Das liest man in Deutschland
Fundgrube und spannende Lektüre obendrein
Über Fritz Sterns Erinnerungen «Fünf Deutschland und ein Leben»
Fünf Deutschland hat der deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern erlebt: die Weimarer Republik, in die er 1926 hineingeboren wurde, die Nazi-Diktatur, die er bis 1938 bis zur Flucht mit seinen Eltern in die Vereinigten Staaten hautnah erlitt, die Bundesrepublik, die sich im Laufe der Zeit mit ihrer «außergewöhnlichen Demokratie» streitbar entwickelt hat, und die weniger bekannte Diktatur der sowjetisch dominierten Deutschen Demokratischen Republik – Stern nennt diese «das vierte vergessene Deutschland», das er erst nach und nach kennengelernt hat und wohin er dann oft gereist ist – und schließlich ab 1990 das geeinte Deutschland, von dem er hofft, dass es seine zweite Chance nutzen werde.
Von seinen Erfahrungen mit den unterschiedlichen deutschen Staaten handelt Sterns Erinnerungsband Fünf Deutschland und ein Leben, in den auch seine Erlebnisse und Erfahrungen in Amerika mit eingeflossen sind.
Stern beginnt mit dem Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, das er selbst nicht miterlebt, aber in seinem akademischen Leben gründlich erforscht hat. Dieses ist auch das Land seiner Vorfahren, deren Leben er anhand von Familienbriefen und mündlichen Überlieferungen skizziert.
In den folgenden Kapiteln verknüpft Stern, der auf eine jahrzehntelange, glanzvolle akademische Karriere an der Columbia Universität zurückblicken kann und in seiner Disziplin einer der anerkanntesten Professoren ist, sein eigenes Leben mit einer nüchternen Schilderung der deutschen Geschichte, wobei das Private und das Öffentliche oft nahtlos ineinander übergehen, vor allem in den Abschnitten über sein Leben und das seiner Familie im nationalsozialistischen Deutschland. Später rückt sein privat-persönliches Leben mehr in den Hintergrund.
Sterns Geburtsstadt ist Breslau, wo seine Familie seit Generationen gelebt hat und die heute unter dem Namen Wroclaw zu Polen gehört. Dort wächst Fritz Stern im bildungsbürgerlichen Milieu einer deutsch-jüdischen Akademikerfamilie auf. Urgroßvater, Großvater und Vater waren erfolgreiche Mediziner und Hochschuldozenten. Die Mutter schrieb Bücher über Kinderpädagogik und leitete Reformkindergärten. Im Leben der konvertierten und assimilierten Familie spielte die deutsche Kultur eine größere Rolle als der jüdische Ursprung – solange, bis der Antisemitismus wieder seine schlimmen Blüten trieb, der Familie arg zusetzte und der Gymnasiast Fritz Stern ab 1936 zur Zielscheibe verbaler und physischer Attacken in der Schule wurde.
Kein Wunder, dass später die Geschichte und das Schicksal des deutschen Judentums für ihn zum Lebensthema wurden. Was ihn dabei aber ganz besonders beschäftigt hat, ist die Frage: Warum und auf welche Weise ist das universelle Potential der Menschheit zum Bösen in Deutschland Wirklichkeit geworden? Stern ringt sich schließlich zu der Antwort durch, dass die deutschen Wege ins Verderben weder zufällig noch unausweichlich gewesen seien und dass kein Land immun sei gegen die Versuchungen solcher pseudo-religiöser repressiver Bewegungen, wie ihnen Deutschland erlag.
Der Autor beschreibt, wie die Nazis ihre Macht immer mehr ausbauten und wie es Hitler gelang, die Bevölkerung einzuschüchtern und sogar zu begeistern. Er erinnert sich dabei an viele Details und Erlebnisse und versteht es, die bedrohliche Atmosphäre beim Aufkommen der Nazis eindrucksvoll wiederzugeben und durch genaue Daten zu untermauern.
Kurz vor den November-Pogromen 1938 glückte der Familie Stern die Flucht in die Vereinigten Staaten von Amerika. Der Anfang dort war mühsam. Doch aufgrund der deutschen Erfahrungen habe er sich, bekennt Stern, bald als Amerikaner gefühlt und zwar als Amerikaner und Jude. Auch sei mit der Zeit das anfängliche Verlustgefühl im Hinblick auf den deutschen Heimatort bald überlagert worden von der alles beherrschenden Dankbarkeit, in den Vereinigten Staaten eine zweite, bessere Heimat gefunden und den Wert der Freiheit schätzen gelernt zu haben. Freiheit ist seitdem ein Schlüsselbegriff in Sterns Denken.
In Amerika verfolgten die Sterns Terror, Krieg und Gräueltaten der Nazis aus der Ferne und empfanden den 8. Mai 1945 als einen «Tag dankbarer Erlösung». Damals sei auch, schreibt Stern, durch Deutschlands Niederlage das ganze Ausmaß der Nazi-Barbarei zu Tage getreten, nicht zuletzt durch die Bilder von den befreiten Lagern. Viele Deutsche seien jedoch von ihrer Unschuld überzeugt gewesen und ergingen sich in Selbstmitleid.
Ausführlich schildert Stern die Zeit des Kalten Krieges. Als diese vorüber war, hatte er lange den Eindruck, dass es in der Bonner Republik recht geruhsam zuging. «Sie war provinziell und beruhigend langweilig.» Trotzdem hegte Stern geraume Zeit auch weiterhin tiefe Zweifel an der politischen Reife und Verlässlichkeit der Deutschen. Mündig wurde die Bundesrepublik erst in den 1980er Jahren. Zudem habe die neue Bonner Republik ungewöhnliches Glück mit ihrem neuen Führungspersonal gehabt.
Als amerikanischer Deutschland-Historiker wurde Stern dann mehr und mehr hineingezogen in die deutschen Kontroversen über die Vergangenheit, die das besiegte und geteilte Land aufwühlten, nachdem es sich dann doch allmählich seiner Schuld bewusst geworden war, insbesondere durch die Nürnberger Prozesse, durch Hochhuths Drama vom Stellvertreter, durch die Kontroversen um die Historiker Gerhard Ritter und Fritz Fischer, den Historikerstreit um Ernst Nolte und zuletzt durch die Provokation, die Martin Walser mit seiner Rede in der Frankfurter Pauls-Kirche 1998 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ausgelöst hat. In den 90er Jahren sei das kollektive Erinnern fast zur Obsession geworden.
Mittlerweile lebt Stern, dessen Bücher auch in Deutschland zu Bestsellern wurden, seit vielen Jahren in zwei Welten. Allerdings sei ihm der Weg zurück in die deutsche Gesellschaft nicht leicht gefallen, gesteht Stern, dem neben vielen anderen Auszeichnungen ein Jahr nach Walser 1999 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen worden war. Gleichwohl steht das Land seiner Herkunft im Zentrum seiner historischen Arbeiten. Diese befassen sich mit Bismarck und seinem Bankier Bleichröder, mit dem modernen Totalitarismus, mit großen Gestalten aus der deutschen Wissenschaft und der deutschen Politik. Eine andere, längst zum Klassiker gewordene Studie handelt vom Kulturpessimismus als politische Gefahr, während Sterns historische Essays enthüllen, was es mit dem «feinen Schweigen» deutscher Intellektueller auf sich hat.
Da Stern, neben anderen wichtigen Neuerscheinungen, auch auf seine eigenen Publikationen und diversen Vorträge eingeht, gewinnt der Leser einen guten Einblick in die Gedankenwelt des Historikers und wird neugierig auf seine weiteren Veröffentlichungen.
Stern äußert sich ferner über Juden und Christen, über das Verhältnis der Deutschen zum Judentum, über den arabisch-israelischen Konflikt, über seine Besuche in der Bundesrepublik und in Israel sowie über seine Reisen rund um die Welt. In Persien wurde er sogar vom Schah empfangen. Zwischendurch ergreift er Partei für bestimmte Positionen und Persönlichkeiten, macht aus seiner Abneigung gegenüber gewissen Politikern keinen Hehl und zollt anderen, wie John F. Kennedy und Willy Brandt, großes Lob.
Für die radikalen, sich autoritär gebärdenden Auswüchse der Studentenbewegungen Ende der 1960er Jahre an den deutschen und amerikanischen Universitäten zeigt er wenig Verständnis. In Deutschland hat er schon früh gute Freunde gefunden, zum Beispiel den Soziologen Ralf Dahrendorf und die einstige Zeit-Chefin Marion Gräfin Dönhoff. Sie verband «preußische Strenge mit menschlicher Wärme». Aber Stern hatte hier nicht nur Freunde, auch Gegner, die ihm eine Ahnung vermittelten «von den Ressentiments und latenten Bedenken gegen ehemalige deutsche Juden».
Sterns Erinnerungsband bietet ein übersichtliches Panorama relevanter historischer Abläufe von der Kaiserzeit bis zum Jahr 2002. Nicht alles, was der Historiker beschreibt, ist neu und überraschend. Dennoch liest man seine Ausführungen mit viel Gewinn, gewähren sie doch, neben nüchternen und scharfsichtigen Analysen, manchen überraschenden Einblick in historische Abläufe und Zusammenhänge aus der Sicht eines historisch versierten, aufmerksamen, kritischen und engagierten Beobachters. Man wünscht sich, Stern möge die jetzige und künftige Entwicklung der Bundesrepublik weiter genau im Auge behalten und bei Gelegenheit darüber berichten, sozusagen als Fortsetzung dieses Buches, das den Deutschen einen nicht immer schmeichelhaften Spiegel vorhält, aber eine unerlässliche Fundgrube darstellt für alle, die an Politik und Geschichte interessiert sind. Insbesondere für junge Leser, die vieles selbst noch nicht miterlebt haben. Darüber hinaus ist der Band ein wichtiges Nachschlagewerk und zugleich Zeugnis eines wahrhaft erfüllten, geistig regsamen Lebens und eine spannende, ja geradezu aufregende Lektüre obendrein.
Von Ursula Homann
Fritz Stern: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. Verlag C. H. Beck, München 2007.
Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11290&ausgabe=200711