Literatur
Erik Neutsch: Claus und Claudia
Fortsetzung aus Nr. 06, 07/2008
Warum, verstand er nicht, und vielleicht hätte er ihr antworten sollen, daß sie sich da in etwas verrenne. Er sehe es täglich, werde dauernd damit konfrontiert, während seiner Arbeit in der Unesco. Es gibt einen Unterschied, und zwar einen gewaltigen, im Zusammenleben der Menschen hier und anderswo. Der hänge ab von der jeweiligen Gesellschaftsordnung, in der sich die einen und die anderen befinden. In Afrika geht es noch immer um die nackte Existenz, ums Sattessen oder Verhungern. In Nikaragua darum, ob die Revolution siegt, ob es gelingt oder nicht, das Volk von den Fesseln der sozialen und nationalen Unterdrückung zu befreien.
Aber er unterließ es, angesichts ihres Zustandes. Er war schon froh, daß sie diesmal wieder lächelte.
Manches von dem, worüber sie klagte, kannte er bereits aus ihren Briefen, jedenfalls andeutungsweise.
«Hatte ich dir eigentlich schon geschrieben, wie Evi, eine meiner Kommilitoninnen, im Kreißsaal Prügel bezog?»
«Eine Ohrfeige», wiegelte er ab, «das ja.»
«Immerhin ... Von einer Hebamme, die nicht viel älter ist als sie. Evi ist zwanzig. Und lediglich deshalb, weil sie beim Aufziehen einer Spritze, aus Versehen oder vor Erregung, die Kanüle fallen ließ. Ich habe es zur Sprache gebracht. In unserer Seminargruppe, in der Parteiversammlung. Das ist doch wie in einer Nazischule, sagte ich, die Prügelstrafe, und weit entfernt von sozialistischen Verhaltensweisen. Nichts geschah, nichts. Eine Lappalie sei es ... Und weißt du, daß ich mich auch für Marion einsetzte, als gewiß war, daß sie schwanger ist? Damit sie, wozu das Gesetz jede Studieneinrichtung verpflichtet, einen Fördervertrag erhält. Ich tat es, obwohl ich bis heute selber keinen besitze. Obwohl auch ich alleinstehend bin und Mutter ... Die Baumholder erklärte, der Abschluß von Förderverträgen mit Studentinnen sei eine Kann-Bestimmung, liege allein im Ermessen der jeweiligen Leitung. Doch das ist eine Lüge. Und was überhaupt gibt es denn für Grunde, einer Mutter beim Studium nicht zu helfen!»
Er schwieg auch dazu. Er kannte sich in diesen Angelegenheiten nicht aus. Nach einer Weile jedoch, nachdem er sich noch mehrere ähnliche Vorfälle hatte schildern lassen müssen, kam er darauf zurück und sagte: «Menschenskind, Claudia. Irgend jemand aber muß doch vorhanden sein, der dir zuhört. Die Parteileitung der Universität zum Beispiel.»
Sie lachte erneut. Doch es klang anders als zuvor. Für Claus hatte ihr Lachen diesmal einen hysterischen Unterton.
«Du glaubst mir nicht. Ich fühle es. Ach, Vati, Vati ... Ich war damit beim Parteisekretär des Medizinischen Bereichs. Er nahm es zur Kenntnis, mit gelangweilter Miene. Das ist alles. Und hintenherum, von einer Dozentin, ebenfalls Genossin; die inzwischen kündigte, erfuhr ich, wie er anschließend über mich urteilte. Er hält mich für spitzfindig, aufsässig, gar hysterisch. Die Kinder von Prominenten – womit offensichtlich auch du gemeint bist –, diese verwöhnten Dinger, müßten während des Studiums besonders hart angepackt werden.»
Claus Salzbach erschrak. Wenn das stimmte, waren es dann nicht dieselben Worte, die soeben auch er in seinen Gedanken benutzt hatte? Hart machen und Lappalien, verwöhnt, hysterisch ...
«Ja, und seitdem», fuhr sie fort, «seit ich nicht mucksmäuschenstill bin, sondern kritisch meine Meinung sage, den Mund nicht halte, wenn mir etwas nicht paßt, nicht den Duckmäuser spiele, den Heuchler, wozu ihr beide mich, du und Mutti, stets ermutigt habt – seitdem, spätestens seitdem behandeln sie mich wie einen Feind. Ich muß Spießruten laufen.»
Mehrmals versuchte er, sie von ihrem Thema abzulenken. Doch es gelang ihm nicht. Claudia war darin so sehr verstrickt, daß sie offenbar nichts anderes mehr denken konnte, es alles andere in ihr überwucherte.
Darüber berichtete er auch dem Arzt.
«Sie hat das Vertrauen verloren», sagte er. «Das Vertrauen zu den Menschen, mit denen sie zu tun hat, selbst zur Partei, deren Mitglied sie gerade wurde, und vielleicht schlimmer noch: zu unserer Gesellschaft insgesamt.»
Noch schwebte ihm das Bild vor Augen, das sich ihm geboten hatte, als sie voneinander Abschied nahmen. Sie umklammerte seinen Hals. Ihr Körper bebte. Und sie weinte und bettelte: «Komm bald wieder, Vati, komm bald wieder, laß mich nicht allein.»
Obwohl es nur hingehaucht war, in ihm hallte es nach wie ein Schrei.
[…]
ver|ren|nen, sich <unr. V.; hat> [mhd. verrennen]: a) in seinen Gedanken, Äußerungen, Handlungen in eine falsche Richtung geraten: sich immer mehr v.; ein völlig verrannter Mensch; b) an etw. hartnäckig festhalten, von etw. nicht mehr loskommen: sich in eine Idee, einen Gedanken, ein Problem v.
kon|fron|tie|ren <sw. V.; hat> [mlat. confrontare = (Stirn gegen Stirn) gegenüberstellen, zu lat. frons (Gen.: frontis) = Stirn]: a) jmdn. jmdm. gegenüberstellen, bes. um etw. aufzuklären: der Angeklagte wird [mit] der Zeugin konfrontiert; er sah sich plötzlich [mit] einem seiner politischen Gegner konfrontiert (begegnete ihm unversehens); b) in eine Situation bringen, die zur Auseinandersetzung mit etw. [Unangenehmem] zwingt: jmdn. [mit] einem Problem, [mit] der Realität k.; c) als Kontrast, zum Vergleich einer anderen Sache gegenüberstellen: auf den Fotos der Ausstellung werden Vergangenheit und Zukunft [miteinander] konfrontiert.
ab|wie|geln <sw. V.; hat>: 1. (seltener) jmdn. (meist eine aufgebrachte Menschenmenge) beschwichtigen: er versuchte, die erboste Menge abzuwiegeln. 2. (oft abwertend) jmds. (berechtigte) Erregung durch Herunterspielen, Verharmlosung ihrer Ursachen dämpfen: in der Diskussion versuchte er immer wieder abzuwiegeln.
kün|di|gen <sw. V.; hat> [für älter: aufkündigen = die Auflösung eines Vertrages kundtun; mhd. kündigen = kundtun]: a) (eine vertragliche Vereinbarung in Bezug auf etw.) zu einem bestimmten Termin für beendet erklären: eine Hypothek, einen Kredit, Gelder bei der Bank, einen [Miet]vertrag, jmdm. die Wohnung [zum Quartalsende] k.; die Tarifverträge sind von den Gewerkschaften gekündigt worden; die gekündigten Verträge; Ü jmdm. die Freundschaft, den Gehorsam k. (aufsagen); b) jmds. Mietverhältnis zu einem bestimmten Termin für beendet erklären: meine Wirtin hat mir zum 30. Juni gekündigt; c) das Arbeits-, Dienstverhältnis eines Mitarbeiters zu einem bestimmten Termin für beendet erklären: ihrer Mutter war gekündigt worden; er ist [fristlos] gekündigt worden; d) sein Arbeits-, Dienstverhältnis zu einem bestimmten Zeitpunkt für beendet erklären, lösen: ich habe [schriftlich] bei der Firma gekündigt; sie will zum 1. April k.
spitz|fin|dig <Adj.> [viell. zu spitz in der veralteten Bed. «überklug, scharfsinnig» u. zu mhd. vündec, findig] (abwertend): in ärgerlicher Weise kleinlich, rabulistisch od. sophistisch in der Auslegung, Begründung o. Ä. von etw.: eine -e Unterscheidung; jetzt wirst du [aber ein bisschen sehr] s.; s. argumentieren.
Aus: Erik Neutsch: Claus und Claudia. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Leipzig 1989. S. 5–13.