Sonderthema
Gedichte
Ursprinc bluomen, loup ûz dringen
Ursprinc bluomen, loup ûz dringen
und der luft des meigen urbort vogel ir alten dôn:
etswenn ich kan niuwez singen,
sô der rîfe ligt, guot wîp, noch allez ân dîn lôn.
die waltsinger und ir sanc
nâch halben sumers teile in niemens ôre enklanc.
Der bliclîchen bluomen glesten
sol des touwes anehanc erliutern, swâ si sint:
vogel die hellen und die besten,
al des meigen zît si wegent mit gesange ir kint.
dô slief niht diu nahtegal:
nu wache abr ich und singe ûf berge und in dem tal.
Mîn sanc wil genâde suochen
an dich, güetlich wîp: nu hilf, sît helfe ist worden nôt.
dîn lôn dienstes sol geruochen,
daz ich iemer biute und biute unz an mînen tôt.
lâz mich von dir nemen den trôst
daz ich ûz mînen langen clagen werde erlôst.
Werdez wîp, dîn süeze güete
und dîn minneclîcher zorn hât mir vil fröide erwert.
maht du troesten mîn gemüete?
wan ein helfelîchez wort von dir mich sanfte ernert.
mache wendic mir mîn klagen,
sô daz ich werde grôz gemuot bî mînen tagen.
Übertragung ins Neuhochdeutsche
Das Sprießen der Blumen, das Hervordrängen des Laubes und die Maienluft verwenden die alten Vogelmelodien. Ich kann bisweilen Neues singen, während noch der Reif liegt, edle Frau, wenn auch alles ohne deinen Lohn. Von den Waldsängern und ihrem Gesang hörte nach des Sommers Mitte keines Menschen Ohr mehr etwas.
Der leuchtenden Blumen Glänzen, wo immer sie stehen, werden die Tautropfen verklären. Die lieben Vögel mit ihren hellen Stimmen, sie wiegen den ganzen Mai hindurch mit Gesang ihre Kinder. Damals schlief die Nachtigall nicht. Jetzt bin ich wieder munter und singe auf dem Berge und im Tal.
Mein Lied verlangt Erhörung von dir, herrliche Frau: jetzt hilf, da Hilfe nötig geworden ist. Dein Lohn soll dem Dienst entsprechen, den ich dir immer darbringe und darbringe bis an meinen Tod. Lass mich von dir den Trost empfangen, damit ich von meinen langen Klagen erlöst werde.
Edele Frau, deine süße Güte und dein lieblicher Zorn hat mir viel Freude verwehrt. Willst du mein Gemüt erheitern? Denn ein helfendes Wort von dir macht mich ohne Mühe gesund. Wende meinen Trübsinn, so dass ich hochgemut werde für mein ganzes Leben.
Kommentar
1. Mittelhochdeutsche Diphthonge werden im Frühneuhochdeutschen monophthongiert, z. B.:
bluomen Blumen, guot gut, suochen suchen, slief schlief, güete Güte.
2. Aus langen Vokalen werden Diphthonge:
ûz aus, rîfe Reif, wîp Weib.
niuwes Neues, erliuten erleuchten, erklären
3. Alte Diphthonge werden erweitert:
loup Laub, tou/touwe Tau, Tautropfen.
Aufgaben
1. Können Sie weitere Beispiele für die oben erwähnten Erscheinungen im Text finden?
2. Welche Zusammensetzungen gibt es im Gedicht?
3. Finden Sie Verben mit trennbaren Präfixen. Wie werden sie geschrieben?
Der Text ist entnommen aus:
http://www.pohlw.de/literatur/sadl/ma/wolf-min.htm