Literatur
Adolf Muschg: Ein Glockenspiel
Fortsetzung aus Nr. 01–04/2008
Da erhob sich der einzelne Gast, verließ die Kirche, jetzt täuschte sich der Kaplan nicht länger; ja, es war der Visitator. Die Glocke klang unregelmäßig, wie ein verendender Herzschlag, man hörte es vom Turm her laut schelten und fluchen; dann trat der Visitator wieder ein und setzte sich in die Bank wie zuvor. Der Kaplan begann, auf den Opfertisch gestützt, zu reden. Da nicht mehr gelte, sagte er mit rauher Stimme, was immer gegolten habe, solle auch dieser Gottesdienst nicht mehr gelten. Wo kein Herr sei, könne es auch keine Diener mehr geben, und wo die Worte fehlten, keinen Dienst am Wort. Gott lebe allein, er sei nicht mehr bei sich, er habe keinen Sohn. Darum gebe es nichts Furchtbareres als die frohe Botschaft, und sie müsse unhörbar gemacht werden. Der Rhein draußen fließe nur noch aus Gewohnheit, und auch diese sei furchtbar, und wir sollten beten, daß er rückwärts fließe. Denn es müsse eine Gegenbewegung in die Welt kommen, welche alle Bewegung zu ihrer Quelle zurückführe. Da sei Nichts, aber das schade nichts; nein, das Nichts tue keinem Menschen mehr weh. Nicht mehr dazusein, das sei die wahre Nachfolge Christi, mit dem der arme Mensch, der Krüppel, Gott gleich werden könne, denn auch Ihm gehe es gut, es brauche ihn nicht mehr zu geben, er sei seiner Schöpfung wie immer vorausgegangen. Gelobt sei sein Name, und denkt daran, daß ihr heute ruhen sollt wie euer Herr, denn heute ist sein Tag.
Auf dem Heimweg führte der Visitator den tiefatmenden Kaplan beim Arm, kühn, sagte der Visitator unerwartet freundlich, es sei kühn, dem neuen Wesen so unverblümt das Wort zu reden, aber klug sei es wohl auch. Offen gesprochen, habe er den Kaplan bisher nicht für einen weltklugen Mann gehalten, aber Paris habe ja nicht fallen wollen, der Braunschweiger habe vor Valmy umkehren müssen, und man müßte von Flucht reden, wenn der französische Schmutz nicht sogar das Fliehen unmöglich machte. Auch die Franken glaubten an keinen Gott mehr, und wenn der Teufel wolle, könnten sie nächstens am Rhein stehen. Bewegung, Gegenbewegung, nun ja, allerdings; es sei vielleicht kein Halten mehr, und wer klug sei, baue vor. Auch hierzulande ließen sich die Volksmänner offen vernehmen, darunter solche, von denen man sich’s nicht versehen hätte. Sogar in ihm, dem Kaplan, habe er heute einen Patrioten kennengelernt und könne ihm nur viel Glück wünschen. Ecrasez l’infâme, auch der Kurfürst kenne seinen Voltaire, seine Reformpolitik habe seit Jahren gewissermaßen etwas Französisches gehabt. Für einen geistlichen Fürsten sei er weit gegangen, was ihm die Franken wohl anrechnen würden, in der Weltgeschichte hätten sich die Mächtigen immer besser zu salvieren gewußt als die Ohnmächtigen. Er habe, wie gesagt, die Courage des Kaplans bewundert, zumal es ja nicht so aussehe, als habe er sich bei seinen Pfarrkindern viel Anhang erworben. Wenn die Franken die Kirche schlössen, wäre nicht viel verloren, außer für den Kaplan, daher müsse man dessen Mut schon wunderbar nennen. Ob er gehört habe, daß in Paris damit begonnen würde, nackte Weiber auf Gottes Tisch zu setzen und als das Höchste Wesen zu verehren? Ha, ha, das könnte dem Kaplan wohl passen! Der Kaplan, der einer Ohnmacht immer noch nahe war, fand seinen Besucher in heiterer, wenn auch nicht ganz geheurer Laune; zu einem Imbiß wollte er sich aber nicht bitten lassen und schützte dringende Geschäfte vor. Der Kaplan gewann den Eindruck, daß er sich, mit dem übrigen Hof, zur Flucht rüste.
[…]
täu|schen <sw. V.; hat> [mhd. tiuschen = unwahr reden, anführen, aus dem Niederd. (vgl. mniederd. tuschen = anführen, betrügen), H. u.]: 1. a) jmdm. absichtlich einen falschen Eindruck vermitteln; jmdn. irreführen: jmdn. t.; lass dich [von ihr] nicht t.!; ich sehe mich in meinen Erwartungen getäuscht (meine Erwartungen haben sich nicht erfüllt); wenn mich nicht alles täuscht, ... (wenn ich mich nicht sehr irre, ...); <auch ohne Akk.:> er hat in der Klausur getäuscht (mit unerlaubten Mitteln gearbeitet); b) einen falschen Eindruck entstehen lassen: das Neonlicht täuscht; das Haus ist nicht so hoch, das täuscht; täuschend (zum Verwechseln) ähnlich; c) (bes. Sport) einen Gegner zu einer bestimmten Reaktion, Bewegung verleiten, die man dann zum eigenen Vorteil ausnutzen kann: sie täuschte geschickt. 2. <t. + sich> sich irren: wenn ich mich nicht täusche, hat es eben geklingelt; da täuschst du dich!; ich habe mich in ihr getäuscht.
schel|ten <st. V.; hat> [mhd. schelten, schelden, ahd. sceltan = tadeln, schmähen, verw. mit Schall, Schelle]: 1. (geh., oft auch landsch.) a) schimpfen, seinem Unwillen, Ärger mit heftigen Worten [unbeherrscht] Ausdruck geben: sie schalt, weil ihr niemand half; b) schimpfen, ausschimpfen: die Mutter schilt das Kind, mit dem Kind. 2. (geh.) a) herabsetzend als etw. Bestimmtes bezeichnen, hinstellen: er schalt ihn töricht; b) tadeln, kritisieren.
Krüp|pel, der; -s, - [mhd. (md.) krüp(p)el, mniederd. krop(p)el, kröpel, eigtl. = der Gekrümmte, verw. mit Kringel; vgl. auch Kropf] (emotional): körperbehinderter Mensch: jmdn. zum K. fahren, schlagen; der Unfall machte ihn zeitlebens zum K.
vo|raus|ge|hen <unr. V.; ist>: 1. schon vorher, früher als ein anderer od. vor [einem] andern her irgendwohin gehen: er ging voraus, um zu öffnen und Licht zu machen. 2. sich vorher ereignen, früher [als etw. anderes] geschehen, da sein: dem Streit ging eine längere Missstimmung voraus; in vorausgegangenen (früheren) Zeiten; <subst. 1. Part.:> im Vorausgehenden (weiter oben).
un|ver|blümt [auch: ´- - -] <Adj.>: ganz offen; nicht in höflicher, vorsichtiger Umschreibung od. Andeutung: jmdm. u. seine Meinung sagen.
welt|klug <Adj.>: lebensklug u. welterfahren.
Aus: Adolf Muschg: Leib und Leben. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1982. S. 361–373.