Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №3/2008

Das liest man in Deutschland

Die Verzauberung der Welt

Rüdiger Safranski macht uns glanzvoll mit der Romantik und dem Romantischen vertraut.

Als Johann Gottlieb Fichte 1791 die Kritik der reinen Vernunft liest, ist er so begeistert, dass er sich nach Königsberg aufmacht, um den berühmten Immanuel Kant zu besuchen. Er findet aber nur einen alten, desinteressierten Mann, der ihn wieder nach Hause schickt. Dort schreibt Fichte in genau fünf Wochen den Versuch einer Kritik aller Offenbarung, sendet ihn an Kant, der ist begeistert und besorgt ihm einen Verleger. Aus Angst vor der Zensur erscheint das Buch anonym. Der Kritiker der «Allgemeinen Literatur-Zeitung» in Jena schreibt, jeder, der auch nur ein bisschen Kant kenne, werde erraten, dass dieses neue Werk nur von ihm sein könne. Kant erklärt in einem Leserbrief, nicht er sei der Autor, sondern ein gewisser Fichte. Der wurde so über Nacht berühmt.

Rüdiger Safranskis grandioses Buch über die Romantik erschöpft sich keineswegs in solchen Erzählungen, aber es verbindet philosophische Analyse mit anekdotischer Anschauung derart gekonnt, es wechselt derart geschmeidig von der tiefgründigen Reflexion in die biografische Pointe, dass wir etwas Seltenes vor uns haben: spannend erzählte deutsche Geistesgeschichte. Romantik. Eine deutsche Affäre lautet der Titel. Damit ist beides gemeint: einerseits die Epoche, die erstaunlich kurz rund dreißig Jahre währte; andererseits das Fortwirken des romantischen Gedankens und seine nicht selten gefährliche Mutation ins Politische hinein. 1798 hatte Novalis geschrieben: «Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.» Diese Präambel der romantischen Verfassung ist in den späteren Dunkelmänner- und Dumpfmeister-Ideologien unheilvoll radikalisiert worden. Goebbels hat den Begriff der «stählernen Romantik» geprägt. Und bei Ernst Jünger sieht Safranski «die bellizistische Version des Dionysischen», das bei Nietzsche (auch er ein romantischer Renegat) die entscheidende Rolle spielte.

War die Romantik Ursache der deutschen Katastrophe? Safranski findet zwei namhafte Zeugen, die das glauben: Isaiah Berlin und Eric Voegelin. «Berlins These lautet so: Die Romantik hat durch ihren Subjektivismus der ästhetischen Einbildungskraft, der ironischen Spielfreude, des enthemmten Tiefsinns mitgewirkt, die tradierte moralische Ordnung zu untergraben. Ähnlich argumentiert Voegelin, nur dass er diese unterminierte Ordnung als eine ‹theomorphe› identifiziert und die Kritik am Subjektivismus um den Vorwurf erweitert, dass die Romantik eine Selbstvergöttlichung des Subjekts betrieben habe. Ein Vorwurf, den bereits Heinrich Heine erhoben hatte, als er die Romantiker gottlose ‹Selbstgötter› nannte.»

Aber wenn es je einen Zauber, je eine Unschuld des Anfangs gegeben hat, dann in der Romantik. Sie waren ja alle so jung wie nie! Fichte war 29, als er seinen Versuch einer Kritik aller Offenbarung aufs Papier warf; Friedrich Schlegel 23, als er seinen weithin beachteten Essay Über das Studium der griechischen Poesie veröffentlichte; Schleiermacher 31, als er seine Reden über die Religion verfasste; Novalis 26, als er seine Hymnen an die Nacht dichtete; Ludwig Tieck 22, als er sich in seinen dreibändigen Roman William Lovell hineinbegab.

All dies ereignete sich in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts, und Safranski gelingt es, diese genialische Explosion und ihren fortwährend sich neu erzeugenden Enthusiasmus anschaulich zu machen. Er selber scheint von ihm entzündet. Er versäumt aber nicht, die sozialen, politischen Umstände zu skizzieren. Zwischen 1750 und 1800, sagt er, verdoppelt sich die Zahl derer, die lesen können. Man liest nicht mehr ein Buch viele Male, sondern viele Bücher einmal. Zwischen 1790 und 1800 erscheinen zweieinhalbtausend Romantitel, so viele wie in den neunzig Jahren zuvor. Und dann natürlich die Französische Revolution, die Napoleon-Begeisterung, schließlich der Napoleon-Hass, der zum Patriotismus führte, die Politisierung der Romantik einleitete und der Anfang vom Verlust der Unschuld war.

Was also war die Romantik? Unter anderem, so Safranski, eine «Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln». Man kann auch sagen: eine Überbietung der Religion durch die Entfesselung der Einbildungskraft, die auf spielerische Weise die Welt neu erfindet. Eine, politisch gesehen, lediglich geistige Welt. Also kann man sagen: Die Romantik war Handlungsersatz. Deshalb konnte sie in dieser Form nur in Deutschland, in beengten, politisch fruchtlosen Verhältnissen entstehen. Safranski: «Wenn es an einer äußeren großen Welt mangelt, so erzeugt man sie sich selber aus Bordmitteln.» Die Bordmittel findet das Ich in sich selber. Safranski zeigt aber auch, dass die Romantiker so naiv nicht waren, dass sie die Gefahren, die Abgründe, die dort lauerten, nicht bemerkt hätten. Einige wie E.T.A. Hoffmann haben sie sogar gesucht. Schon Tiecks William Lovell (1795), «der sich selbst unablässig beobachtet und reflektiert, entdeckt am Ende, wie hohl und leer er doch ist». Und Jean Paul wird später bemerken: «Ach, wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein?» Der Würgengel hat dann in den selbstzerstörerischen Exzessen des 20. Jahrhunderts sein Werk vollendet.

Aber die Romantik war nicht nur die Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln, sondern bei einigen Dichtern auch die Absicherung des Ästhetischen durch die Religion. «Der Krieg im Inneren und im Äußeren wird nie aufhören», so schrieb Novalis, «wenn man nicht den Palmzweig ergreift, den allein eine geistliche Macht darreichen kann.» Damit war der katholische Glaube gemeint. Über Eichendorff, den größten Dichter der Romantik, sagt Safranski: «Mit seinem Gott ist er seit der Kindheit bekannt geblieben, es ist der Gott seiner heimatlichen Wälder, kein Gott der Spekulation und Philosophie. Es ist ein Gott, den man nicht zu erfinden braucht, man kann ihn wiederfinden, wenn man den Träumen seiner Kindheit die Treue hält. Unter dem Schutz dieses Gottes kann man fromm sein und frech, ... zugleich entfesselt und gebunden.» So ist seine Lyrik. Wenn Novalis die Theorie der Romantik verfasst hat, dann hat Eichendorff sie realisiert. Sein Gedicht Wünschelrute bildet seit eh und je die Beschwörungsformel der romantischen Sehnsucht.

Schön, mit welcher Genauigkeit und Hingabe Safranski sich den Dichtern nähert. Hölderlin und Heine treten uns deutlich vor Augen. Zu Kleist findet er das scharfsinnige Urteil, sein Hass sei wie die Liebe, «eine Ekstase der Hingabe». Was die romantische Ironie bedeutet, wie unterschiedlich sie von Schlegel, Eichendorff oder Heine verstanden wird, das erzählt uns Safranski. Und wann zuletzt hat es jemanden gegeben, der einem Fichtes Ich-Philosophie so zu erklären vermochte, dass man sie (annähernd) verstehen kann? Safranski ist kein waghalsiger Entdecker, der Neuland beträte, sondern ein Synthetiker, der es infolge seiner Sagazität (wie E.T.A. Hoffmann gesagt hätte), seiner Belesenheit und seiner Sprachkraft versteht, die Schatzkammer der Geistesgeschichte gangbar zu machen. Und damit wir nicht allzu ehrfürchtig werden, gestattet er sich zuweilen kleine Saloppheiten und nennt etwa Novalis den «Mozart der Romantiker» oder Thomas Mann einen «Dionysiker mit Bügelfalte und Stehkragen».

Rund vierhundert Seiten sind für eine Geschichte der Romantik und des Romantischen nicht viel. Das ist auch die Folge zweier bedeutender Schnitte, die Safranski gemacht hat. Der eine: Malerei kommt gar nicht vor, Musik nur in der Gestalt Richard Wagners. Der zweite: Safranski beschränkt sich ganz auf die deutsche Szene. Die Romantiker aber fühlten sich als Weltbürger, sie übersetzten zum Beispiel Shakespeare. Und Ossian, der sogenannte Homer des Nordens (in Wahrheit ein Schwindler namens James Macpherson), hat die deutsche Debatte über das Erhabene erst in Gang gebracht. Hier wären Seitenblicke vor allem auf die englische Romantik nützlich gewesen.

Warum aber ist die Romantik kein abgeschlossenes Kapitel? Safranski schreibt an einer Stelle: «Mit ihrem Unbehagen an der Normalität nehmen die Romantiker jenes Unbehagen an der ‹Entzauberung der Welt durch die Rationalisierung› vorweg, das Max Weber ein Jahrhundert später kritisch zur Sprache bringen wird.» Der Siegeszug des technisch-industriellen Denkens und seines geheimnislosen Materialismus war unaufhaltsam. Die Deutschen sind Max Webers klugem Rat, sie sollten mit der Entzauberung leben lernen, nicht gefolgt. Teils konnten, teils wollten sie nicht, und das gilt bis heute. Denn die Moderne, die sich aufs Rationale beruft und bestenfalls im Rationellen endet, hat ihr Tempo immer mehr gesteigert. So kehrt also das Romantische als Sehnsuchtsort immer von Neuem zurück – leider allzu oft in finsterer Form. Umso wichtiger ist es, sich des hellen, strahlenden Beginns zu erinnern, dieser schönen Jünglinge und ihrer intelligenten Frauen. Was sie waren und schrieben, bildet den unbestreitbaren Höhepunkt der deutschen Geistesgeschichte.

Von Ulrich Greiner

Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affaire. Hanser Verlag, 2007.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.zeit.de/2007/37/ST-Safranski?page=all