzug nach Lissabon führte er mit dem plötzlich von einer Sinnkrise befallenen Griechisch-Lehrer Gregorius die Figur des Aussteigers wieder in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ein, die auf so berühmte Vorfahren wie etwa Grimmelshausens Simplicissimus zurückblicken kann. Mit dem Rückgriff auf das Motiv des verkannten oder wahnsinnigen, in jedem Fall aber außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Normen stehenden Künstlers knüpft Mercier einerseits an ein Generalthema romantischer Erzählungen und Romane an. Andererseits verdichtet sich die zufällige Begegnung Leas mit der Bahnhofsmusikerin zu jener «sich ereignenden, unerhörten Begebenheit», die seit Goethes Äußerung gegenüber Eckermann durch die Definitionsversuche der Gattung Novelle geistert, auch wenn man einwenden mag, dass eine Erzählung von über 200 Seiten eigentlich nicht mehr in das – zwar nur als Konstrukt existierende – Gattungsmuster passt.
In der Tat aber wird hier Unerhörtes berichtet. Aus einer Zufallsbegegnung zweier Männer in Südfrankreich entwickelt sich auf der gemeinsamen Heimfahrt der beiden nach Bern ein intimes und vertrautes Verhältnis, für das andere Jahre brauchen. Der Ich-Erzähler Adrian Herzog, der vor seinen Angstattacken und Selbstzweifeln ein Starchirurg war, schreibt die Lebensgeschichte seines Mitfahrers Martin van Vliet auf, die dieser ihm mit einer fast zwanghaften, rettungslosen Atemlosigkeit erzählt hat. Von den langen, größtenteils in wörtlicher Rede präsentierten Berichten van Vliets geht eine Sogwirkung aus, der man sich als Leser kaum widersetzen kann. Es ist die Geschichte einer durch Verfehlungen und Missverständnisse gekennzeichneten Vater-Tochter-Beziehung und von Menschen im Musikbetrieb, die immer nur das Beste wollen, es aber nicht bekommen. Vor allem aber ist es eine parabelhafte Erzählung über unausweichliche, anfangs nur minimale Richtungsänderungen eines Lebens, die eine bürgerliche Existenz ins Wanken bringen und an ihre Abgründe führen.
Kaum den eigenen Schmerz ertragend, sorgt sich van Vliet nach dem Tod seiner Frau Cécile um seine Tochter Lea, die sich mehr und mehr gegenüber der Außenwelt und ihrem Vater verschließt. Erst durch jene Begegnung mit der Musik Bachs in der Bahnhofspassage erwachen in Lea neue Gefühlsregungen und Lebensgeister, die der Vater überglücklich zu befördern sucht. Er kauft ihr eine Geige, stimmt sogar Leas Wahl der verschrobenen Geigenlehrerin Marie Pasteur zu und wird ihr väterlicher Begleiter auf Tourneen, die das Wunderkind bald in die internationalen Zentren des Klassik-Betriebes führen. Mit ihrem Erfolg und den Jahren steigert sich aber auch Leas Eigensinnigkeit zu einer unerbittlichen Egozentrik, hinter der sich letztlich eine zutiefst gestörte, fragile (Künstler-) Persönlichkeit verbirgt. Lea erlebt Zusammenbrüche und Zweifel, van Vliet die Hilflosigkeit, weder ihre Musiker-Karriere noch sich selbst davor retten zu können, nach dem Tod seiner Frau nun auch noch Lea zu verlieren. Früh erfährt der Leser, dass van Vliet in Südfrankreich seine Tochter in einer psychiatrischen Klinik besucht hat, in die sie nach ihrem letzten und folgenschweren Zusammenbruch eingeliefert wurde, und er seitdem mit dem Gefühl erwacht, «Zeuge eines beschädigten Lebens geworden zu sein».
Sein letzter Versuch, dem Leben seiner Tochter und seinem eigenen eine positive Wendung zu geben, ist gleichsam auch sein erster und nicht mehr rückgängig zu machender Schritt aus seiner bürgerlichen Existenz als angesehener Professor für Biokybernetik. Eine der teuersten Geigen der Welt, eine Guarneri, soll Leas künstlerischer und persönlicher Lähmung ein Ende setzen. Dafür unterschlägt van Vliet Forschungsgelder in Millionenhöhe und reist nach Cremona. Man ahnt ja, dass Leas Wiedergeburt aus dem Geiste von Bachs Musik, gespielt auf der Guaneri, nicht lange anhalten wird, dass die ganze Geschichte in einer Katastrophe enden und auch der Betrug van Vliets aufgedeckt werden wird. Dennoch liest man auch diesen Teil der Geschichte mit schier atemloser Neugierde, weil echte Spannung eben nichts mit dem Arrangement – und sei es in guter Krimitradition – von Unvorhersehbarem oder plötzlichen Wendungen zu tun hat. Spannungsreiches Erzählen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass man, selbst wenn man den Verlauf und das Ende absieht, Seite um Seite verschlingt.
Natürlich besticht Merciers Erzählen nicht nur durch dieses Moment. Er verbindet poetische Evokationen mit kühlen Reflexionen, psychologische Raffinesse mit einer eindringlichen, bildhaften Sprache, die zusammen die Grundlage für eine genaue Beschreibung der Wirkung und Entwicklung von Eindrücken, Ereignissen und Begegnungen bilden, die in der deutschsprachigen Gegenwarts­literatur ihresgleichen sucht.
Wie Walter Faber in Max Frischs Homo Faber ist auch van Vliet Rationalist, Anti-Romantiker und Techniker («Ich glaube an Zellen, Mechanismen, Chemie, nicht an feinsinnige Märchen, die mit wissendem Ausdruck vorgetragen werden»), der erst durch seine völlig dem Mysterium der Musik erlegene Tochter die Steine seines massiven, rationalen Weltanschauungsturmes nacheinander abtragen muss, weil ihm Unerhörtes widerfährt, das sich jeder Berechnung und Kalkulation entzieht. Die mitunter sakrale und die eigene Tochter überhöhende Sprache hat in der Kritik schon zu etlichen abschätzigen Bemerkungen geführt, denen man entgegenhalten muss, dass es sich um die Figurenrede eines Technokraten wie Walter Faber handelt, der sich aus seiner Muttersprache von Formeln und Gleichungen in den Sprachkosmos einer ihm doch fremden Kunstwelt einfinden muss. Schließlich wird die Geschichte – wenn auch in der Wiedergabe des Ich-Erzählers Adrian Herzog – aus der Perspektive von van Vliet erzählt. Außerdem muss man ja nicht unbedingt die Qualität eines guten und geistreichen Unterhaltungsromans dadurch künstlich schmälern, indem man eine so hohe Messlatte von Erwartungen anlegt, die gerade Thomas Manns Künstlernovelle Tonio Kröger noch erfüllen könnte.
Am Ende der langen Fahrt von Saintes-Maries-de-la-Mer nach Bern und nachdem Adrian Herzog van Vliet so lange zugehört hat, muss Letzterer aber doch feststellen, dass seine Geschichte zwar gehört, seine Sehnsucht nach einem Neuanfang und Versöhnung mit der Vergangenheit aber un-
erhört bleiben muss.

Von Bernhard Walcher

Pascal Mercier: Lea. Novelle.Carl Hanser Verlag, München 2007.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10914&ausgabe=200707