Bildung und Erziehung
Warum Kinder zum «Zappelphilipp» werden
Mal ist die Ernährung schuld, mal liegt es an den Genen, mal haben die Eltern alles falsch gemacht – bis heute streiten Wissenschaftler darüber, warum Kinder an einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung erkranken.
Hyperaktivitätsstörung (ADHS) kommt und wie man diese Kinder am besten behandelt, darüber streitet die Wissenschaft seit Jahrzehnten. Jüngst trafen die Verfechter beider Lager in Frankfurt aufeinander. Die eine Schule geht davon aus, dass ADHS eine angeborene neurologische Störung ist; die andere Seite hält die Krankheit für ein Produkt der Gesellschaft. Es sieht nicht so aus, als ob die internationale Fachtagung über «Psychoanalytische Perspektiven zur Entwicklung von ADHS und anderen Psychopathologien» die Gräben zuschütten könnte.
Der New Yorker Psychiater Bradley Peterson gehört zu jenen Wissenschaftlern, die ADHS neurobiologisch erklären wollen. Er führt Studien an, die mit Hilfe bildgebender Verfahren wie funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) ADHS direkt im Gehirn nachweisen wollen. In Frankfurt legte er «bewiesene anatomische Abnormitäten» vor – vor allem in den unteren Teilen der frontalen Hirnrinde. «Unsere Studien zeigen, dass stimulierende Medikamente die Aktivierung der unteren frontalen Hirnrinde während der Selbstregulations-Aufgaben verbessern» und dass diese Verbesserung die Hirnaktivität von ADHS-Kindern «normalisiert».
Warnung vor exzessivem Ritalingebrauch
Dass Medikamente wie Ritalin helfen, stellen auch jene nicht infrage, die die andere Lehrmeinung vertreten. Sie warnen aber vor einem exzessiven Gebrauch. Vor allem Umwelteinflüsse wie das Temperament der Mutter, die familiäre Situation, Leistungsdruck in der Schule oder mediale Reizüberflutung seien dafür verantwortlich, dass Kinder unruhig, unkonzentriert und aggressiv werden, glauben die Anhänger der anderen Schule. Auch sie führen Studien als Beleg an.
Prof. Marianne Leuzinger-Bohleber vom Frankfurter Sigmund-Freud-Institut (SFI) verweist auf eine Untersuchung, wonach Kinder depressiver Mütter besonders häufig an ADHS leiden. Schon als Säugling versuchten sie, «ihre ‹toten› Mütter zum Leben zu erwecken: ein beobachtbares hyperaktives Verhalten ist die Folge». Als man die Embryonen träger Mäuse-Mütter in quirlige Mäuse-Mütter eingepflanzt habe, seien sie zu sehr lebhaften Mäuse-Kindern herangewachsen.
Alternative: Soziale Therapie
Für hilfreicher als Medikamente halten die Anhänger dieser Schule soziale Hilfsangebote und/oder eine Therapie. Eine Studie an 14 Frankfurter Kindertagesstätten habe bewiesen, dass ganz ohne Pillen, allein «mit psychosozialen und psychoanalytischen Angeboten ein statistisch signifikanter Rückgang von Aggression, Ängstlichkeit und Hyperaktivität erzielt werden kann», behauptet das SFI. Fachleute beobachteten in dieser «Präventionsstudie» die Arbeit der Erzieher, diskutierten mit ihnen über auffällige Kinder, sprachen mit den Eltern und organisierten bei Bedarf eine Therapie.
Eine vergleichende Studie, die derzeit in Frankfurt und Hamburg läuft, soll entscheiden, was bei schweren ADHS-Fällen auf lange Sicht erfolgreicher ist: eine psychotherapeutische Behandlung, eine Verhaltenstherapie oder Ritalin «mit ein paar Gesprächen». Bis diese Frage entschieden ist, wird es wohl noch einige Jahre dauern.
Alles eine Frage des Temperaments
Derzeit werde Ritalin und Konsorten allzu vorschnell eingesetzt, kritisiert Prof. Rolf Haubl. 1221 Kilogramm solcher Medikamente wurden laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 2006 verordnet – 36 Mal so viel wie 1993. Grund für den Erfolg dieses Verkaufsschlagers sei, «dass er die Eltern und die Lehrer entlastet», findet der Psychologe. Mit der Diagnose ADHS und einem Rezept in der Tasche müssten sich die Eltern keine Gedanken machen, was ihr eigener Lebensstil zu dieser Störung beitrage. Schulen seien aus der Verantwortung entlassen, sich zu fragen, welcher Unterricht Kinder mit Aufmerksamkeitsschwierigkeiten «dort abholt, wo sie stehen».
Zwischen die Stühle setzt sich der Kinderarzt William Carey aus Philadelphia. Er bringt einen fast vergessenen Begriff in die Diskussion ein: das Temperament. Unsere Gesellschaft habe verlernt, so steht es im Manuskript seines Frankfurter Vortrags, «Unterschiede im Temperament (...) zu verstehen, sie zu tolerieren und sich gemeinsam anzupassen, eher als die Kinder zu verändern, sie zu quälen, zu psychotherapieren oder mit Medikamenten zu beruhigen».
Der Text ist entnommen aus: http://www.netzeitung.de/wissenschaft/917417.html