Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №6/2008

Das liest man in Deutschland

Zu Besuch in Kaisersaschern

Thomas Manns Meisterwerk «Doktor Faustus» wurde erstmals zuverlässig ediert und kommentiert

Beinahe hätte er seinen besten Roman nicht mehr abschließen können: Geschwächt durch eine verschleppte Grippe mit nicht enden wollendem Fieber, unterbrach Thomas Mann 1946 die Arbeit am Doktor Faustus und begab sich nach Chicago in die Klinik. Die Diagnose lautete auf Lungenkrebs. Der Patient erfuhr nie davon; in seinem Tagebuch ist stets vom «Lungenabsceß» die Rede. Eine Operation war nötig und – sie gelang, was aus heutiger Sicht angesichts der schon fortgeschrittenen Beschwerden fantastisch anmutet. Doch Thomas Mann lebte weiter, schrieb weiter (und rauchte dabei wie eh und je). Der fast im wahrsten Sinn des Wortes tote Punkt war überwunden. Doktor Faustus wurde Anfang 1947 fertig.

Die Entstehungsgeschichte des Romans hatte der Autor in einem aus Tagebuchschnipseln zusammengesetzten Band 1949 selbst erzählt. Nun lässt sie sich ein weiteres Mal nachlesen, im Kommentarband zu einer erstmals zuverlässigen Edition des Texts, die im Rahmen der «Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe» der Werke Thomas Manns erschienen ist. Ruprecht Wimmers Band besticht nicht nur aus textkritischer Sicht durch Qualität; auch der umfangreiche Stellenkommentar, bei dem auf eine Textseite im Durchschnitt mehr als eine Kommentarseite kommt, vermag zu überzeugen.

Im Vergleich zu den mühelos zu konsumierenden Buddenbrooks, dem atmosphärisch dichten Zauberberg oder dem heiteren Felix Krull macht es der düstere, mitunter spröde wirkende Faustro­man dem Leser nicht allzu leicht. Er fordert einen wachen und am besten immens vorgebildeten Rezipienten – allerdings legt die neue Ausgabe den Voraussetzungsreichtum des Romans zu großen Teilen bloß, öffnet das Buch somit auch für einen Leser, der mit der deutschen Ideengeschichte von Martin Luther bis Oswald Spengler weniger vertraut ist.

Das Buch birgt vieles in sich, was Thomas Manns Biografie – und erst recht, was sein Schreiben ausmachte. Es ist eine Lebenssumme, ein Alterswerk im klassischen Sinn. Der unverhohlene Montagecharakter des Romans wurde immer wieder hervorgehoben. Die Ergebnisse der quellenkritischen «Einflussforschung» zu Thomas Mann von den 1960er Jahren bis zum frühen 21. Jahrhundert sind in Wimmers Kommentar eingeflossen. Erkennbar wird das ‹Dreigestirn›, allen voran Friedrich Nietzsche, aber auch Richard Wagner und Arthur Schopenhauer sind präsent; leitmotivisch tritt das «Leiden an Deutschland» auf, die im kalifornischen Exil nicht minder virulente Problematik des ‹wahren›, ‹eigentlichen› Deutschland und seines Repräsentanten, der aus einem mitten in Deutschland gelegenenen Provinznest stammt, dem fiktiven Kaisers­aschern. Der Roman ist nichts weniger als der Versuch einer Grenzüberschreitung zwischen Epik und Musik; er verbindet die Erzählung von Leben und Werken eines Komponisten mit ins Epische transformierten musikalischen Kompositionsprinzipien. Er praktiziert modernes, gebrochenes Erzählen: der biografisierende Freund des Komponisten Adrian Leverkühn ist ein unzuverlässiger Erzähler. Schließlich weist der Roman ein erstaunlich reiches Maß an Intertextualität auf.

Thomas Manns Idee vom Musiker Faust, der seinen Teufelspakt zwecks nie ermüdender Inspiration und Schaffenskraft schließt, datiert schon aus der Zeit der Jahrhundertwende. Erst als sich die USA im Krieg gegen das in allen Lagern gern dämonisierte Deutschland befinden und zu einem Entscheidungsschlag ausholen, setzt Mann ab 1943 den langgehegten Plan endlich um. Der faustische Romanheld Leverkühn propagiert als Komponist ein System, das dem modernen Roman benachbart ist: «Die ganze Material-Disposition und -Organisation müsste ja fertig sein, wenn die eigentliche Arbeit beginnen soll, und es fragt sich nur, welches die eigentliche ist. Denn diese Zubereitung des Materials geschähe ja durch Variation, und die Produktivität der Variation, die man das eigentliche Komponieren nennen könnte, wäre ins Material zurückverlegt – samt der Freiheit des Komponisten. Wenn er ans Werk ginge, wäre er nicht mehr frei.»

Diese Arbeitsweise zwischen Originalität und Zitat erhält im Dialog mit Leverkühns Freund (und Erzähler des Romans) Serenus Zeitblom sogleich einen politischen Beigeschmack: «Interessantere Lebenserscheinungen [...] haben wohl immer dies Doppelgesicht von Vergangenheit und Zukunft [...]»: Was kann damit gemeint sein? Modernität und Rückwärtsgewandtheit? Progressivität und Konservatismus? Produktivität und bloßes Zitat? Humanität und Barbarei? Die künstlerische Moderne seit der Romantik (die natürlich ebenfalls eine Hauptrolle in dem Roman spielt) ist dominant selbstreflexiv und intertextuell, sie sucht aber zugleich nach Ursprüngen, belebt Mythen neu, betreibt in schwer durchsichtigen Verfahren das, was Manns Roman das «Revolutionär-Rückschlägige» nennt: Niemand kann diese Moderne auf eine politische Richtung festlegen, sie betreibt, wie Leverkühn es uns vorführt, «Zweideutigkeit als System». Es kann kaum verwundern, dass Doktor Faustus im (West-)Deutschland der Nachkriegszeit so heftig umstritten war wie sein Autor.

Und natürlich wird der Leser dazu angehalten, über die Beziehungen einer scheinbar nur ästhetischen oder ästhetizistischen Moderne zum Deutschland des Nationalsozialismus nachzudenken. Es geht also nicht allein um den schillernden, durchaus mäßig sympathischen Leverkühn, der sich seine künstlerische Produktivität um den Preis seiner Seele erkauft und der zudem ein glückliches Leben mit dreingibt, denn in ihm, dem besessenen Arbeiter, wohnen Einsamkeit und Kälte.

Doch er gewinnt auch bei dem Handel, wie der Leibhaftige, der ihm in einem Pfitzner’schen Palestrina erscheint, ihm wortreich ausmalt: «Denn wir liefern das Äußerste in dieser Richtung: Aufschwünge liefern wir und Erleuchtungen, Erfahrungen von Enthobenheit und Entfesselung, von Freiheit, Sicherheit, Leichtigkeit, Macht- und Triumphgefühl, dass unser Mann seinen Sinnen nicht traut.» Die rasante Karriere des Tonsetzers Leverkühn währt 24 Jahre, ehe ihn der Teufel holt. In dieser Zeit setzt sich der Komponist an die Spitze der musikalischen Entwicklung seiner Zeit. Kurioserweise lässt Thomas Mann ihn die Zwölftonmusik erfinden, was Arnold Schönberg nicht mit Begeisterung quittierte.

Am Ende holt der Studienrat Zeitblom, der die Handlungsstränge gern heillos vermengt und ein Gutteil an bornierter Bürgerlichkeit beisteuert, gleichsam zum nationalen Gebet aus: «Ein einsamer Mann faltet seine Hände und spricht: Gott sei euerer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland.»

Thomas Manns ernstester Roman ist ohne das Wissen um seine Entstehungsbedingungen nicht angemessen zu lesen. Die Anforderungen an eine kommentierte Ausgabe sind hoch. Doch wird Ruprecht Wimmers Kommentar diesen Ansprüchen mühelos gerecht. Schon die Seitenzahl des Bands zeugt von der immensen Leistung des Herausgebers. Dabei hat er keineswegs «nur» zahlreiche Textstellen erläutert und kommentiert. Die etwas unübersichtliche textkritische Lage forderte vielmehr die Berücksichtigung zahlreicher Ergänzungen. Da der Autor nach Erscheinen der Erstausgabe seinen Text nochmals einer weitreichenden Kürzung und Revision unterzog, bildet die zweite, ebenfalls autorisierte Ausgabe die Grundlage des Textbandes. Alles schon in der Handschrift oder erst auf dem Weg zu jener zweiten Ausgabe Gestrichene bietet diese Ausgabe nun allerdings vollständig. Die umfangreicheren Streichungen füllen im Anhang immerhin gut 130 Druckseiten. Schon deswegen lohnt sich die Anschaffung der Ausgabe auch für Thomas-Mann-Kenner.

An der epochalen Bedeutsamkeit der neuen Ausgabe von Doktor Faustus ist nicht zu zweifeln. Sie wird hoffentlich viele Leser zu diesem am besten erforschten, aber auch wohl schwergewichtigsten Roman Thomas Manns bekehren. Die manchmal etwas mühsame Lektüre der fiktiven Tonsetzer-Biografie wird belohnt mit ungemein intensiven Einblicken in die Diskurswelten des fremd werdenden 20. Jahrhunderts.

Von Jochen Strobel

Thomas Mann: Doktor Faustus. Text und Kommentar in einer Kassette, 2 Bücher. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007. 1780 Seiten.

Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11414&ausgabe=200712