Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №8/2008

Sonderthema

Der Einzig Wahre

Karl Kraus: Ironischer Meister, Idealist, Medienkritiker und einsamer Monomane

«Als die Zeit Hand an sich legte, war er diese Hand.»

Was verrät der bewundernde Satz von Bertolt Brecht, wenn nicht, wie alt Karl Kraus geworden ist. Es gibt «die Hand» nicht, es gibt «die Zeit» nicht und schon gar nicht die Illusion, in einem einzelnen Werk werde die Gegenwart enthüllt und ihrer Nichtigkeit vergewissert. Die Zeit ist nicht blamierbar, und wenn, dann nicht durch Kritik, sondern durch Misserfolg. Diese Zeit hat keinen Ruf mehr zu verlieren. Es ist eine ironische Zeit, die das uneigentliche Sprechen liebt. Die Pointe besitzt einen höheren Marktwert als die Erkenntnis. Karl Kraus war ein ironischer Meister, sein Werk ist pointendicht wie kaum ein zweites in deutscher Sprache. Mit einem Unterschied: Es war ihm ernst. Er maß seine Zeit am klassischen Ideal des Humanen, und seine Ironie war die Sprechform der Enttäuschung, der Klage wie der Anklage.

Nichts ist altmodischer in diesem Werk als die Empathie, die Teilhabe an den Opfern. Kraus ist vergangen als der Mann, dem seine Zeit nicht gleichgültig war, und vergangen ist die Konsequenz, die er daraus zog. Sie bringt den Begriff der Kritik auf eine Höhe, die er weder vorher noch nachher hatte. Er ist der Publizist, der aus Widerspruch, Abwehr, Hass sogar, produktiv wird, und der ex negativo dauernd von einer Welt fabuliert, in der all das nicht wäre.

Ein Idealist also.

Sein Thema ist die Moral, aber nicht die öffentliche, die Schein-Moral, die er in großen Essays wie Sittlichkeit und Kriminalität ihrer moralischen Minderwertigkeit überführte. Es ist die Moral, die sich nicht scheut zu wissen, was sein soll. Für diese Moral agiert Karl Kraus als ein Fundamentalist, als ein Querulant und Eiferer, und er fühlt sich legitimiert, denn in der Moral gibt es nun einmal keine halben Sachen. Deshalb schrieb Karl Kraus seine Zeitschrift «Die Fackel» 36 Jahre lang fast allein und rückte keine Anzeigen ein, um nicht vom Anstößigen zu profitieren, und deshalb wäre ihm weniges ehrenrühriger erschienen, als gut 67 Jahre nach seinem Tod in einer Serie über «große Journalisten» geehrt zu werden. Nichts war ihm verächtlicher als «Journalisten», nichts unerträglicher als die Verflechtung von Meinung und persönlichem Vorteil, nichts schaler als eine «Pressefreiheit» für Meinungen, die keiner Freiheit bedürfen. Anders gesagt: Er trat mit Konsequenz und Rigorosität gegen Verhältnisse auf, die heute nicht einmal mehr beklagt werden.

Ironischerweise baute Karl Kraus, was das eigene Schaffen anging, auf die rehabilitierende Kraft der Nachwelt. Doch die findet ihn in seiner Absolutheit oft grotesk, verachtet den Kritiker mehr als das Kritisierte, reibt sich an seiner teuer erkauften sittlichen Überlegenheit, seiner Kompromisslosigkeit. Oder aber sie verehrt ihn als letzten Aufrechten, als Sprach-Gewissen, als Ideal eines publizistischen Zeitgenossen.

Diese Polarität hat ihn überlebt, und gerade unter Journalisten trifft der Name Karl Kraus immer noch auf Animosität. Das ist sein Triumph: Sie mögen ihr Bild in seinem Spiegel heute weniger denn je, und das ist kein Wunder, erwiderte er doch ehemals auf den Einwand, er sei ein Nestbeschmutzer: «Ich bin der Vogel, den sein Nest beschmutzt.»

Doch niemand kann heute so leben und schreiben, wie es Kraus postulierte. Mit dem Ende des Idealismus, mit der Lohnabhängigkeit des Journalisten im Dienst von Konzernen ist auch die Lust an der Moral vergangen. Heute existiert weder echte Unabhängigkeit vom Anzeigenteil, noch von den Aktivitäten von Konzernen, die sich «wertkonservativ» nennen, aber in «Wertschöpfungsketten» denken. Andere Dinge sind vorrangig: Erfolg, Image, Arbeitsplatz. Schon Karl Kraus hat sich in seiner Zeit isoliert. Er wurde zum einsamen, nachtaktiven Monomanen, der legendäre Lesungen vor einem fanatisierten Publikum abhielt, der eine eigene Anhängerschaft besaß. Aber er lebte fast asozial. Seine wenigen Liebesgeschichten offenbarten – wie übrigens auch seine Lyrik – eine beinahe rührend zärtliche Seele, und seine Kampagnen waren letztlich kaum je von Erfolg gekrönt.

Im Scheitern erfuhr er das Schicksal des Recht-Habers.

Zu den unvergänglichen Diagnosen, die Karl Kraus seiner Zeit und allen kommenden stellte, gehört der Nachweis des kollektiven Bewusstseins in der Sprache. Kaum je hat ein Publizist so feinhörig, so sicher und so leidenschaftlich auf die Verwerfungen des Denkens, Fühlens und Urteilens in der Sprache reagiert wie er, und nur weil der Journalismus eine Versammlung des kollektiven Sprechens enthält, kann er überhaupt zum Thema werden. In diesem Sinn ist jede Meldung politisch und hat die Kritik des Journalismus nur noch lose mit den Anlässen zu tun.

Zugleich ist die Kritik am Journalismus fast völlig verschwunden. Das Leitmedium Fernsehen besitzt kein einziges wahrhaft medienkritisches Magazin. Die Zeit ist vorbei. Medienkritik ist ein totes Genre wie das Heldenepos oder das Libretto, und nach Medienerziehung und Medienkompetenz wird floskelhaft verlangt, wenn man gerade wieder einmal Gewaltvideos im Besitz von Amokläufern gefunden hat. Jene analytische Intelligenz, die Karl Kraus im Umgang mit Medien einforderte und die den Fokus auf die Herstellung von Meinung richtete, wird befremdlich gefunden, solange alles Mediale einer sublimen Unterhaltungsfunktion unterstellt ist.

Das publizistische Hauptwerk von Karl Kraus, «Die Fackel», ist heute in ihren Gegenständen oft verwittert. In ihrer sprachlichen Form, ihrer Radikalität ist sie das größte Monument polemischer Zeitbegleitung in deutscher Sprache und versammelt darüber hinaus einige der Kronjuwelen deutscher Essayistik zu Themen der Moral und der Sprache, der Justiz und der Literaturgeschichte. In ihr zeichnet sich ab, was später «Kulturindustrie» genannt und als Triumph des Verkäuflichen begrüßt werden sollte.

Sein dramatisches Hauptwerk, Die letzten Tage der Menschheit, eine gigantische Collage aus dem Sprach- und Gesinnungsmüll des Ersten Weltkriegs und den Porträts seiner kleinen und großen Protagonisten, wurde Allegorie und Anti-Kriegsdrama zugleich. Es dokumentiert die entsetzliche Zerstörungskraft von Meinungen, die sich auch in heutigen Zeitungen als unsterblich erwiesen haben. Kraus war der letzte Radikale des Humanismus, den die Tagespublizistik hervorgebracht und zugelassen hat.

In seinem Scheitern scheiterte mehr als er selbst.

Von Roger Willemsen
SZ-Serie: Aufmacher (XIV)

Der Text ist entnommen aus: http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/507/1506/