Literatur
Adolf Muschg: Ein Glockenspiel
Fortsetzung aus Nr. 01–03/2008
Jetzt unterlege sie ihrer Lage eine höhere, vielmehr sehr niedrige, sie weiter erniedrigende Deutung, deren sittlichen Kern zu respektieren sie ihm absichtlich schwer mache. Wenn es ihr Zweck gewesen sein sollte, daß ihn diese Absicht (um ein Dichterwort zu borgen) verstimme, so habe sie denselben erreicht. Sie möge aber, auch wenn er Priester sei, nicht den Fehler begehen, sein Interesse am Teufel zu überschätzen. Sollte indes ihre Not so groß sein, wie sie ihn, wenn auch unter einem merkwürdigen Vorwand, fühlen lasse, so möge sie ihn in Gottes Namen prüfen. Nichts Menschliches sei ihm fremd, und ihre Scham, vorgetäuscht oder redlich, deswegen ganz unbegründet. Da, wie sie gewiß begreife, ein Austausch in der vorgeschlagenen Form für ihn nicht in Betracht komme – er sei schließlich, wenn auch noch kein alter Mann, so doch kein romantischer Jüngling mehr –, werde er das Mauerversteck nur dies eine Mal benützen, damit sie nicht glaube, er sei unbereit, für eine Namenlose auch einmal einen seltsamen Gang zu tun. Sollte sie ernsthaft Lust haben, sich mit ihm über die letzten, oder auch nur die persönlichsten, Dinge zu unterhalten, so sehe die Kirche nicht nur die Ohrenbeichte, sondern auch die Begegnung von Mensch zu Mensch vor, für die sie ihn selbstverständlich gerüstet finde. Groß sei, wie er jeden Tag erfahren müsse, die Verwirrung der Welt, und angesichts derselben möge sich die Schreiberin ruhig ein Herz fassen. Für ihr Geheimnis sei dabei nicht das mindeste zu besorgen, und da sie ihn zum ersten Mal gefunden habe, werde sie ihn auch wieder zu finden wissen.
Am Ende schien ihm dieser Brief, den er sorgfältig siegelte, wieder nicht unzweideutig genug. Aber da der Sonntag nahe war und die kräftigen Worte, die er auf der Kanzel gebrauchen mußte, gut überlegt sein wollten, entschloß er sich, die Teufelssache kurz abzutun und ihr danach keinen Gedanken mehr zu widmen. Seufzend machte er sich im vollen Mondschein auf den Weg zum Kirchhof, fand auch das angezeigte Loch, das freilich so hoch lag, daß er es nur mit Anstrengung erreichte, was ihm die Vorstellung erweckte, daß die Adressatin von mächtiger Gestalt sein müsse. Ein Schauder packte ihn, den er dem plötzlichen Lautwerden eines Hundes sowie der Nähe der Gräber zuschrieb. Auf dem Heimweg, der von unaufhörlichem Hundegeheul begleitet war, beruhigte ihn der Gedanke, daß er von seinem Brief, zu seiner Sicherheit, nicht nur eine Abschrift genommen, sondern auch die Vorsicht gehabt hatte, von einer Unterschrift abzusehen.
Die Antwort ließ nicht auf sich warten. Am heiligen Sonntag in aller Frühe warf die Besorgerin dem Kaplan ein bläuliches Briefchen auf den Tisch, das er, nach kurzem Besinnen und starkem Herzklopfen, öffnete. Die Unbekannte ging mit ihm unmäßig ins Gericht. Es sei keine Rede davon, daß sie ihm im Fleische begegnen wolle. Sie habe aus geziemender Ferne um seinen Rat als geistlicher Mann gebeten. Der Teufel sei, was immer, jedenfalls keine Redensart, sondern ein Kerl, auf den sie, als solchen, nichts kommen lasse. Da sei keine Verkleinerung angebracht, und auch ein Pfaffe könnte seine Wunder erleben. Was man von einem solchen erwarten dürfe, sei bessere Kenntnis von den Gründen der Hölle, denn die habe ja wohl ihre Hintergedanken. Röse möchte zum Exempel wissen, was es zu bedeuten habe, daß der Teufel seit dem Tag, da sie dem Kaplan geschrieben, von seiner Heimsuchung abgelassen; sie habe ihres Wissens nichts getan, um ihm die Sache zu verleiden. Offenbar bringe der schwarze Rock kein Glück, wenigstens müßte er doch ein Mittel wissen, den Hund festzuhalten, einen starken Spruch, um die Sau zu zitieren. Wenn seine, des Kaplans, Frömmigkeit nicht hinreiche, den Teufel zu zwingen und der Röse dienstbar zu machen, so möge er die Antwort nur gänzlich unterlassen.
Der Kaplan griff sich an den Kopf, den er, trotz seiner hartnäckigen Verkühlung, zu bedecken vergaß, als ihn die Besorgerin aus dem Haus trieb. In der Tat, die Glocke läutete schon, und besinnungslos steckte er, statt seiner Predigt, den Brief der Hexe ins Wams. Niemand war ihm behilflich, als er sich in der Sakristei das Meßgewand überzog, und er bemerkte erst vor dem Altar einen häßlichen Fleck auf seiner Brust. Die Kirche war so gut wie leer, ein halbes Dutzend alter Frauen saßen wie Krähen in den Winkeln, der Organist war nicht vorhanden, auch nach einem Ministranten sah er sich vergeblich um. Dafür nahm er, durch einen Nebel, in der vordersten Reihe einen einzelnen Mann wahr, den er zu kennen glaubte. Er räusperte sich, um die Messe zu beginnen, aber in diesem Augenblick begann es wieder zu läuten. Der Kaplan stand mit zitternden Beinen und wandte sich nicht um, die grelle Glocke schlug alles nieder, er fühlte den Teufelsbrief auf dem Herzen, und es war nur noch ein Gedanke in ihm, nur ein Gebet übrig, es möchte niemals zu läuten aufhören.
Fortsetzung folgt
un|ter|le|gen <sw. V.; hat>: 1. die Unterseite von etw. mit etw. aus einem anderen [stabileren] Material versehen: eine Glasplatte mit Filz u. 2. etw., bes. einen Film, mit Musik, mit einem Text versehen: eine Combo unterlegte die Modenschau mit dezenten Rhythmen.
red|lich <Adj.>: 1. rechtschaffen, aufrichtig, ehrlich u. verlässlich: ein -er Mensch; er ist nicht r.; eine -e Gesinnung; r. arbeiten; Spr bleibe im Lande und nähre dich r. 2. a) [sehr] groß: sich -e Mühe geben; wir alle hatten -en Hunger; b) tüchtig, ordentlich; sehr: r. müde sein; sie gibt sich r. Mühe, hat sich r. geplagt; die Belohnung hast du r. (wirklich, mit voller Berechtigung) verdient.
Kan|zel, die; -, -n [mhd. kanzel, ahd. kancella < lat. cancelli (Pl.) = Einzäunung, Schranken, zu: cancer = Gitter, wohl dissimiliert aus: carcer, Kerker]: auf einer Säule ruhende od. erhöht an einem Pfeiler angebrachte, von einer Brüstung umgebene kleine Plattform im vorderen Teil der Kirche, von der aus der Geistliche predigt: eine reich mit Schnitzereien versehene K.; auf die K. steigen.
ab|tun <unr. V.; hat>: 1. (ugs.) ablegen, absetzen: den Schlips, die Schürze, die Brille a. 2. a) einer [unangenehmen, lästigen] Sache keine Bedeutung beimessen u. sie von sich schieben, beiseiteschieben: jmds. Einwände mit einer Handbewegung a.; etw. als unwichtig, unbegründet a.; b) jmdm. die Anerkennung verweigern, ihn geringschätzig behandeln, ihn übergehen: jmdn. arrogant a. 3. (seltener) erledigen: eine Sache so schnell wie möglich a.; <meist im 2. Part. + sein:> die Affäre war abgetan. 4. (veraltet, noch landsch.) töten.
zi|tie|ren <sw. V.; hat> [lat. citare = herbeirufen; vorladen; sich auf jmds. Zeugenaussage berufen, eigtl. = in Bewegung setzen od. halten]: 1. eine Stelle aus einem gesprochenen od. geschriebenen Text unter Berufung auf die Quelle wörtlich wiedergeben: etw. falsch, ungenau z.; eine Stelle aus einem Buch z.; auswendig z.; aus der Bibel z. 2. jmdn. auffordern, irgendwohin zu kommen, um ihn für etw. zur Rechenschaft zu ziehen: jmdn. zu sich, aufs Rathaus, vor den Ausschuss z.; der Diplomat wurde ins Kanzleramt zitiert.
Aus: Adolf Muschg: Leib und Leben. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1982. S. 361–373.