Wissenschaft und Technik
Held der Meere und der Medien
Die Brandung schleudert Kon-Tiki auf die felsenharten Korallen. Brecher zerschlagen das Balsafloß. Die Trümmer werden von der Kraft der Wogen nach einigen Tagen in die stille Lagune jenseits des Riffs gespült. Das Floß, das heute im Osloer Kon-Tiki-Museum wie aus dem Ei gepellt zu bewundern ist, ist eine Rekonstruktion dessen, was der Pazifik übrig ließ. Doch für Thor Heyerdahl gilt die Reise als voller Erfolg: «Ich werde niemals die Waterei vom Riff zu der paradiesischen Palmeninsel vergessen, die uns entgegenwuchs. Als ich den sonnenheißen Sandstrand erreichte, riss ich die Schuhe ab und bohrte die nassen Zehen in den warmen, trockenen Sand. Die Reise war vorüber, wir alle waren am Leben.»
Für den nonchalanten Norweger steht damit fest, dass seine These bewiesen ist. Doch ein amerikanischer Archäologe kommentiert trocken: «Das Einzige, was Heyerdahl belegt hat, ist, dass Norweger gute Seefahrer sind!» Und der Brite Sir Peter Buck, damals der führende Polynesien-Experte, meint nur: «Ein nettes Abenteuer. Aber die Männer können niemanden davon überzeugen, dass es sich hier um eine wissenschaftliche Expedition handelte.»
Tatsächlich gilt Heyerdahls These in der Völkerkunde heute, sechzig Jahre nach der Fahrt der Kon-Tiki, als Irrtum: «Die Indianer Südamerikas waren keine großen Seefahrer», erzählt Nikolai Grube. «Trotz der spektakulären Fahrt von Kon-Tiki wissen wir, dass sich die Indianer Perus und auch Mittelamerikas kaum auf die hohe See trauten. Seefahrt war für sie ein Mittel um Handel zu treiben. Man segelte oder ruderte nur entlang der Küsten.»
Es könne zwar durchaus sein, räumt er ein, dass mitunter Flöße durch den Humboldtstrom oder die Passatwinde über weite Strecken abgetrieben worden sind. «Aber man muss sich einmal vorstellen, was mit diesen Menschen, die auf so einem Floß irgendwo an Land gespült worden waren, passiert ist. Die waren so ausgehungert und verdurstet, dass sie sicherlich nicht als Kulturbringer und Missionare gewirkt haben.»
Dennoch wird das friedliche, völkerverbindende Abenteuer der sechs Norweger in den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem beispiellosen Publikumserfolg. US-Präsident Harry Truman lädt die Expeditionsteilnehmer ins Weiße Haus ein. Heyerdahls packend und humorvoll geschriebenes Buch Kon-Tiki – Ein Floß treibt über den Pazifik wird zig-millionenfach verkauft und in 64 Sprachen übersetzt, darunter Esperanto, Telugu, Urdu und Mongolisch. Der Film, den er selbst – nach einer Einweisung von zwanzig Minuten in einem Fotogeschäft – mit wackliger Handkamera an Bord gedreht hat, wird in der Sparte Dokumentarfilm mit zwei Oscars ausgezeichnet.
Doch zu diesem Zeitpunkt ist Thor Heyerdahl bereits drei Ecken weiter in seinem Denken: Er vermutet, dass auch die großen Indianergesellschaften Mittel- und Südamerikas die Segnungen ihrer Kulturen, wie die Polynesier, von anderen Völkern erhalten haben müssten. Und zwar von den Sumerern und Ägyptern, den frühen Hochkulturen der Alten Welt. Ähnlich wie die Menschen des Zweistromlands und des Niltals bauten die Azteken, Mayas und Inkas ja große Städte und mächtige Pyramiden, kannten Kalendersysteme und eine Schriftsprache. «Hier glaube ich, dass es in Mexiko und Peru etwas gab, was die Indianer anderer Regionen nicht hatten», erzählt Heyerdahl. «Und das, glaube ich, war ein transatlantischer Impuls!» Seefahrer aus dem östlichen Mittelmeer sind, da ist sich der Norweger sicher, Jahrtausende vor Christoph Kolumbus schon bis nach Mittelamerika gesegelt. Und Thor Heyerdahl will in ihrem Kielwasser fahren.
1969 lässt der geschickte Selbstvermarkter an den Pyramiden von Giseh ein 15 Meter langes Boot aus Papyrusbündeln zusammenbinden, nach Vorbildern auf antiken Wandmalereien. Dieses schwankende Gefährt steuern er und eine sechsköpfige Crew wenige Wochen später von der marokkanischen Küste Richtung Mittelamerika. Doch auf hoher See verliert die «Ra», das «Sonnenboot», wie ihr medienerfahrener Kapitän sie nennt, die Hälfte ihres Materials. Immer wieder zerbrechen die baumstarken Steuerruder wie Streichhölzer. Und nachdem ein Orkanausläufer über das Schiff hinweggezogen ist, kentert es schließlich mehrere hundert Seemeilen von der Karibikinsel Barbados entfernt.
Ein Jahr später gelingt Heyerdahl unter großen Mühen und Gefahren die Überfahrt mit Ra II. Und, wie bei Kon-Tiki, hält er seine These damit für bewiesen: Die Indianer wurden in vorgeschichtlicher Zeit von hellhäutigen Kulturbringern besucht, die den Weg zu ihnen über den Atlantik fanden. Für Nikolai Grube verbirgt sich hinter dieser Haltung des Norwegers Ethnozentrismus, wenn nicht sogar Rassismus. Heyerdahl unterstellte den indigenen Völkern Amerikas, meint der Altamerikanist und Ethnologe, dass sie nicht in der Lage gewesen seien, eigenständig eine Schriftsprache, Kalendersysteme und Städte hervorzubringen. «Es gibt dort eine mehrtausendjährige Besiedlungsgeschichte», erklärt der Bonner Professor, der in Mesoamerika Ausgrabungen selbst leitet. «Wir können die ersten dauerhaften Siedlungen in Mexiko aufzeigen, können zeigen, wie sie wachsen und wie aus ihnen Städte entstehen. Wie diese immer komplexer werden, sich soziale Differenzierungen entwickeln.» Grube lässt keinen Zweifel daran, dass es harmonische und logische interne Entwicklungen mittel- und südamerikanischer Kulturen gab, die völlig ohne äußeren Einfluss ihren Lauf genommen haben.
Tatsächlich spricht aus Heyerdahls Büchern wenig Respekt für außereuropäische Völker. Die Polynesier nennt er in seinem Kon-Tiki-Buch oft nur «die Braunen», Afrikaner sind für ihn noch in den 1980er Jahren «Neger» und sein norwegischer Biograf Snorre Evensberget unterstellt zumindest dem jungen Thor Sympathien für den Nationalsozialismus.
1977, dreißig Jahre nach der Fahrt der Kon-Tiki, sticht Thor Heyerdahl zum letzten Mal in See. Im Irak lässt er das Schilfboot «Tigris» bauen. Mit einer fünfmonatigen Fahrt durch den Persischen Golf und das Arabische Meer will er zeigen, dass die Sumerer über den Seeweg mit den Hochkulturen des Tals des Indus im heutigen Pakistan in Verbindung standen. Doch Archäologen und Völkerkundlern ist dieser wirtschaftliche und kulturelle Austausch damals längst bekannt. «Man hat Siegel aus der Induskultur im arabischen Bereich gefunden bis hinein in das Zweistromland», erzählt Nikolai Grube. «Und umgekehrt auch Rollsiegel und andere Waren aus dem Euphrat-Tigris-Gebiet bis hin sogar nach Kambodscha. Natürlich hat es einen weiten, überregionalen Handel gegeben.»
In seinen späteren Jahren entwickelt sich Thor Heyerdahl immer mehr zum Umweltaktivisten und politischen Idealisten. Schon Ra und Ra II hatte er unter der Flagge der Vereinten Nationen segeln lassen. In der Hochzeit des Kalten Kriegs heuert er für die Besatzung der Tigris einen sowjetischen Raumfahrtarzt und einen US-amerikanischen Navigator an. Und er hält das für einen der interessantesten Aspekte seiner Expeditionen: «Ich habe Leute verschiedener Länder, politischer Ideen und Hautfarben zusammengebracht, um zu beweisen, dass es nur eine menschliche Familie gibt.» Auf der Ra II zum Beispiel segelten acht Männer aus acht Nationen – die Crew der Tigris war ähnlich bunt. «Und wir hatten ganz verschiedene Ideen», erzählt Thor Heyerdahl, «wir waren Protestanten und Katholiken und Hindus und Buddhisten und Moslems und Atheisten – wir haben alles diskutiert.»
Ist das persönliches politisches Engagement des Norwegers? Oder ist es der Versuch, das langsam schwindende Interesse der Medien noch einmal auf sich zu ziehen? Jedenfalls droht die völkerverbindende Fahrt der Tigris an der rauen Realität des Mittleren Ostens zu scheitern. Weder im Nord- noch im Südjemen, die sich gerade bekriegen, darf die Tigris landen, weder in Somalia noch in Äthiopien, wo die Supermächte einen Stellvertreterkrieg gegeneinander führen.
Erst im französisch kontrollierten, neutralen Dschibuti am Horn von Afrika findet das Schilfboot endlich einen Hafen. Und dort verbrennt Thor Heyerdahl schließlich sein letztes Expeditionsschiff, «als Fackel des Protestes gegen den Wahnsinn des modernen Kriegs», wie Berndt Schulz, ein geradezu peinlich unkritischer deutscher Biograf, schreibt. Politisch bleibt das lodernde Schilfboot ein Strohfeuer, das die Krieg führenden Parteien nicht im Geringsten beeindruckt. Aber für Heyerdahl selbst markieren die glühenden Reste der Tigris den endgültigen Abschied von seinen wagemutigen Fahrten – er ist mittlerweile 64 Jahre alt.
Sechs Jahre später besucht ein Reporter den gealterten Helden der Meere und der Medien auf seinem Landsitz an der ligurischen Küste. Heyerdahl antwortet ihm freundlich, aber leidenschaftslos, er muss seine einst haarsträubenden Geschichten über Forschung und Abenteuer schon damals bis zum Überdruss erzählt haben. Eindringlich wird er erst bei der Schlussfrage, als der Reporter wissen will, welche Gefahren er für die Zukunft der Menschheit sieht.
«Wir haben vergessen, dass der Mensch ein Kind der Natur ist», erzählt ihm der Norweger hörbar bewegt. «Unsere Zivilisation ist ein Experiment. Wir zerstören Natur, bevor wir sie ausreichend studiert und verstanden haben. Wir führen Kriege und verbrennen unsere Ölreserven, verschmutzen unsere Ozeane. Wir müssen zusammenarbeiten, um unsere zerbrechliche Zivilisation zu erhalten und zu verbessern.»
Gedanken, die ihre Bedeutung über den Tod Heyerdahls hinaus behalten haben – im Gegensatz zu seinen völkerkundlichen Thesen. Am 18. April 2002 stirbt der «Archäonautiker» Thor Heyerdahl, der «Forscher mit Wikingerblut», an einem Gehirntumor.
Die Tageszeitung «Welt» feiert ihn in einem Nachruf als «Urvater der Living History» – der am eigenen Leib nacherlebten Geschichte: «Ganz gleich, wie stimmig Heyerdahls Thesen waren, er infizierte mit unheilbarer Neugier auf das Altertum, weit mehr noch als der ebenso umstrittene große Populärarchäologe C. W. Ce-
ram mit seinen Göttern, Gräbern und Gelehrten. Heyerdahl blätterte die aufregendste Seite der Geschichte auf. Das frühe Reisen, das Entdecken, die Suche nach neuen Welten, die Ferne schlechthin.»
Von Udo Zindel
Der Text ist entnommen aus:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,500331,00.html