Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №3/2008

Literatur

Adolf Muschg: Ein Glockenspiel

Fortsetzung aus Nr. 01, 02/2008

Es mochte Mitternacht sein, als er sich den Brief abermals vornahm, dessen Inhalt ihn verwirrte, dessen Bildung ihn entzückte. Je öfter er ihn überflog, je gewissenhafter er ihn las, desto heftiger wurden die Fragen, für deren Beantwortung er seine Menschenkenntnis bemühte. In welchen Umständen mochte die Schreiberin leben? In zauberhaften, hätte man fast denken können; kein Mensch (außer schattenhaften Nachbarn) tauchte in diesen bläulich getönten Papieren auf, die Lebensart und Wohlstand, vor allem aber Stilkunst, also Lektüre verrieten. Und in Kaplan Breitkopfs nächtlicher Seele stieg das Wunschbild eines schloßartigen, mitten im Walde gelegenen Gebäudes auf, in dem eine üppige Herrin wohnte, die das Haus nur verließ, um Blumen zu pflücken, und von Tauben oder Raben ernährt wurde. Wenn sie von weither zur Messe läuten hörte, unterbrach sie die Lektüre eines Romans, der in blaues Saffianleder gebunden war, kniete sich auf den Boden und raffte ihr durchbrochenes Tag- und Nachtkleid, blickte über ihre Schulter zurück und ließ die Zunge spielen. Er hörte seufzen, er sah sie, überwältigt und doch unerschüttert, ihre Lektüre auf dem blauen Teppich fortsetzen; den Teufel, der sie ritt, vermochte er beim besten Willen nicht zu sehen. – Er hockte im geflickten Schlafrock vor seinem leeren Kamin, unerwartet stiegen ihm Tränen auf, und er empfand seine Verlassenheit; einen Augenblick war ihm die geträumte Person ähnlicher vorgekommen als er sich selbst.

Nachdem er sich getröstet hatte und kühleren Sinnes geworden war, begleitete ihn der Gedanke zu Bett, daß die Frechheit des Briefes eine ungeheure Störung der Seele verberge; dann aber hatte seine Prüfung ihren guten Sinn, und die Schreiberin war, vielleicht absichtlich, an den rechten Mann gekommen. Denn er hatte bei seinem Buchhändler vor Zeiten eine Schrift zur menschlichen Behandlung der Geisteskranken drucken lassen, die weiter ging, kühner war als andere Zeugnisse des Jahrhunderts; nun war sie also doch nicht unbemerkt geblieben. Er hatte drucken lassen: was die Verwirrten am meisten bedurften, sei unbefangene Geselligkeit, sei die Phantasie der Mitgeborenen, die in der Krankheit eine Prüfung ihrer Gesundheit zu sehen imstande sein sollten; der gestörte Sinn, weit entfernt, unbegreiflich zu sein, sei etwas Ehrwürdiges, denn er zeige die Störung des Ganzen an. – Ganz offenbar wußte sich diese Seele, weil ihr die konventionellen Äußerungsmittel verschlossen waren oder nicht genügten, nur noch mit phantastischen zu helfen und schützte ihre Empfindlichkeit hinter einer im Wortsinn höllischen Verkleidung.

Die Nacht verging ohne Ruhe, kaum fand er sie mit dem ersten Vogelschrei und schlief in den Tag hinein. Die Besorgerin, die ihn für einen Krankengang hätte wecken müssen, war nicht zur Stelle und hatte auch versäumt, ihm ein Frückstück zu bereiten. Er setzte sich an seinen Tisch und konzipierte eine Antwort, in der eine nüchterne Analyse die wahre Teilnehmung nicht verbergen sollte und, je länger er schrieb, immer weniger verbarg. Gegen Mittag warf er die Feder hin, fand einen Rest Kohl im Küchenschrank sowie etwas Mürbegebackenes und kochte sich einen Kaffee. Dann brachte er den Nachmittag mit wiederholter Reinschrift zu, da die erste einen Fettfleck zeigte, die zweite von unerklärlichen Fehlern entstellt war. Er hörte die Köchin nicht wiederkommen und vergaß sie zu tadeln; für ihre Bemerkung, die junge R. sei verstorben, hatte er nur ein tiefsinniges Nicken übrig. Dann doch, durch den Lärm des Weibes genötigt, sich anzukleiden und den Versehgang zu tun, solange die abgeschiedene Seele die Wohltat der Ölung noch empfinden konnte, machte er sich auf den Weg und mußte die Verkommenheit der Menschen ganz erfahren. Der Ministrant nämlich, ein Böttcherjunge, weigerte sich zuerst, offensichtlich betrunken, ihn zu begleiten; danach zog er mit einer Kuhglocke vor ihm her, als wolle er das Dorf zusammenläuten, und die Pfarrkinder dachten nicht daran, vor dem Rauchfaß ins Knie zu gehen. Als er das abgelegene Sterbehaus in Schweiß und Schrecken erreicht und seine Begleitung weggewiesen hatte, wurde ihm zuerst nicht aufgetan, und dann mit so finsteren Mienen, daß er sich der heiligen Handlung nur kursorisch und ohne jeden Beistand von Vater und Geschwistern entledigte. Lange nachdem er auf Hinterwegen ins Pfarrhaus zurückgekehrt war, ging ihm das Bild der Toten, an der, trotz ihrer Kindheit, jede Spur von Jugend vertilgt war und die, seit dem ebenfalls vorzeitigen Absterben der Hausmutter, der armseligen Wirtschaft hatte vorstehen müssen, in die Seele nach. Um den Tag nicht verloren zu haben, wandte er sich wieder dem unseligen Brief zu und gab seiner Antwort eine neue und schroffe Fassung. Er habe das Schreiben der Absenderin empfangen und bemühe sich um Verständnis; für das Teuflische daran fühle er sich nicht zuständig. Offenbar sei die Schreiberin von einem Gewissenlosen betrogen worden, was ihn bei vorwaltender Verrohung der Menschen nicht erstaune.

Fortsetzung folgt

üp|pig <Adj.> [mhd. üppic, ahd. uppig = überflüssig, unnütz, nichtig; übermütig, H. u., viell. verw. mit über u. eigtl. = über das Maß hinausgehend]: 1. a) reichhaltig, in verschwenderischer Fülle [vorhanden]: -e Vegetation; ein -es Büfett; ü. blühende Wiesen; Ü in -en Farben; sie haben es nicht ü. (haben nicht viel Geld); b) rundliche, volle Formen zeigend: ein -er Busen. 2. (landsch.) übermütig, unbescheiden, allzu selbst­bewusst: er wird mir langsam zu ü.
ver|mö|gen <unr. V.; hat> (geh.): 1. <mit Inf. mit «zu»> die nötige Kraft aufbringen, die Fähigkeit haben, imstande sein, etw. zu tun: er vermag [es] nicht, mich zu überzeugen; nur wenige vermochten sich zu retten; wir werden alles tun, was wir [zu tun] vermögen. 2. zustande bringen, ausrichten, erreichen: sie vermag bei ihm alles, wenig, nichts; Vertrauen vermag viel.
be|dür|fen <unr.V.; hat> (geh.): nötig haben, [unbe­dingt] brauchen: des Trostes, der Schonung b.; nur eines Wortes b.; Kranke bedürfen besonderer Fürsorge; das bedarf keiner Erklärung (das versteht sich von selbst); <selten auch mit dem Akk.:> dazu bedarf es viel Geld.
un|be|fan|gen <Adj.>: 1. nicht befangen, sondern frei u. ungehemmt: ein -es Kind; u. erscheinen, wirken; u. lachen. 2. nicht in etw. befangen; unvoreingenommen: -e Leserinnen u. Leser; ein -er (Rechtsspr.; unparteiischer) Zeuge; einem Menschen u. gegenübertreten. be|fan|gen <Adj.>: nicht frei u. natürlich, sondern durch etw. in Verlegenheit, Verwirrung gebracht u. daher gehemmt: eine -e junge Frau; in Gesellschaft ist er immer sehr b.
mürb (bes. südd., österr.), mür|be <Adj.>: 1. sich leicht kauen lassend u. leicht in seine Teile zerfallend: mürbes Gebäck; das Fleisch m. klopfen. 2. durch Alter, Abnutzung die Festigkeit seiner Substanz verloren habend: mürbe Taue; ein mürbes (brüchiges, durchgescheuertes) Gewebe. 3. seine Spannkraft u. Widerstandskraft durch anhaltende negative Einwirkung verloren habend: völlig m. sein; den Gegner m. machen (zwingen, seinen Widerstand aufzugeben).

Aus: Adolf Muschg: Leib und Leben. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1982. S. 361–373.