Das liest man in Deutschland
Ein verbalisiertes Panorama der 1950er Jahre
Meinrad Brauns Debüt-Roman «Winterreise» lässt das Nachkriegsdeutschland des Jahres 1953 bildhaft wiederauferstehen.
August, Heinrich und Elisabeth, die Protagonisten in Meinrad Brauns Debütroman Winterreise, besuchten einst dieselbe Internatsschule bei Ulm. Heinrich und August waren beste Freunde, besiegelten ihren Bund mit russischem Roulette und notdürftig improvisierter Tätowierung, meldeten sich schließlich freiwillig zum Front-Dienst im Ersten Weltkrieg und kämpften dort Seite an Seite. August wiederum war in Elisabeth verliebt, die jedoch Heinrich prinzipiell, wenn auch nicht gänzlich, den Vorzug gab, und in den unruhigen Zeiten der 1930er Jahre verlieren sich alle drei aus den Augen. Zurück bleiben im erwachsenen und alternden August Brenner die Sehnsüchte und die Angst, Entscheidendes verpasst zu haben. 1953 schließlich landet Heinrichs ausgemergelter Körper auf dem Sektionstisch des pathologischen Instituts der Hamburger Universität, auf dem Sektionstisch also des mittlerweile über 50-jährigen Professors Brenner. Der eignet sich, nach Heinrichs eher unspektakulärem Tod durch Lungenentzündung vollkommen aus der Fassung gebracht, im Hamburger Obdachlosenasyl dessen letzte Habseligkeiten an: einen Koffer mit Aufzeichnungen, Tagebuch und Heinrichs Pass. Schließlich nimmt er auch noch dessen Namen an, lässt alles stehen und liegen und reist – anfangs noch mit dem Volkswagen der Geliebten und Studentin Marianne, ab Hannover mit dem Zug – quer durch das Deutschland der Nachkriegszeit, liefert so mit dieser Reise von Nord nach Süd nicht nur einen geografischen und zeitgeschichtlichen Querschnitt der teilweise noch in Trümmern liegenden jungen Bundesrepublik. In Rückblenden und teils fantastischen Träumen und Gesprächen gibt er damit auch einen Querschnitt seines eigenen Lebens, seiner Ausbildung zum Pathologen bei einem jüdischen Professor, seiner Vermeidung einer Einberufung an die Front durch Mitwirken in pseudowissenschaftlichen Untersuchungen nationalsozialistischer Mediziner – und vor allem der Entwicklung und der Verbindung der drei Jugendfreunde über die Jahre.
Braun zeichnet ein enorm bildhaftes und buntes, aber auch mit nicht wenigen Klischees der 1950er Jahre behaftetes Panorama – eine sich langsam zusammenfügende Momentaufnahme der jungen Bundesrepublik unter Adenauer.
Man merkt, dass die Winterreise keineswegs Brauns erster literarischer Text ist. Die drei Hauptfiguren sind gut angelegt, jede von ihnen steht zugleich für eine unterschiedliche Herangehensweise an den Nationalsozialismus: Elisabeth heiratet einen SS-Offizier, August geht unrühmliche, aber doch seinen soldatischen Einsatz verhindernde Kompromisse ein, Heinrich lebt als kommunistischer Exilant im Ausland, in der Heimat nur knapp einer Verhaftung entgangen. Die Dreiecksbeziehung trägt dabei die karge Haupthandlung, die Reise Brenners zu den Stätten seiner Jugend. Immer wieder unterbrochen wird der Plot1 hingegen von zahlreich auftauchenden Nebenfiguren und Nebenschauplätzen, die – oft überzeichnet, oft stereotyp – das Buch zu einem Suchbild der frühen 1950er Jahre geraten lassen.
Man könnte die Winterreise als ein verbalisiertes Panorama mit vielen kleinen Szenen des Jahres 1953 lesen, fast als eines der etwa in der spätmittelalterlichen Buchmalerei beliebten wie verbreiteten Monatsbilder, die in vielen kleinen charakteristischen Szenen eine der Jahreszeiten oder auch nur einen Monat darstellten – also gewissermaßen grafische Kalenderblätter waren. Denkt man sich nun ein zyklisches Geschichtsbild, in dem man Epochen Jahreszeiten zuordnet, erinnert dieses Braun’sche Monatsbild hier fast an eine Übergangszeit, einen Monat zwischen Winter und Frühling: Es gibt noch Ruinen und Trümmer wie letzte kahle Bäume, und das Wirtschaftswunder deutet sich als gewaltiger Frühling bereits an. Nostalgisch? Geschichtsromantik? Klar. Und wie. Aber wer so etwas mag, wird Brauns Winterreise lieben.
Allerdings: Die Beschreibung des Buches als pure Nostalgie würde ihm definitiv nicht gerecht. Auch wenn der Autor es durchaus geschafft hat, einige vergessene Elemente dieser Jahre hervorzukramen, abzustauben und mit schrägen Figuren so zu besetzen, dass es Spaß macht. Das Soltauer Gasthaus ist noch das bodenständigst-authentischste Beispiel, dann die – damals von vielen Flüchtlingen und Vertriebenen bewohnten – Nissenhütten2 mit dem ebenso undurchsichtigen wie verschrobenen Schrottsammler Settebrini, der im Amazonas-Gebiet missionierende Geistliche, der harmlos-irre Unternehmer, der aus dem Mittelmeer einen Stausee machen will, bis hin zu dem Zirkus in Ulm. Dessen Direktor Manzoni ist ein Zwerg und reist in alter (Vorkriegs-)Manier nicht nur mit Menagerie3, sondern auch mit (semi-inszenierter) Monströsitätenschau, mit Schaubuden, Nebenprogramm und einer längst der realen Welt völlig entrückten, osteuropäischen Artistin. Deren kindliche Wehrlosigkeit erhöht wiederum den Kontrast zu Helga Reimers, deren Auftritt 1953 tatsächlich noch der einer geheimnisvoll-eleganten Dame ist, die spätabends eine Hotelbar aufsucht und ein semi-laszives Gespräch mit einem an der Bar lehnenden Desperado4 Brenner führt. Braun hat sein eigenes Geburtsjahr auch dort passend porträtiert, wo er die alltäglichen Umstände dieser Jahre beschreibt – von den Ruinen und Trümmern selbst noch in den Innenstädten, der Wochenschau im Aktualitätenkino des Bahnhofs in Hannover; dazwischen immer wieder der Dampf der veralteten Lokomotiven, Armeelaster und VWs, Scheinwerfer im Schneetreiben.
Die wichtigste Nebenfigur ist Kreß, ein berüchtigter, ehemaliger KZ-Arzt, der nach Kriegsende unter falschem Namen als scheinbar harmloser Augenarzt praktiziert. Heinrich, der als freier Journalist arbeitete, hatte ihn schon im Visier und eigentlich geplant, ihn auffliegen5 zu lassen. Nun sucht ihn Brenner auf, der unter Heinrichs Namen dessen Recherchen nachvollzieht. Es wird nicht vollständig klar, warum Brenner dies macht, es scheint, dass er sich eher der Existenz seiner selbst und derer, die eine Rolle in seinem Leben gespielt haben, vergewissern will. Jedenfalls beginnt Kreß, schnell wissend, dass er erkannt wurde und mit der Havanna-Zigarre gestikulierend, darzulegen, dass er im Krieg nichts Geringeres als den «neuen Menschen» erschaffen wollte. Mit der großen «Narbe, deren weißes, fädiges Bindegewebe die Hälfte der Stirn, dazu Ober- und Unterlid des linken Auges überzog», tritt Kreß vollends wie eine stereotyp-filmische Figur auf, fast wie der typische Bond-Bösewicht.
Braun liebt die Kontraste. Die Sättigung der Farben in diesem Buch ist hoch, die Kontraste ebenfalls. Es kann gar nicht langweilig werden, schon weil es so hübsch bunt überladen ist. Wäre das Buch wirklich ein Bild, hätte der Autor die Hauptfiguren und ihre wichtigsten Auftritte, die Rückblenden, Erinnerungen und vor allem Träume Brenners, in denen er auch mit dem toten Heinrich in nachträglichen Dialog tritt, definitiv in Komplementärkontrasten gemalt. Die Grundmotive scheinen hier wie die Grundfarben des Lebens – im Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Von Felix Köther
Meinrad Braun: Winterreise. Roman aus dem Jahre 1953. Axel Dielmann Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
1Plot, der, auch: das; -s, -s [engl. plot, auch: (Grund)position, eigtl.= Stück Land; H.u.]: (Literaturw.) Handlungsgerüst einer epischen od. dramatischen Dichtung, eines Films o. Ä.; Fabel: der P. des Romans, Dramas.
2Nis|sen|hüt|te, die; -, -n [engl. Nissen hut, nach dem engl. Offizier Nissen (gest. 1930)] (veraltend): (als Notquartier errichtete) halbrunde Baracke aus Wellblech: sie hausten in einer N.
3Me|na|ge|rie, die; -, -n [frz. ménagerie, eigtl.= Haus(tier)haltung] (veraltend): Tierschau; Tiergehege: der Zirkus zieht mit seiner M. umher.
4Des|pe|ra|do, der; -s, -s [engl. desperado (beeinflusst von: desperate = verzweifelt, verwegen) < span. desesperado = verzweifelt, aus: des- (< lat. dis-, dis-, Dis-) u. esperar = hoffen < lat. sperare] (bildungsspr.): 1. zu jeder Verzweiflungstat entschlossener politischer Abenteurer. 2. Bandit (bes. im Wilden Westen).
5auf|flie|gen <st.V.; ist>: 1. hochfliegen; emporfliegen: die Amsel flog erschreckt auf; Staubwolken, die aufflogen (aufwirbelten). 2. sich plötzlich u. schnell öffnen: das Fenster, das Gartentor flog auf. 3. (ugs.) ein jähes Ende nehmen: die Versammlung, das Unternehmen ist aufgeflogen; eine Konferenz a. lassen; der Rauschgiftschmuggel ist aufgeflogen (ist entdeckt worden u. hat damit ein Ende gefunden). 4. (veraltet) in die Luft gehen, explodieren.
Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11319&ausgabe=200711