Hauslektüre im Deutschunterricht
Didaktisierungsvorschlag zum Buch von Christine Nöstlinger «Das Austauschkind»
I. Schorichina ,
Moskau ;
N. Bunjajewa
Fortsetzung aus Nr. 06, 09, 10, 12, 13, 14, 15, 16, 18, 19, 20, 21, 22, 24/2007, 01, 02/2008
Lesetext
Kapitel 11
Mittwoch, 19. August
Florenz war sehr braun, in allen Schattierungen, und angeblich ist das sehr schön. Von Regenwetter war keine Spur. Der Papa und ich saßen in Restaurantvorgärten unter Sonnendächern und kratzten unseren Ausschlag. (Jeder den seinen.) Jasper war bei uns, weil auch er an Trenchcoats nicht interessiert war. Außerdem war er völlig verwirrt, weil er an allen Ecken und Kaffeehaustischen seine Muttersprache im Originalton vernahm. Dass es so viele Engländer gibt, sagte er, sei zu Hause bei ihm gar nicht zu bemerken.
Der Papa war nervös. Wegen des juckenden Ausschlags. Und noch mehr deswegen, weil Bille und die Mama mit der Scheckkarte unterwegs waren. (Bargeld hatten wir nicht mehr viel, wegen der Einkäufe in Bozen.) Wenn man mit Geldscheinen einkauft, erklärte uns der Papa, merkt man gleich, wenn die Geldtasche leer ist, und hört zu kaufen auf. Wenn man aber nur die Scheckkarte herzeigen und einen Zettel unterschreiben muss, neigt man dazu, sagte der Papa, über seine Verhältnisse zu kaufen.
Für diesen Tag zumindest stimmten Papas Befürchtungen nicht. Die Mama und Bille hatten nämlich zur Einkaufstour die neuen Schuhe, die sie in Bozen gekauft hatten, angezogen.
Schon gegen Mittag lagen sie stöhnend mit etlichen Blasen an Zehen und Fersen im Hotelbett. Zum Nachtmahl mussten sie im Auto gefahren werden. Und der Papa kam erst ins Lokal, als wir schon bei den Eisbechern waren. So lange hatte er einen Parkplatz suchen müssen. Wir aßen dann jeder noch zwei kleine Eis, weil wir nicht völlig nahrungslos dem Papa beim Essen zuschauen wollten.
Der Jasper fragte wieder, wie weit wir denn jetzt von Rom entfernt seien. Der Papa mutmaßte, dass die Entfernung ungefähr vier oder fünf Autostunden beträgt. «Only four?», fragte Jasper und bekam einen sehnsüchtigen Silberblick. «Möchtest du nach Rom, Jasper?», fragte die Mama und der Papa verschluckte sich vor Entsetzen an seinen Spaghetti.
Jasper nickte. Er zögerte kurz und zog dann einen zusammengefalteten Zettel aus der Hosentasche. Er faltete ihn auf und hielt ihn der Mama hin. Der Zettel war ein Brief. Aber kein neuer. Jasper musste ihn schon mit nach Wien gebracht haben. Seit er bei uns war, hatte er überhaupt keine Post bekommen. Der Brief war dreckig und speckig. Richtig abgegriffen und antiquarisch schaute er aus, doch dem Datum, rechts oben, war zu entnehmen, dass er vom 5th July stammte. Es war ein Brief von Mary an Jasper. In dem Brief stand, dass es der Mary gut geht und ihrem Mann auch. Dass sie vor ein paar Wochen in ein kleines Haus umgezogen sind und dass die Mary viel im Garten arbeitet. Und dass die Mary hofft, dass es dem Jasper gut geht und er keine «Dummheiten» mehr macht. Und ganz am Ende vom Brief stand noch, dass die Mary mit ihrem Mann im August nach Rom fliegen wird, um Ferien zu machen.
«Wir wohnen dann gleich bei der Fontana di Trevi», stand in dem Brief (auf Englisch natürlich). «Ich werde jeden Tag eine Münze für dich in den Brunnen werfen, dann gehen dir alle Wünsche in Erfüllung.» Wir lasen den Brief und wussten nicht, was wir sagen sollten. Jasper hatte uns ja nie von der Mary erzählt, wir hätten also eigentlich gar keine Ahnung von ihr haben können. Und dem Brief nach hätte Mary auch eine Tante oder eine erwachsene Kusine von Jasper sein können.
«Who is Mary?», fragte daher die Mama scheinheilig.
«My mother», sagte Jasper. Richtig böse schaute er uns dabei an. So hatte er schon lange nicht mehr geschaut.
«And what is Mrs. Pickpeer?», fragte der Papa so sanft wie der Tierwärter im Löwenkäfig.
Jasper zuckte mit den Schultern. «Mrs. Pickpeer», sagte er, «hat mir geboren. Aber ich liebe ihr nicht. Sie mir auch nicht. She only loves Tom!»
Wir nickten alle, als hörten wir da die normalsten Sätze der Welt.
«Na?», fragte meine Mutter und schaute meinen Vater an.
«Meinetwegen!», murmelte mein Vater. «Den Ausschlag hab ich sowieso schon, der kann in Rom auch nimmer ärger werden! Aber so ins Blitzblaue rein, das geht nicht!» Hotel, gleich am Trevi-Brunnen, sagte mein Vater, sei ihm zu wenig konkret für ein Fahrziel und August sei eine sehr vage Datumsbezeichnung. Wir fuhren mit einem Taxi ins Hotel, weil es dem Papa zu mühsam war, bis zum geparkten Auto zu laufen. Eine halbe Stunde, sagte er, müsse er da rennen, und wenn er dann zurück zum Hotel fahren will, verfahre er sich garantiert. Wir hätten ja auch zu Fuß ins Hotel gehen können. Weit war es nicht. Doch die Mama weigerte sich, barfuß zu gehen. «Wie schaut denn das aus?», rief sie empört. «Ich bin ja kein Kind mehr!» (Mit ihren insge- samt sechs dicken Fußblasen konnte man ihr aber den Weg in Schuhen nicht zumuten.)
Im Hotel ließ sich der Papa auf ein Gespräch mit dem Nachtportier ein. Aus einem dicken Buch suchten sie alle «besseren» römischen Hotels, von denen man sagen konnte, dass sie nahe am Trevi-Brunnen seien. (Nur die «besseren» suchten sie deshalb, weil sowohl die Mama als auch der Nachtportier meinten, dass Amerikaner nie unter drei Sternen absteigen.)
Dann rief der Nachtportier alle seine Kollegen rund um den Trevi-Brunnen an. Das dauerte lange, weil die italienischen Telefonleitungen anscheinend nicht die besten sind. Manchmal musste der Nachtportier ein Dutzend Mal wählen, bevor er eine Verbindung bekam und fragen konnte, ob Mr. und Mrs. Max Goldener vielleicht im Hotel des Kollegen abgestiegen seien. Während der langwierigen und mühseligen Telefonarbeit stand Jasper an der Theke des Hotels und biss sich alle Nägel kurz. Ich wartete mit Bille und der Mama in der Hotelbar. Wir tranken Tonic-Wasser, und die Mama hatte Falten auf der Stirn, bekümmerte, weil sie nicht sicher war, ob man sich ins Leben von anderen Leuten so sehr einmischen darf. Und weil sie auch daran zweifelte, dass man Mrs. und Mr. Max Goldener ausfindig machen könne. «Was heißt schon beim Trevi-Brunnen», sagte sie. «Wir haben voriges Jahr auch in einer Pension gebucht, die man uns als ‹am See› angepriesen hat. Und dann haben wir ewig zum Wasser latschen müssen!»
Der Nachtportier war aber erfolgreich! Nach einer knappen Stunde hatte er den Kollegen am Hörer, der Mr. und Mrs. Max Goldener zu Gast hatte. Aber sie waren nicht anwesend. Der Papa gab dem römischen Portier eine Botschaft für Mary Goldener durch: Dass wir mit Jasper in Florenz seien. Dass Jasper sie sehen möchte. Und ob es ihr recht sei, wenn wir nach Rom kommen. Und dazu unseren Namen und die Telefonnummer vom Hotel. Der Nachtportier versprach, das auf einen Zettel zu schreiben und den Zettel ins Schlüsselfach der Goldeners zu legen.
Die folgende Nacht mit Jasper war kaum zu überstehen. Wir hatten wieder ein Dreierzimmer. Jasper schnarchte diesmal nicht tödlich, weil er überhaupt nicht schlief. Er redete. Er redete mehr als alles, was er bisher geredet hatte, zusammengezählt. Dass wir Augen machen werden, wie schön die Mary ist. Und wie lieb. Und wie gut. Und überhaupt wonderful. Und dass er wahrscheinlich jetzt gar nicht mehr nach England zurückmuss, sondern zuerst mit uns nach Wien fährt und dann mit der Mary, bis die ihren Europe trip beendet hat, nach Amerika fliegt. Weil er jetzt nämlich schon vierzehn vorbei ist, und ab vierzehn hat man als Kind Mitspracherecht, bei welchem Elternteil man wohnen will. «Sie ist aber kein Elternteil von dir», sagte ich. «Doch, ist sie!» Der Jasper war nicht davon abzubringen. Die Mrs. Pickpeer, sagte er, habe ihn der Mary «geschenkt». Ein Schenkungsvorgang, sagte er, sei nicht mehr rückgängig zu machen. «Wenn ich war bei Mary», sagte Jasper, «Mrs. Pickpeer hat mir nie besucht, nie Brief geschrieben, nie überhaupt nichts! Ist eine Mutter wie dieses?»
«Aber die Gesetze ...», sagte ich zu Jasper. Jasper teilte mir mit, dass er auf die Gesetze scheiße. Ich gab auf! Ich war viel zu müde. Ich schlief ein. Ein paar Mal wachte ich noch auf und hörte Jasper reden. Ob ihm Bille noch zuhörte oder ob auch sie schon eingeschlafen war, wusste ich nicht. Auf alle Fälle grunzte ich laut, sooft ich munter wurde. Damit es so aussah, als hörte ich noch interessiert zu. Weil es schrecklich sein muss, bloß in die stockfinstere Nacht hineinzureden. Bille erzählte mir hinterher, dass sie es genauso gemacht habe. Nur hatte sie noch, als zusätzliche Aufmerksamkeit, bei jedem Munterwerden Jaspers Hand ergriffen und fest gedrückt. Was mir schon aus Gründen der Betteneinteilung unmöglich gewesen wäre! Ich hätte ihm höchstens, da sie mich auf dem Sofa vor dem Ehebett einquartiert hatten, die Zehen drücken können.
Donnerstag, 20. August
Diesen Tag beschreibe ich so knapp wie möglich, weil ich ihn in schrecklicher Erinnerung habe und nicht gern daran zurückdenke.
Ich erwachte davon, dass die Mama in unser Zimmer kam. Sie setzte sich aufs Ehebett, auf Jaspers Seite. Jasper fuhr auf und fragte, ob Mary schon angerufen habe. Die Mama nickte. Jasper wollte aus dem Bett springen. Wahrscheinlich, um sich schnell anzuziehen; damit wir schnell aufbrechen können.
Die Mama hielt Jasper zurück. Sie sagte, sehr langsam und sehr ruhig und in deutscher Sprache: «Mary will nicht, dass wir kommen!»
Jasper starrte Mama an. Da sagte es die Mama auf Englisch. Jasper starrte bloß weiter. Ganz stocksteif saß er im Bett.
«Sie sagt, es wäre nicht gut», fuhr die Mama fort. «Sie sagt, es hat keinen Sinn! Es geht nicht! Sie sagt, es ist vernünftiger, wenn du sie nicht mehr siehst!» Jasper schüttelte den Kopf. «Du lügst», sagte er zur Mama. «Das ist nicht wahr!»
Die Mama wollte Jasper an sich ziehen, ihn trösten, so wie beim gestohlenen Stein-Koffer, aber Jasper wehrte sich. Er wollte stocksteif sitzen bleiben. «Warum?», fragte er. «Warum?», wiederholte er, weil die Mama keine Antwort gab, sondern nur hilflos mit den Schultern zuckte.
«Tell me!», brüllte er plötzlich, so laut, dass die Mama zusammenzuckte.
«Warum will sie denn wirklich nicht?», fragte Bille. «Das ist doch blöd! Ich hab gedacht, sie mag ihn!» «Natürlich mag sie ihn», sagte die Mama. «Aber sie sagt, sie kann das Leben nicht ändern und Jasper ist jetzt schon sehr groß, fast erwachsen ist er und er muss sich damit abfinden! Ein Wiedersehen, hat sie gesagt, würde nur alte Wunden aufreißen!» «Du hast sie nicht verstanden», sagte Jasper. «Du kannst nicht so gut Englisch. Das hat sie nicht gemeint!» «Doch!», sagte die Mama. «Ich habe sie verstanden. Und der Herr Goldener, der kann Deutsch, ganz richtig. Mit dem habe ich auch geredet. In ein paar Jahren, später, hat die Mary gesagt, bis du ganz erwachsen bist, dann könnt ihr euch wieder sehen!» Jasper war nicht bereit, der Mama zu glauben. Da griff die Mama zum Telefon, das auf Jaspers Nachtkastei stand, hob den Hörer ab und wählte die 8, die einen mit dem Portier verbindet. Und als sich der meldete, verlangte sie eine Verbindung mit dem römischen Hotel. Während sie auf die Verbindung wartete, sagte sie zu Jasper: «Mary wollte es zwar nicht, aber rede du mit ihr!» Jasper nickte. Und steckte vier Finger der rechten Hand in den Mund und biss an den Fingernägeln. Dann hatte die Mama anscheinend den römischen Portier in der Leitung, denn sie verlangte Mrs. Mary Goldener zu sprechen.
Jasper nahm die Hand aus dem Mund und streckte sie fordernd nach dem Hörer aus. Die Mama reichte ihm den Hörer. Jasper hielt ihn ein paar Sekunden lang schweigend, dann brüllte er: «Mary! Mary!» Und dann war er wieder still, weil Mary redete. Ganz leise hörten wir ihre Stimme. Eine hohe Stimme. Eine schnatternde Stimme. Ich hatte mir die Mary-Stimme ganz anders vorgestellt.
Die Mama stand auf und deutete uns, das Zimmer zu verlassen; aus Gründen der Diskretion. Wir stiegen aus den Betten und verließen mit der Mama das Zimmer und huschten schnell, weil wir ja noch im Pyjama waren, nebenan ins Zimmer von der Mama und vom Papa. Der Papa lag noch im Bett. Er war aufgeregt. Er sagte, die Mary sei eine Blunzen! «Was war denn schon dabei», fragte er, «wenn er sie wieder sieht! So ein Blödsinn!» Als ich ihm erzählte, dass Jasper schon daran gedacht hatte, mit der Mary nach Amerika zu fahren, da legte sich die Wut vom Papa auf die Mary ein bisschen. Und die Mama sagte, dass wir Jasper nicht so gut kennen, um zu entscheiden, was für ihn das Beste sei. Und der Papa sagte, so wie Jasper leben muss, gibt es «das Beste» gar nicht, da könne man ihm bloß ein paar kleine Wohltaten zufügen. Und die Mary zu sehen sei so eine Wohltat. Gerade als die Mama sagte, Jasper müsse das Telefongespräch längst beendet haben und wir sollten uns um ihn kümmern, kam durch die Wand, von unserem Zimmer her, schrecklicher Lärm. Wie ein wilder Stier brüllte jemand, und da nur Jasper im Zimmer nebenan war, musste Jasper der Stier sein. Andere, sehr laute Geräusche waren auch zu hören. Geschepper und Gepumper. Und Dröhnen.
Wir liefen ins Nachbarzimmer. Auch der Papa, im Pyjama, kam hinter uns her. Wir rissen die Zimmertür auf. Jasper saß auf dem Boden und brüllte. Ohrenbetäubend! Neben ihm war der offene Stein-Koffer. Jasper warf die Steine aus dem Koffer. In weitem Bogen. Andere Sachen musste er auch schon geschleudert haben. Meine Jeans nämlich, die hingen jetzt von der Deckenlampe und Billes Umhängetasche baumelte verkehrt herum an der offenen Schranktür. Alle Sachen, die vorher in der Tasche gewesen waren, lagen verstreut im Zimmer. Und ein Jasper-Stein hatte einen Sprung in den Spiegel an der Schranktür gemacht. Die Mama lief auf Jasper zu, ein Stein traf sie dabei am Schienbein. Sie nahm Jasper den Koffer weg. Jasper, der Munition beraubt, trommelte auf den Boden. Und brüllte weiter. Bei der Zimmertür stand jetzt auch ein Stubenmädchen und schaute ratlos. Und ein schwarz befrackter Kellner. Der tippte sich gegen die Stirn. Und zwei Hotelgäste, die schauten hoch interessiert. Der Papa packte Jasper. «Jasper, shut up!», rief er. Und: «Jasper, hör auf! Sofort, hör auf!» Die Mama rieb sich das Schienbein und sagte: «Bille, vielleicht kannst du ihn beruhigen, auf dich hört er am ehesten!»
Papa trug den zappelnden, brüllenden, strampelnden Jasper zum Ehebett und legte ihn darauf und drückte ihn nieder. Bille kam zögernd zum Bett. Sie beugte sich zu Jasper und wollte ihm leise was sagen. Doch Jasper hatte gerade einen Arm von Papas Griff freibekommen und schlug aus. Eine richtige Ohrfeige bekam Bille von ihm. Aber nicht absichtlich. Bille nahm sie ohne Muckser hin. «Lass ihn doch los», sagte sie zum Papa. Die Mama schloss die Zimmertür vor den neugierigen Zuschauern und der Papa ließ Jasper los. Jasper schlug noch ein paar Mal um sich und boxte in die Luft, dann drehte er sich auf den Bauch und steckte den Kopf in den Kopfpolster. Bille legte sich neben ihn und streichelte ihn. Aber nur ein ganz kleines bisschen. Bille sagte, wir sollten aus dem Zimmer gehen, sie komme schon allein mit Jasper zurecht. Wir gingen. Auf dem Gang, vor der Zimmertür, stand nur noch das Stubenmädchen.
Später fuhren wir mit dem Lift ins Hotelbüro hinunter, weil der Papa ja den Schaden am Spiegel melden musste. Im Lift sagte die Mama, der Papa solle auch gleich die Hotelrechnung verlangen. Keine Stunde länger wolle sie dableiben. Alle Leute, sagte sie, hätten doch das Geschrei gehört. Das sei ihr unheimlich peinlich. Sie möchte sich nicht anstarren lassen. Der Papa zahlte die Hotelrechnung. Und den Spiegel. Und die ellenlange Telefonrechnung auch. Mit Schecks. Der Spiegel war unheimlich teuer. Der Papa bezweifelte, dass ein gewöhnlicher Spiegel so viel kosten kann; aber er wollte nicht herumstreiten oder er traute sich nicht.
Gegen Mittag fuhren wir aus Florenz ab. Jasper saß hinten im Auto, zwischen Bille und mir. Er sprach kein Wort. Er hatte seit dem Tobsuchtsanfall überhaupt nichts mehr gesprochen. Aber zumindest reagierte er auf Aufforderungen wie: «Komm, zieh dich an, wir fahren!» Oder: «Steig in den Wagen!» Und: «Steig aus, bitte, wir machen eine Kaffeepause!» Nicht einmal um die Steinsammlung scherte er sich. Bille hatte alle verschleuderten Steine wieder in den Koffer getan. Den Koffer hatte sie zum Auto getragen und der Papa hatte ihn Jasper auf den Schoß legen wollen – weil Jasper immer mit dem Koffer auf dem Schoß gereist war –, aber Jasper hatte den Kopf geschüttelt. So hatte der Papa den Koffer in den Kofferraum gelegt. Gegen Abend waren wir in Bozen. Jasper schwieg noch immer. Gegessen hatte er bei den Kaffeepausen auch nichts. Nur Mineralwasser hatte er getrunken. Der Papa wollte in Bozen übernachten. Wir fuhren zu fünf Hotels, aber nirgendwo waren zwei Zimmer frei. Da sagte die Mama, sie habe ohnehin keine Lust auf weiteren Urlaub, sie möchte gleich nach Hause. Ob wir das aushalten, fragte sie uns. Oder ob wir dann totgesessen in Wien ankommen? Ich sagte, ich halte das aus. Und Bille war auch einverstanden. Jasper reagierte nicht. Die Mama setzte sich hinters Steuer, der Papa versuchte, neben ihr auf dem Beifahrersitz zu schlafen. Die Mama brauste wie der Teufel in Richtung Wien. Ich glaube, sie fuhr viel schneller, als man darf. Das tut sie sonst nie. Sie ist sonst eine sehr vorsichtige Autofahrerin. Aber es war gottlob ohnehin kaum Verkehr auf der Autobahn, weil es schon so spät war. In der Gegend von Innsbruck plumpste Jaspers Kopf gegen Billes Schulter. Jasper schlief. Und schnarchte. Ich wäre auch gern eingeschlafen. Aber dazu war Jaspers Schnarchen zu laut. Und das Auto auch. Unser Auto kann ziemlich schnell fahren, doch wenn es das tut, scheppert es. Bei Salzburg dann plumpste Jaspers Kopf in Billes Schoß. Und Jaspers Schnarchen hörte sich dadurch etwas leiser an, weil er in Billes Bauch hineinschnarchte und der Bauch das Geräusch dämpfte. Ich schlief auch ein.
Ich wurde erst wieder munter, als wir vor unserem Haus hielten. Ich war ganz steif. Bille war noch viel steifer. Beide Beine, sagte sie, seien ihr unter Jaspers Gewicht eingeschlafen. Die Mama sagte, sie sei so müde, dass sie am liebsten im Auto sitzen bleiben und einschlafen würde. Nur der Papa war putzmunter. «Ich hab geschlafen wie ein Baby», erklärte er und streckte und reckte sich. Im Osten dämmerte bereits der Morgen, als wir aus dem Wagen stiegen. Die Mama sagte: «Unser Gepäck holen wir dann später. Zuerst schlafen wir einmal aus!» Wir stiegen unsere Wendeltreppe hinauf, sperrten viermal die Tür auf, nickten einander erschöpft zu und marschierten zu unseren Betten. Der putzmuntere Papa scherte sich um Jasper. Und half ihm beim Ausziehen. Und deckte ihn zu. Und zog die Rollos in seinem Zimmer herunter. Damit ihn das Sonnenlicht, das bald da sein würde, beim Schlafen nicht stören konnte.
Nach: Christine Nöstlinger: Das Austauschkind. Verlag Beltz, 2. Aufl. 2006.
Fortsetzung folgt