Sonderthema
Heinrich Heine: Die romantische Schule
Zweites Buch
[...] Friedrich Schlegel war ein tiefsinniger Mann. Er erkannte alle Herrlichkeiten der Vergangenheit, und er fühlte alle Schmerzen der Gegenwart. Aber er begriff nicht die Heiligkeit dieser Schmerzen und ihre Notwendigkeit für das künftige Heil der Welt. Er sah die Sonne untergehn, und blickte wehmütig nach der Stelle dieses Untergangs, und klagte über das nächtliche Dunkel, das er heranziehen sah; und er merkte nicht, daß schon ein neues Morgenrot an der entgegengesetzten Seite leuchtete. Friedrich Schlegel nannte einst den Geschichtsforscher «einen umgekehrten Propheten». Dieses Wort ist die beste Bezeichnung für ihn selbst. Die Gegenwart war ihm verhaßt, die Zukunft erschreckte ihn und nur in die Vergangenheit, die er liebte, drangen seine offenbarenden Seherblicke.
Der arme Friedrich Schlegel, in den Schmerzen unserer Zeit sah er nicht die Schmerzen der Wiedergeburt, sondern die Agonie des Sterbens, [...] und aus Todesangst flüchtete er sich in die zitternden Ruinen der katholischen Kirche. Diese war jedenfalls der geeignetste Zufluchtsort für seine Gemütsstimmung. Er hatte viel heiteren Übermut im Leben ausgeübt: aber er betrachtete solches als sündhaft, als Sünde, die späterer Abbuße bedurfte, und der Verfasser der «Lucinde» mußte notwendigerweise katholisch werden.
Die «Lucinde» ist ein Roman, und außer seinen Gedichten und einem, dem Spanischen nachgebildeten Drama, «Alarkos» geheißen, ist jener Roman die einzige Originalschöpfung, die Friedrich Schlegel hinterlassen. Es hat seinerzeit nicht an Lobpreisern dieses Romans gefehlt. Der jetzige hochehrwürdige Herr Schleiermacher hat damals enthusiastische Briefe über die «Lucinde» herausgegeben. Es fehlte sogar nicht an Kritikern, die dieses Produkt als ein Meisterstück priesen und die bestimmt prophezeiten, daß es einst für das beste Buch in der deutschen Literatur gelten werde. Man hätte diese Leute von Obrigkeits wegen festsetzen sollen, wie man in Rußland die Propheten, die ein öffentliches Unglück prophezeien, vorläufig so lange einsperrt, bis ihre Weissagung in Erfüllung gegangen. Nein, die Götter haben unsere Literatur vor jenem Unglück bewahrt; der Schlegelsche Roman wurde bald wegen seiner unzüchtigen Nichtigkeit allgemein verworfen und ist jetzt verschollen. Lucinde ist der Name der Heldin dieses Romans, und sie ist ein sinnlich witziges Weib, oder vielmehr eine Mischung von Sinnlichkeit und Witz. Ihr Gebrechen ist eben, daß sie kein Weib ist, sondern eine unerquickliche Zusammensetzung von zwei Abstraktionen, Witz und Sinnlichkeit. Die Muttergottes mag es dem Verfasser verzeihen, daß er dieses Buch geschrieben; nimmermehr verzeihen es ihm die Musen.
Ein ähnlicher Roman, «Florentin» geheißen, wird dem seligen Schlegel irrtümlich zugeschrieben. Dieses Buch ist, wie man sagt, von seiner Gattin, einer Tochter des berühmten Moses Mendelssohn, die er ihrem ersten Gemahl entführt, und welche mit ihm zur römisch-katholischen Kirche übertrat.
Ich glaube, daß es Friedrich Schlegeln mit dem Katholizismus Ernst war. Von vielen seiner Freunde glaube ich es nicht. Es ist hier sehr schwer, die Wahrheit zu ermitteln. Religion und Heuchelei sind Zwillingsschwestern, und beide sehen sich so ähnlich, daß sie zuweilen nicht voneinander zu unterscheiden sind. Dieselbe Gestalt, Kleidung und Sprache. Nur dehnt die letztere von beiden Schwestern etwas weicher die Worte, und wiederholt öfter das Wörtchen «Liebe». – Ich rede von Deutschland; in Frankreich ist die eine Schwester gestorben, und wir sehen die andere noch in tiefster Trauer.
Seit dem Erscheinen des Frau von Staëlschen «De l’Allemagne» hat Friedrich Schlegel das Publikum noch mit zwei großen Werken beschenkt, die vielleicht seine besten sind und jedenfalls die rühmlichste Erwähnung verdienen. Es sind seine «Weisheit und Sprache der Indier» und seine «Vorlesungen über die Geschichte der Literatur». Durch das erstgenannte Buch hat er bei uns das Studium des Sanskrit nicht bloß eingeleitet, sondern auch begründet. Er wurde für Deutschland, was William Jones für England war. In der genialsten Weise hatte er das Sanskrit erlernt, und die wenigen Bruchstücke, die er in jenem Buche mitteilt, sind meisterhaft übersetzt. Durch sein tiefes Anschauungsvermögen erkannte er ganz die Bedeutung der epischen Versart der Indier, der Sloka, die so breit dahinflutet wie der Ganges, der heilig-klare Fluß. Wie kleinlich zeigte sich dagegen Herr August Wilhelm Schlegel, welcher einige Fragmente aus dem Sanskrit in Hexametern übersetzte, und sich dabei nicht genug zu rühmen wußte, daß er in seiner Übersetzung keine Trochäen entschlüpfen lassen und so manches metrische Kunststückchen der Alexandriner nachgeschnitzelt hat. Friedrich Schlegels Werk über Indien ist gewiß ins Französische übersetzt, und ich kann mir das weitere Lob ersparen. Zu tadeln habe ich nur den Hintergedanken des Buches. Es ist im Interesse des Katholizismus geschrieben. Nicht bloß die Mysterien desselben, sondern auch die ganze katholische Hierarchie und ihre Kämpfe mit der weltlichen Macht hatten diese Leute in den indischen Gedichten wiedergefunden. Im «Mahabarata» und im «Ramayana» sahen sie gleichsam ein Elefanten-Mittelalter. In der Tat, wenn in letzterwähntem Epos der König Wiswamitra mit dem Priester Wasischta hadert, so betrifft solcher Hader dieselben Interessen, um die bei uns der Kaiser mit dem Papste stritt, obgleich der Streitpunkt hier in Europa die Investitur und dort in Indien die Kuh Sabala genannt ward.
In Betreff der Schlegelschen Vorlesungen über Literatur läßt sich Ähnliches rügen. Friedrich Schlegel übersieht hier die ganze Literatur von einem hohen Standpunkte aus, aber dieser hohe Standpunkt ist doch immer der Glockenturm einer katholischen Kirche. Und bei allem, was Schlegel sagt, hört man diese Glocken läuten; manchmal hört man sogar die Turmraben krächzen, die ihn umflattern. Mir ist, als dufte der Weihrauch des Hochamts aus diesem Buche, und als sähe ich aus den schönsten Stellen desselben lauter tonsurierte Gedanken hervorlauschen. Indessen, trotz dieser Gebrechen wüßte ich kein besseres Buch dieses Fachs. Nur durch Zusammenstellung der Herderschen Arbeiten solcher Art könnte man sich eine bessere Übersicht der Literatur aller Völker verschaffen. Denn Herder saß nicht wie ein literarischer Großinquisitor zu Gericht über die verschiedenen Nationen, und verdammte oder absolvierte sie nach dem Grade ihres Glaubens. Nein, Herder betrachtete die ganze Menschheit als eine große Harfe in der Hand des großen Meisters, jedes Volk dünkte ihm eine besonders gestimmte Saite dieser Riesenharfe und er begriff die Universalharmonie ihrer verschiedenen Klänge.
Friedrich Schlegel starb im Sommer 1829, wie man sagte infolge einer gastronomischen Unmäßigkeit. Er wurde 57 Jahre alt. Sein Tod veranlasste einen der widerwärtigsten literarischen Skandale. Seine Freunde, die Pfaffenpartei, deren Hauptquartier in München, waren ungehalten über die inofficiöse Weise, womit die liberale Presse diesen Todesfall besprochen; sie verlästerten und schimpften und schmähten daher die deutschen Liberalen. Jedoch von keinem derselben konnten sie sagen, «daß er das Weib seines Gastfreundes verführt und noch lange Zeit nachher von den Almosen des beleidigten Gatten gelebt habe». [...]
Der Text ist entnommen aus:
http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=3477&kapitel=4&cHash=9ff58b5607chap004#gb_found