Literatur
Erik Neutsch: Claus und Claudia
Fortsetzung aus Nr. 06/2008
Nervenzusammenbruch – so lautete die Diagnose. Deshalb war sie in die Klinik für Neurologie der Universität in W. eingeliefert worden.
Claus Salzbach hatte vor einer Stunde erst mit dem Arzt gesprochen, der sie behandelte.
«Wie gut, daß Sie sich haben frei machen können ...» Worte, wie er sie ähnlich nun auch von Claudia hörte. «Ihre Tochter ist ein sehr bewußt lebender Mensch. Um so rätselhafter erscheint es mir, warum sie zu den Tabletten griff. Nein, nein, nur ein angedrohter Suizid war es nicht, eher freilich ein Versuch im Affekt. Als künftige Hebamme aber wußte sie um die Folgen. Danken Sie daher Gott oder wem sonst, daß ihre Großeltern sofort die Schnelle medizinische Hilfe alarmierten. Wir pumpten ihr den Magen aus. Aber damit ist ja nicht ihr Konflikt, den sie unbestreitbar mit sich herumschleppt, aus dem Blut. Herr Salzbach ... Wenn ich Sie bitten darf ... Nach Ihrem Spaziergang im Park. Melden Sie sich noch einmal bei mir. Vielleicht erhalten wir dadurch tiefere Aufschlüsse. Prüfungsangst? Die Enttäuschung, in zwei Fächern letztens nur mit einer Vier bestanden zu haben? Das allein kann es doch wohl nicht sein. Nicht bei einer solch intelligenten jungen Frau...»
Fast auf den Tag genau zwölf Monate hatte er sie nicht mehr gesehen. Denn nur einmal im Jahr wurde ihm Urlaub gewährt, den er dann stets dazu nutzte, nach Haus zu reisen, in die Republik. In Vietnam und Ägypten hatten sie Claudia noch ständig bei sich gehabt. Sobald jedoch die Kinder von Diplomaten das vierzehnte Lebensjahr erreicht hatten, so wollten es die unerbittlichen Vorschriften, war es ihnen für gewisse Länder nicht mehr gestattet, ihre Eltern dorthin zu begleiten. Claudia hatte eine Internatsschule besucht, in der sie aber unter der Trennung von Mutter und Vater so sehr litt, daß sie in ihr nicht leben konnte. Martinas Eltern nahmen sich ihrer an. Sie zog zu ihnen, und auch jetzt, nach ihrer Scheidung und trotz eigener Wohnung, quartierte sie sich oft bei ihnen ein, zumal sie fortan ihren Sohn betreuten, um ihr das Praktikum mit dem unregelmäßigen Schichtdienst zu erleichtern. Vor fünf Jahren zum letzten Mal hatten er und seine Frau wenigstens noch mit ihr, da sie erst siebzehn war, somit nicht volljährig, den Urlaub gemeinsam in Frankreich verbringen dürfen. Er entsann sich deutlich. In Honfleur am Kanal, in dem kleinen Restaurant in der unmittelbaren Nähe der uralten Holzkirche, beim Essen der Fruits de la mer und beim Wein, da hatte sie ihnen gestanden, daß sie verliebt sei und bald heiraten möchte.
«Sie wollen mich fertigmachen...», sagte sie jetzt. Mit dieser Behauptung verband sie zugleich unglaubliche Geschichten, Erlebnisse jedenfalls, die Claus nicht für möglich hielt, zumindest für übertrieben ihrerseits. Frau Baumholder, erzählte sie, die Leiterin der Abteilung Hebammenausbildung an der Medizinischen Fachschule, die der Universität in W. angeschlossen ist, Parteimitglied obendrein wie sie, habe es besonders auf sie abgesehen, betrachte jede Regung, jede Äußerung von ihr wie unter der Lupe und scheine nur auf einen Fehler von ihr zu warten.
«Vati, ich hab Angst vor ihr. Nachts schrecke ich aus dem Schlaf, weil sie mich bis in meine Träume verfolgt.»
Von Anfang an, schon bei der Nachricht, daß sie einen Nervenzusammenbruch erlitten habe, hatte er gedacht: Sie ist zu weich, zu sensibel. Die normalsten Dinge des Lebens, wie sie überall und zu jeder Zeit auftauchen können, für andere Lappalien, ihr jedoch machen sie zu schaffen. Wir haben sie verwöhnt, besonders Martina, haben sie nicht genug darauf vorbereitet. Sie war unsere Einzige, und für mich ist sie es noch. Trotzdem, hatte er gedacht, jagt sie doch in den Kreißsaal, so lange und so gründlich, bis sie endlich hart geworden ist, vor Härten nicht mehr kapituliert. Der Beruf einer Hebamme verträgt sich nun einmal nicht mit Zimperlichkeit ...
Wieder spürte er, daß sie sich fester an ihn hängte und mit beiden Händen seinen Arm umkrampfte. Tränen traten ihr ins Gesicht, sie schluchzte. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter, und er blickte, ein wenig ratlos jetzt und betroffen, auf ihren streng gezogenen Scheitel.
Auf dem Kiesweg flog taumelnd ein Falter vor ihnen her, braunrot, mit blauen Flecken auf den Flügeln, ein Pfauenauge. Schließlich setzte er sich auf eine Blüte und schien daran zu saugen. Sie blieb stehen und betrachtete ihn. «Weißt du», fragte sie, «daß Schmetterlinge in der Lage sind, über Kilometer weit am Duft ihre Partner aufzuspüren?»
Nein, er hörte davon zum erstenmal.
«Wie selbstverständlich doch alles ist. In der Welt dieser kleinen Tiere. Rein vom Instinkt programmiert und völlig problemlos. Dagegen bei uns, bei den Menschen. Soviel Neid, soviel Mißgunst, Verachtung gegenseitig bis zum Zynismus oft ... Und so wenig Liebe.»
Doch sie lächelte wieder, lachte plötzlich sogar auf.
Fortsetzung folgt
Ner|ven|zu|sam|men|bruch, der: plötzlich auftretende Krise infolge einer außergewöhnlichen Überbeanspruchung od. als erstes Anzeichen einer schweren psychischen Erkrankung.
an|dro|hen <sw. V.; hat>: mit etw. drohen; etw. unter Drohungen ankündigen: jmdm. Rache, ein Gerichtsverfahren, Schläge, Prügel a.; die USA drohen Sanktionen an.
Su|i|zid, der od. das; -[e]s, -e [zu lat. sui = seiner u. -cidere = töten, eigtl. = das Töten seiner selbst] (bildungsspr.): Selbstmord.
aus|pum|pen <sw. V.; hat>: a) durch Pumpen herausholen, herausfließen lassen: Wasser [aus der Baugrube] a.; b) durch Pumpen leeren: die Baugrube, den Keller a.; [jmdm.] den Magen a. (aushebern); Ü völlig ausgepumpt (ugs.; entkräftet) lief sie ins Ziel.
un|be|streit|bar <Adj.>: sich nicht bestreiten, ableugnen, für nicht zutreffend erklären lassend: eine -e Tatsache; ihre Fähigkeiten sind u.; es ist u., dass ...; es zeigte sich u. ein neuer Trend.
Auf|schluss, der; -es, Aufschlüsse: Auf]klärung, Auskunft: über jmdn., etw. A. geben, bekommen; sich A. über etw. verschaffen; in der Philosophie, Religion A. über das Leben zu erlangen suchen.
ge|wäh|ren <sw. V.; hat> : a) [jmdm. etw., was er erbittet od. wünscht, aus Machtvollkommenheit] großzügigerweise geben, zugestehen: jmdm. eine Audienz, ein Interview g.; dem Angestellten Kredit, eine [Zahlungs]frist, einen Vorschuss g.; jmdm. eine Vergünstigung, in etw. Einblick g.; einem Flüchtling Schutz, Asyl, Unterkunft g.; die gewährten Subventionen; b) einer Bitte o. Ä. entsprechen, sie zulassen, erfüllen: jmdm. einen Wunsch, ein Gesuch, Anliegen g.
an|neh|men <st. V.; hat>: <a. + sich> sich um jmdn., etw. kümmern: sich der Verletzten, der Kinder a.; die Stadt will sich verstärkt der Ausländerbetreuung a.
oben|drein <Adv.>: überdies, außerdem, noch dazu: das Kind hat mich o. noch ausgelacht.
Lap|pa|lie, die; -, -n [urspr. Studentenspr., scherzh. latinisierende Bildung zu Lappen]: höchst unbedeutende Sache, Angelegenheit; Belanglosigkeit: sich wegen, über -n aufregen.
Kreiß|saal, der [zu kreißen] (Med.): Entbindungsraum (im Krankenhaus).
zim|per|lich <Adj.> (abwertend): 1. a) übertrieben empfindlich: ein -es Kind; sei nicht so z., es tut doch gar nicht weh; b) rücksichtsvoll, feinfühlig, zurückhaltend <meist verneint>: er ist nicht [gerade] z. (rücksichtsvoll), wenn es um die Durchsetzung seiner Interessen geht. 2. [auf gezierte Weise] prüde, übertrieben schamhaft.
Aus: Erik Neutsch: Claus und Claudia. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Leipzig 1989. S. 5–13.