Das liest man in Deutschland
Pünktlich überarbeitet
Zum 60. Todestag erscheint Gordon Burgess’ Biografie Wolfgang Borcherts
Ein prosaisch begabter Zeitzeuge war er. Seine Lebensdaten (1921–1947) markieren eine kurze Spanne, die bewegter nicht sein kann. Als Schriftsteller zählt er zum Einmaleins des Lehrpensums an Schulen – und als Selbiger wäre er irgendwie überbewertet. Wäre Wolfgang Borchert heute nicht viel mehr als ein weiterer Kriegsblogger? Sicher, seine Texte gehen über das hinaus, was Tagebuch zu nennen ist. Da es aber fast schon Tradition hat, Borchert autobiografisch zu lesen, ist man nicht weit entfernt vom Tagebuch. Borchert konnte sich orientieren an den Expressionisten, die nach dem Ersten Weltkrieg schon einmal vor dem Scheitern der Kommunikation standen. Sie parierten mit äußerster Verknappung und kaputten Menschen. Friedrich Hölderlin, Rainer Maria Rilke und Georg Trakl werden als wichtigste Einflüsse für die Bildsprache Borcherts gesehen. «Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?», heißt es in Rilkes Duineser Elegien (1923). Und Borchert, im Angesicht totaler Hoffnungslosigkeit und geprägt vom Konzept short story, überführt Rilkes Frage in das nüchterne Bewusstsein eines Zeugen: «Gott hat keine Ohren.» Und Gott hat auch keinen Löffel. Das ganze Geheimnis um Gott ist verpufft im Zweiten Weltkrieg.
Der Brillenmann in Die lange lange Straße lang hat aber einen Löffel. Ausgerechnet der, der diesen Löffel für das Gift benutzt, das er erfand. Ein Löffel davon könne 100 Millionen Menschen töten. Diesen Brillenmann kontrolliert wiederum der Leierkastenmann. Es ist eines der stärksten Symbole, das Borchert gebraucht hat. Der Leierkasten hört nicht auf, es sei denn, der Mensch lässt endlich die Finger von der Kurbel. Aber diese Forderung war Borchert nicht aussprechbar, ohne in den «sauren Kitsch», wie es Hans Egon Holthusen nannte, zu geraten. Das Manifest mit dem Titel «Dann gibt es nur eins» fordert zum Nein-Sagen auf und kann gerade darin literarisch nicht mehr überzeugen – es ist einfach zu platt, um Prosa zu sein.
Nähert man sich dieser Figur, gerät man mit schlafwandlerischer Sicherheit in die Fänge bloßer Verehrer und Übertreiber. Dieser Verdacht ereilt dann auch die meisten Texte über Wolfgang Borchert. Es ist aber auch verlockend, diesen Borchert mit Haut und Haaren zu entführen und ihn gegen jeden Krieg in der Welt aufzustellen. Der arme Junge! Viel zu jung verstarb er an den Folgen einiger Krankheiten, die nur nicht geheilt werden konnten, weil die Wehrmacht in solchen Belangen die Sparflamme pflegte. Was einigermaßen laufen konnte, wurde bis zum bitteren Ende verheizt – der helle Wahnsinn aber auch. Dass diese Wehrmacht woanders ganz und gar nicht auf Sparflamme agierte und die Opfer dieses Tuns bei Borchert nicht vorkommen, wird da gerne vergessen. Täter-Opfer-Umkehr nennt man das.
Borcherts Werk ist der Ausdruck des Schocks und des Versuchens. Seine Texte gestatten aber auch, dahin zu blicken, wo wir nicht immer hinschauen sollen: In den industrialisierten Krieg – jenseits der politischen Versüßung seiner Gründe, jenseits mutiger Mannsbilder und piefiger Treue. «Aber man hat es doch befohlen, flüsterte der eine. Aber wir haben es getan, schrie der andere. [...] Und einer – einer hatte es befohlen.»
Er hatte noch den ungeschminkten Krieg zu ertragen, der wenig vergleichbar ist mit den Hightech-Operationen unserer Tage. Wir erleben heute Zwischenfälle, Maßnahmen, Aktionen etc. Nun wäre es zynisch, daraus eine Humanisierung des Krieges zu folgern. Nur besteht eine intuitiv spürbare Differenz. Borchert bleibt aktuell, wo er so unglaublich reduziert hat. Da gucken eben nur noch Köpfe aus den Erdlöchern. Und daran hat sich nichts geändert. Er unternahm eine Inventur der Wahrnehmungen. Günter Eich meinte 1947 noch, einige Dinge zu haben, und diese «Inventur» sollte eine Bestandsaufnahme in leeren Zeiten sein.
Doch diese Dinge sind nichts für den traumatisierten Menschen, wie ihn Borchert zeigt. Timm, eine der wenigen Figuren, denen ein Hauch Persönlichkeit geblieben zu sein scheint, sagt in einer seiner «Weltreden»: «Wir haben den Schnaps und den Jazz und die Stahlhelme und die Mädchen, die Häuser und die Chinesische Mauer und Lampen – alles das haben wir. Aber wir haben es aus Angst. Gegen die Angst haben wir das.» Weitere Motive: Gott und die Frage nach Schuld, Isolation in Zwangsgemeinschaften, der – zugegeben etwas moraline – Heimatkomplex. Aber irgendwie gehört das Heimatgedöns ja doch zum Menschen. Nicht nur so lässt sich erklären, warum das Theaterstück Draußen vor der Tür Borcherts Prosa so überstrahlt. Überhaupt kriegt man Borchert vom Theater nicht weg. Da passt es gut zusammen, dass Holthusen das Drama zum Urort des Zwiespalts erklärte und Borchert als so wankelmütig und zwiespältig geltender Zeitgenosse da genau hinein gehört. Von einem seiner größten Verehrer, dem Freund Bernhard Meyer-Marwitz, dessen Nachwort zum Gesamtwerk 1957 über alle Maßen heilig klingen wollte, stammt die Empfehlung, Borchert laut zu lesen; ihn zu inszenieren. Eine konsequente Forderung, da Borchert in allen drei literarischen Disziplinen zu Hause war. Die damit verbundene Verehrung des Freundes aber wirkt heute ebenso übertrieben wie ihre gegenwärtige Fortsetzung auf einigen privaten Internetseiten. Aber erscheint dies nicht erst heute so peinlich? Was mag Meyer-Marwitz bewogen haben – zwei Jahre nach der Wiederbewaffnung der beiden deutschen Staaten? Wie gegenwärtig ist das noch?
Der Borchert-Kenner und Mitbegründer der Internationalen Wolfgang-Borchert-Gesellschaft Gordon Burgess jedenfalls kümmert sich um derlei Fragen gar nicht. Seine Borchert-Biografie aus dem Jahr 2003 erscheint nun pünktlich zum 60. Todestag des Schriftstellers im Aufbau-Verlag. Mit der überarbeiteten Fassung soll Borchert neuerlich beleuchtet werden. Dieses Schicksal ereilt ihn nicht zum ersten Mal. Galten die Bemühungen zunächst vor allem der Etablierung des Autors, ging es später darum, ihn aus der Ecke des Vorzeigepazifisten herauszuholen. Die neuen Erkenntnisse – das gleich vorweg – betreffen vorwiegend persönliche Belange des Autors. Das war in einer Biografie nicht anders zu erwarten, aber besonders aufregend ist es eben nicht. Burgess hat noch mehr Menschen befragt, noch mehr Material berücksichtigt, um nun die vierte Biografie vorlegen zu können.
Borchert genieße nun einmal Wertschätzung. Deren Ausdruck sei es gewesen, dass man Burgess in seiner Arbeit so unterstützt habe. Er macht sich nicht die Mühe, Borchert zu verteidigen, sondern stellt ihn einfach mal wieder auf und hofft, die Erzählung des Lebens könne als bloßer Bericht die Intention Burgess’ ausblenden; könne bedeuten, dass es hier nicht darum gehe, politisch zu sein. Nur ist das unmöglich, wenn der Autor einfach nicht alt genug geworden ist, um sein Werk mit der notwendigen Distanz zu versehen, die Jugendschriften fast immer fehlt. Borcherts Texte verleiten geradezu zur autobiografischen Lesart, auch wenn er immer wieder Kodierungen und Modulationen vorgenommen hat. Dafür betrachten wir ihn schließlich doch mehr als Schriftsteller denn als Chronisten.
Burgess hat eine weitere Entscheidung getroffen: weder der Chronologie noch seinen eigenen Überschriften zu folgen. Stattdessen wurden Anekdoten aneinandergereiht, die ähnlich zusammenhängend sind wie die Sterne. Das heißt, hier und da erhält ein Ereignis so viel Gewicht respektive Masse, dass es die Erzählung anderer Ereignisse anzieht. Es wird vermieden, starre Phasen anzulegen, eine lineare Entwicklung zu erzwingen oder Wendepunkte zu installieren, wo wirklich keine sind. Für Forscher ist diese detaillierte Biografie um der Aktualität willen relevant. Für jene, die vielleicht nicht als interessierte Laien bezeichnet werden wollen, ist es eine angenehme Lektüre, bei der auch mal ein paar Seiten übersprungen werden dürfen.
Von Kay Ziegenbalg
Gordon Burgess: Wolfgang Borchert. Ich glaube an mein Glück. Eine Biographie. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2007.
Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11379&ausgabe=200712