Sonderthema
Episches Theater
Der junge Bertolt Brecht war vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs von der öffentlichen Heuchelei ebenso angewidert wie schockiert. In seinen frühen Gedichten und Stücken äußert sich das oft in einer Haltung, der jeglicher Glaube abhanden gekommen zu sein scheint. Das, was er an konventionellem Theater kennt, stößt ihn ab. Seine Sympathie für die radikale Linke nach dem Ersten Weltkrieg ist zunächst genauso instinktiv wie die Weltflucht seines Helden im ersten großen Theatererfolg Trommeln in der Nacht.
Eine entscheidende Wende erfahren Brechts politisches Bewusstsein und Kunst Ende der 20er Jahre durch die intensive Beschäftigung mit geschichtlichen Stoffen und Gesellschaftswissenschaft. Sein Schreiben und Inszenieren sieht er fortan als Beitrag dazu, «die Welt endlich bewohnbar» zu machen. Diese auf größtmögliche Aufklärung bedachte künstlerische Arbeit ist untrennbar mit dem Begriff «episches Theater» verbunden. Episches Theater? Kein Widerspruch, sondern nach Brechts Auffassung die geeignete Darstellungsform für Widersprüche.
Über Homer, mit dem nach klassischer Anschauung die europäische Geistesgeschichte beginnt, ist von Georg Wilhelm Friedrich Hegel zwischen den Zeilen und von Theodor W. Adorno ausdrücklich Folgendes geschrieben worden: Indem er den alten Griechen in seinen Epen ihre Götter gegeben habe, habe er sie ihnen gleichermaßen genommen. Die Schilderungen in der Ilias und in der Odyssee hätten das Verhalten der überlieferten Allerhöchsten demnach fassbar gemacht. Dadurch sei das spirituelle Zusammenleben Gottheit–Mensch zu einem ständigen Dialog mit Widersprüchen und auch Hader geworden. Der antike Mensch sei also bei geschickter Beobachtung göttlichen Verhaltens zumindest insofern zum Herrn seines Schicksals gereift, als er sich die Reaktionen der Unsterblichen habe ausrechnen können.
Besichtigung statt Einfühlung, Veränderung statt Schicksal
Bertolt Brechts episches Theater arbeitet ebenfalls nach diesem Prinzip. Nur ist darin der alte Aberglaube durch einen neuen ersetzt, den an die Unveränderbarkeit der menschlichen Geschichte von Ausbeutung, Nationalismus und Krieg. Aristoteles und Schiller wollten ein Theater, bei dem sich das Publikum in die Charaktere auf der Bühne «einfühlen» konnte. Die Figuren sollten im Erleben ihrer schicksalhaften Katastrophen idealerweise Reinigungsprozesse durchlaufen. Brecht stellt sich radikal gegen dieses Konzept.
Bei ihm sollen Zuschauer an der auf der Bühne erzählten Handlung ihre eigene Geschichte betrachten und begreifen. Die Handlung sollte also dem Publikum Impulse geben und nicht den Bühnenfiguren. Das nannte Brecht «Publikumsdramaturgie». Dass eine Figur dabei völlig ohne eigenen Lerneffekt oder gar eine Reinigung aus dem Stück geht (wie zum Beispiel die Mutter Courage), war dabei eine notwendige Verdeutlichung.
Die Geschichte kommt nicht wie bei Aristoteles als «Schicksal» daher (was in Anbetracht dessen, dass der große Universalgelehrte Mitglied der herrschenden Schicht einer Sklavenhaltergesellschaft war, seine Logik hat). Brecht zeichnet sie als zwar gewaltiges (und gewalttätiges), aber gestaltbares Verhältnis. Nicht die handelnde Person auf der Bühne soll lernen oder sich gar läutern. Stattdessen sollen Zuschauer nüchtern Parallelen zu ihrer eigenen Wirklichkeit folgern können und daraus auch praktisch-politische Handlungen ableiten.
Der Verfremdungseffekt
Die wesentliche Technik Brechts bei der Entwicklung des epischen Theaters ist die Verfremdung. Brecht zufolge besteht die Kunst darin, dem Zuschauer das Alltägliche erst einmal so fremd zu machen, dass er Lust darauf bekommt, es sich bewusst anzusehen. Dadurch erhält er die Möglichkeit, das nach Meinung des Autors Grundlegende des ansonsten nur beiläufig Erlebten zu erkennen.
Brecht erklärt in seinen Stücken anhand von Texttafeln, Liedern und auch Chören, was gleich passieren wird. Damit soll die rein gefühlsmäßige Sympathie mit dem Geschehen auf der Bühne abgebaut werden. Anstelle des Gefühls soll das Verständnis für die Veränderbarkeit der Geschichte treten, aus dem das Publikum praktische Konsequenzen ziehen soll.
Distanz zu frühen Stücken
Brechts Ablehnung der klassischen Dramenlehre beginnt im Ungewissen. Als Schüler, Student und freiberuflicher Theaterkritiker in Augsburg ist er zunächst angewidert, dass unbeeindruckt von der Tragödie des Ersten Weltkriegs am Stadttheater weiter die alte Rührseligkeit gepflegt wird. Brechts frühe Stücke brechen bereits aggressiv mit der öffentlichen Moral und mit dem klassischen Dramenkonzept. In ihnen drückt sich jedoch zuvorderst aus, wogegen der junge Autor ist, und nicht, wofür. Diese Dramen wie Baal, Trommeln in der Nacht oder Im Dickicht der Städte bewegen sich in einem geistigen Dreieck aus Anarchismus, Nihilismus und Expressionismus. Später sagt Brecht über diese Stücke, sie seien ihm fremd geworden.
Weg zur Wissenschaftlichkeit
Zu Beginn der 20er Jahre beginnt Brecht, dabei maßgeblich unterstützt von Elisabeth Hauptmann und Lion Feuchtwanger, sich mit historischen Stoffen zu beschäftigen. Gleichzeitig schärft sich sein politisches Bewusstsein. Er bekennt sich ausdrücklich zur radikalen Linken, beklagt an sich aber einen enormen Mangel an Wissen. Seine Stücke Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny oder Die Dreigroschenoper beinhalten in Liedern und Verfremdungen formal bereits alles, was auch seine großen späteren Dramen ausmacht. Der Kapitalismus und seine Folgen treten darin jedoch noch mehr als eklige Phänomene auf, weniger als erforschte und durchschaute geschichtliche Wirklichkeit mit ihrer eigenen Logik. Brechts Freude über den Erfolg der Stücke ist darum auch durchaus geteilt.
Für Brechts Arbeit bedeutet die Marx-Lektüre nach seiner eigenen Aussage jedoch ein völlig neues Fundament, das der Wissenschaftlichkeit. Zu Beginn der 30er Jahre schreibt Brecht, beeinflusst von diesem Studium, eine Reihe von Lehrstücken (Die Maßnahme, Badener Lehrstück vom Einverständnis, Der Jasager und Der Neinsager). Sie sind nicht für Publikum gedacht, sondern dazu, dass die Spielenden daraus lernen.
Exil: Produktion ohne Dialog
Die wesentlichen epischen Dramen Brechts entstehen im Exil. Für Brecht auch deshalb eine extrem schwierige Produktionszeit, da ihm der Dialog mit Schauspielern und Publikum fehlt. So wie Homer der Überlieferung nach blind war, fühlt sich Brecht ohne den Dialog und Austausch mit Freunden und Publikum blind. Zu Brechts Auffassung von Wissenschaftlichkeit gehörte die ständige Überprüfung des Geschriebenen im Probenraum und anhand der sozialen Realität. Kein Stück, das nicht nach der ersten Aufführung weiter verändert worden wäre. Zu Beginn der 40er Jahre schreibt Brecht Herr Puntila und sein Knecht Matti und Der gute Mensch von Sezuan. Außerdem arbeitet er an Leben des Galilei, Mutter Courage und ihre Kinder, später an Der kaukasische Kreidekreis.
Widersprüche ins Gesicht geschrieben
Zur teilweise wissenschaftlich-mechanisch anmutenden Dramaturgie der Lehrstücke und der Gorki-Bearbeitung Die Mutter (uraufgeführt 1932) kommt Poesie im Brecht’schen Sinn hinzu. Der grundsätzliche Widerspruch zwischen dem Geschäft und dem Menschen mit seinem Wunsch nach einer «bewohnbaren Welt» wird komplettiert: Die Hauptpersonen der Stücke tragen den Widerspruch ins Gesicht geschrieben und lösen ihn unzulänglich auf: Der «gute Mensch» Shen Te verwandelt sich in seinen bösen Onkel, um überleben zu können. Galilei versagt daran, die seltene historische Situation gegen die Mächtigen auszunutzen, in der man «über grundlegende Physik auf Jahrmärkten diskutierte» (Brecht). Mutter Courage opfert ihre Kinder der Reihe nach ihren Hoffnungen auf gute Geschäfte durch den Krieg. Der anarchische Richter Azdak beugt Recht, nur um für «eine kurze goldene Zeit» beinahe Gerechtigkeit austeilen zu können, aber auch, um an seinen Schnaps zu kommen.
Der Text ist entnommen aus:
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