Das liest man in Deutschland
Und plötzlich ist alles anders
Sabine Grubers Parallelroman «Über Nacht»
Für Irma beginnt das Leben neu in dieser Nacht, als sie den Anruf – den lang ersehnten – bekommt: Sie kann sofort ins Krankenhaus eintreten, es gibt eine Niere für sie. Irma erledigt das Dringendste. Davide muss herkommen, um den kleinen Florian zu übernehmen, denn Irma ist alleinerziehend. Eigentlich wollte sie ihren Bruder Richard anfragen, doch der ist, wie so oft, unterwegs, und so springt Davide, sein Freund, ein. Wenn bis jetzt das Leben der Wiener Kulturjournalistin, die an einem Buch über Menschen, die aussterbende Berufe ausüben, arbeitet, vor allem bestimmt war durch die Niere, die nicht mehr funktionierte, wird für Irma, nachdem sie sich von dem Eingriff erholt hat, alles neu. Sie kann wieder so viel trinken, wie sie will, und muss sich nicht länger mit dem halben Liter pro Tag begnügen, sie kann essen, auf was sie Lust hat, sie kann wegfahren, ohne immer an die Dialyse zu denken. Irma wächst nur langsam in dieses neue Leben hinein. Denn da sind auch immer die Zweifel, warum sie nun früher drangekommen ist als ihre Schicksalsgenossin Marianne, die sich zurückgezogen hat, seit Irma nicht mehr regelmäßig ins Krankenhaus fahren muss, und nur noch freundliche, nichtssagende Nachrichten schickt. Da sind aber auch die Fragen, die Irma zunehmend beschäftigen: Wer war es, der oder die (dass es eine Frau gewesen sein könnte, überlegt Irma erst viel später) das Leben lassen musste, damit sie wieder leben kann? Obschon sich Irma immer vehement1 gegen diese Position, wie sie ihre Cousine Greta vertritt, gewehrt hat, und obschon sie absolut überzeugt ist, dass sie richtig entschieden hat, verfolgen sie doch diese Ungewissheiten, denn nur zu gut weiß sie, was nötig ist, damit eine Nierentransplantation vorgenommen werden kann. Noch eine andere Frage beschäftigt sie zunehmend: Wo mag der Vater ihres Kindes sein? Rino hatte Irma in Italien kennengelernt, es war nur eine kurze Begegnung, sie hat ihn verlassen, noch bevor sie ihm hätte erzählen wollen, dass sie von ihm schwanger ist. Sie weiß auch, dass er Vater von mehreren Kindern ist. Obwohl sie nie mehr mit ihm zusammen sein möchte, ist da eine ungeklärte Sache. Denn Rino soll erfahren, dass er in Wien einen weiteren Sohn hat, und Florian soll seinerseits wissen, wer sein Vater ist. Begleitet von Davide fliegt Irma nach Rom, um Rino zu suchen. Sie kehrt zurück, ohne dass sie ihn gefunden hätte. Trotzdem konnte sie mit der Reise etwas abschließen, hat sich ein weiteres Teil ihres Lebens beruhigt.
Der überaus attraktive charmante Rino ist sozusagen die Verbindung zwischen den beiden Frauenfiguren, deren Geschichten diesen Roman ausmachen. Mira, die in Rom lebende Altenpflegerin, lernt Rino kennen, als er seinen Onkel im Altenheim, in dem Mira arbeitet, besucht. Rino, der wohl bei jeder Frau probieren muss, will auch Mira erobern. Und dies gelingt ihm anfänglich nicht schlecht. Denn Mira befindet sich in einer Sackgasse. Immer mehr entfernt sich ihr Mann von ihr, seit längerer Zeit schlafen sie nicht mehr miteinander, er scheint keine Lust mehr zu haben. Mira vermutet eine andere Frau, doch das will irgendwie nicht aufgehen. Und nach und nach erhärtet sich ihre Vermutung, Vittorio könnte homosexuell sein. Es trifft sie wie ein Schlag, erschüttert sie in ihrem Bewusstsein als Frau. Zum Glück jedoch erkennt sie sehr rasch, dass Rino nicht der richtige Mann ist in dieser Situation. Doch wie es für sie weitergehen könnte, weiß sie nicht. Was genau passiert, als sie von ihm wegeilt, nachdem sie zusammen geschlafen haben, und sie zu ihrer Mutter fahren will, bleibt offen, nur so viel: «Jemand hupte. Ich erschrak, war zu weit links. Riss am Lenkrad. Ein Quietschen, ein Knall». Mit diesen Worten endet Miras Geschichte.
Irmas Zukunft sieht hoffnungsvoller aus. Bei einem der Interviews, die sie für ihre Untersuchung führt, lernt sie Friedrich kennen, der sich unsterblich2 in sie verliebt. Sie fühlt sich zwar ein bisschen bedrängt, vielleicht ist ihr auch einfach alles aufs Mal zu viel, trotzdem lässt sie sich ein und eine Liebe könnte beginnen. Es bleibt offen. Denn Irmas Geschichte endet damit, dass sie einmal mehr danach fragt, wer die Spenderin sein könnte – mittlerweile ist sie überzeugt, dass es eine Frau ist. Sie muss sie sich vorstellen können, damit sie mit diesem Fremdkörper im eigenen Körper leben kann. Und sie beschließt, sich ihre Tote zu erfinden. «So könnte es gehen, dachte Irma. Ich werde mir meine Tote erfinden. Ich muss ihr das Leben zurückgeben. Die Vögel im Park waren still, aber Irma hörte sie deutlich. Auch das Quietschen eines bremsenden Autos, den Aufprall. Mira, dachte Irma; sie tastete nach ihrem Transplantat. Ich nenne sie Mira.»
In diesem schönen Roman, der in einer leisen eindringlichen Sprache geschrieben ist, zeichnet Sabine Gruber diese zwei Leben auf, die beide auf ihre Art überzeugen. Es gelingt ihr, das sehr unterschiedliche Umfeld und die einzigartige Situation der beiden Frauen zu erzählen, sodass die Protagonistinnen eine unglaubliche Vitalität und Kraft ausstrahlen. Irma und Mira – die Verwandtschaft zeigt sich im Namen – sind ausgesprochen starke Frauen, deren Geschichten der Leser mit wachsender Spannung verfolgt. Nicht ganz so überzeugend ist die Verbindung der beiden «Lebensgeschichten». Klar gibt es die Verbindungen: Rino, der beide Frauen um den Finger wickeln konnte, die Homosexualität eines nahe stehenden Menschen – bei Irma der Bruder, bei Mira der Ehemann –, die Suche nach der Wahrheit – bei Mira in Bezug auf ihren Ehemann, bei Irma das Forschen nach dem Menschen, dessen Niere nun in ihrem Körper funktioniert –, die Städte Rom und Wien, die für beide Frauen von Bedeutung sind. Trotzdem bleibt die Frage bis zum Schluss offen, was Irma und Mira eigentlich verbindet – dass es die Niere ist, erscheint zu platt. Und vielleicht ist diese Frage auch einfach falsch gestellt, genügt es, die intensiven Geschichten zu verfolgen, in sie einzutauchen – und das lohnt sich unbedingt.
Von Liliane Studer
Sabine Gruber: Über Nacht. Verlag C. H. Beck, München 2007.
1ve|he|ment <Adj.> [zu Vehemenz od. (wohl unter Einfluss von frz. véhément) < lat. vehemens (Gen.: vehementis), wohl urspr. = einherfahrend, auffahrend u. zu: vehere, Vehikel] (bildungsspr.): ungestüm, heftig: -e Windstöße; ein -er Protest; der Kampf wurde v. geführt; etw. v. verteidigen.
2un|sterb|lich <Adj.> [mhd. unsterbelich]: 1. nicht sterblich: die Götter sind u. 2. unvergesslich, unvergänglich: -e Werke der Literatur; damit hat sie sich u. gemacht. 3. <intensivierend bei Adj. u. Verben> (ugs.) über die Maßen, außerordentlich: sich u. blamieren.
Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11264&ausgabe=200711