Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №10/2008

Sonderthema

Die geistreichste Frau des Universums

An einem Septemberabend des Jahres 1826 ließ sich Franz Grillparzer, k. u. k. Hofkonzipist und Dichter aus Wien, von seinem neuen Berliner Bekannten, dem pensionierten Legationsrat Varnhagen von Ense, doch noch zu einem Besuch in dessen Wohnung bewegen. Grillparzer, ohnehin ein verdrießlicher, zum Nörgeln aufgelegter Mann, war todmüde und durch diese ganze nicht geheure Stadt Berlin womöglich noch missvergnügter als sonst gestimmt. Außerdem hatte er sich wenige Tage zuvor beim Rasieren den rechten Zeigefinger gespalten, ein Malheur, das seine Neugier auf Damenbekanntschaften weiterhin dämpfte. Es fiel ihm daher ein Stein vom Herzen, als er, angekommen in Varnhagens Haus, erfuhr, dass die Frau Legationsrätin ausgegangen sei.

«Als wir aber die Treppe hinuntergingen», so Grillparzer Jahrzehnte später in seiner Autobiographie, «kam uns die Frau entgegen, und ich fügte mich in mein Schicksal. Nun fing aber die alternde, vielleicht nie hübsche, von Krankheit zusammengekrümmte, etwas einer Fee, um nicht zu sagen einer Hexe ähnliche Frau zu sprechen an, und ich war bezaubert. Meine Müdigkeit verflog oder machte vielmehr einer Trunkenheit Platz. Sie sprach bis gegen Mitternacht, und ich weiß nicht mehr, haben sie mich fortgetrieben, oder ging ich von selbst fort. Ich habe nie in meinem Leben interessanter und besser reden gehört.» Einer Bekannten soll Grillparzer gestanden haben, er sei zuerst «vor dem Unlieblichen ihrer (Rahels) Erscheinung» zurückgeschreckt, dann aber, nach dem Abschied von ihr, habe er laut ausgerufen: «Auf der ganzen Welt hätte mich nur eine Frau glücklich machen können, und das ist Rahel.»

Die Stimme des sonst eher im Räsonieren geübten Wiener Dichters ist nur eine von vielen. Sie alle vereinigen sich zu einem Chor, der die Ausstrahlungskraft der alternden Frau vielfältig bezeugt. Rahel Varnhagen, geborene Levin, stand damals bereits in ihrem sechsten Lebensjahrzehnt und sah keineswegs so aus, wie man sich die Herrin eines großstädtischen Salons vorstellte. Sie war, der Schauspielerin Karoline Bauer zufolge, «klein, ziemlich stark, von Taille keine Spur». Ein graues Kleid habe «wie ein Sack» um ihre Gestalt gehangen, «nur von einer Gürtelschnur lose gehalten, deren Enden nachschleiften». «Einige wilde kleine Locken schmückten ihre schöne Stirn, und freundlich blickende tiefblaue Augen, von langen Wimpern beschattet, milderten die scharfen jüdischen Züge, die ganze Physiognomie atmete Wohlwollen und hohe Intelligenz.»

Sehr unterschiedliche, ja gegensätzliche Persönlichkeiten des deutschen europäischen Geisteslebens gingen bei ihr ein und aus, wurden bestärkt, ermutigt oder auch zurechtgewiesen, und sie alle erlagen dem Charisma der äußerlich so unscheinbaren Frau. Es waren Menschen aller Altersgruppen und Stände darunter: der aristokratische Parkschöpfer Fürst Pückler, der jüdische Rechtsgelehrte Eduard Gans, der junge Historiker Leopold Ranke, die temperamentvolle Bettine von Arnim, der ergraute Weltwanderer Alexander von Humboldt.

Trotz aller Freimütigkeit, die hier herrschte, war es Rahel ein Greuel, wenn ihre Gäste die gerade nicht Anwesenden, etwa den allzu gewandt parlierenden Humboldt, mit wohlfeilem Gewitzel bedachten. Sie bekannte sich durchaus zum romantischen Geniekult und hielt es für unanständig, bedeutenden Zeitgenossen irgendwelche Schwächen anzukreiden, «die man jedem anderen zu verzeihen bereit sei, nur gerade einem großen Manne nicht, dem doch allein sie zu verzeihen wären».

Maurerstraße, hier hatte Rahel Varnhagen von Ense ihren Salon

Das hieß nun aber nicht, dass sie begabte und hoffnungsvolle Besucher mit ihrer Kritik verschonte. Im Gegenteil: Den Studiosus Heinrich Heine, der wie sie dem «tausendjährigen Schmerz» der jüdischen Vorfahren durch die christliche Taufe zu entkommen suchte, nahm Rahel in besonders strenge Zucht, als wäre er ihr eigener Sohn. «Heine muss wesentlich werden, und sollte er Prügel haben.» Der Dichter hat seiner «Patronin» die mütterliche Zuneigung und liebevolle Unerbittlichkeit nie vergessen. Er designierte sie zur «geistreichsten Frau des Universums», und noch im Pariser Exil blieb Rahels Berliner Salon für ihn schlechthin «das Vaterland».

Es war ihr zweiter Salon, den sie in der preußischen Metropole betrieb; den ersten hatte sie schon dreißig Jahre zuvor aufgetan. Dass sie je ein «Menschenmagnet» und ihr Domizil ein Treffpunkt der gebildeten Welt sein würde, war Rahel nicht an der Wiege gesungen worden. Sie kam am 19. Mai 1771 als Tochter eines jüdischen Bankiers in Berlin zur Welt und hat unter dieser Herkunft ein Leben lang gelitten. Sie war eine Frau und eine Jüdin, insofern doppelt unterprivilegiert, sodass sie auch später das Stigma der «Falschgeborenen» nie loswurde. Nicht einmal in die deutsche Sprache, der sie später ganz neue und bisher unerhörte Schwingungen abgewann, ist diese große Briefschreiberin hineingeboren worden, denn in ihrem Elternhaus hörte sie nur ein archaisches Judendeutsch.

Sie litt unter ihrer äußeren Erscheinung, die sie als wenig ansprechend empfand, und unter dem Hamlet-Naturell, für das sie den Vater, einen autoritären Mann, verantwortlich machte. Er habe ihr «jedes Talent zur Tat» zerbrochen, ohne doch ihren «Charakter schwächen zu können». Die «Falschgeborene» stand von Anfang an zwischen zwei Fronten: Während die nichtjüdische Umwelt sie als einen Menschen zweiter oder gar dritter Klasse behandelte, wurde sie ebenso von den Patriarchen des orthodoxen Judentums gedemütigt, die jeden Versuch einer Annäherung an den Zeitgeist als Abfall vom alten Glauben brandmarkten. Nur in der sich mächtig entfaltenden deutschen Literatur und Philosophie fand sie das Reich, in dem sie zu Hause sein wollte: Fichtes Schriften, Goethes Gedichte, vor allem Egmont, Iphigenie, Tasso. Fichtes Botschaft von der Befreiung des «Ich» nahm das Mädchen wie einen tröstlichen Ruf auf, der ihm ganz persönlich galt: «Du bist nicht allein!»

Rahels große Stunde schlug, als 1790 der Vater starb und die Familie in die Jägerstraße umzog. Dort etablierte sie in einem Dachstübchen ihren ersten, an äußerem Aufwand sehr bescheidenen «Salon», wo keineswegs allabendlich Tee gereicht wurde. Der einzige Luxus waren die Gespräche, zu denen sich hier Angehörige der verschiedenen Stände zusammenfanden, die sonst kaum einander begegneten. Rahels jüdische Altersgefährten und Freunde waren darunter, die Söhne und Töchter Moses Mendelssohns, der spätere philanthropische Arzt David Veit sowie Henriette Herz, die andere Begründerin der Berliner Salonkultur. In dem kargen Mansardenzimmer kreuzten sich das Erbe der Berliner Aufklärung und das neue Lebensgefühl der Romantik. Dass die beiden Welten einander nicht zwangsläufig ausschließen mussten, lebte Rahel Levin auf exemplarische Weise vor.

Es kamen die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt, die von ihrem «Schloss Langeweil» in Tegel aus nur zu gern den anregenden Kreis aufsuchten. Es kamen der frühromantische Schriftsteller Friedrich Schlegel und der sporenklirrende Dichter Fouqué, der Kriegsrat Friedrich Gentz, der so nonchalant zu disputieren wusste, und der Theologe Friedrich Schleiermacher, der die Religion den «Gebildeten unter ihren Verächtern» annehmbar zu machen versuchte. Es kam der Hofhistoriograph Johannes von Müller, dessen quäkendes Falsett mit dem soignierten Predigtton Schleiermachers ergötzlich kontrastierte.

Es kam der bereits berühmte Jean Paul, der aus seinen Romanen las und in Rahel die einzige Frau getroffen haben will, «bei der ich echten Humor gefunden». Es kam sogar ein Hohenzollernspross und Neffe des Alten Fritz: Prinz Louis Ferdinand von Preußen, General, Komponist, Pianist und unglücklicher Mensch, den es aus den Wirrsalen seines Lebens immer wieder zu Rahel trieb, von der er dann, wie alle anderen Gäste auch, «Dachstubenwahrheiten» zu hören bekam.

Alle diese Freunde hat die kleine Jüdin gebildet, erzogen und zur Einkehr geführt, aber sich selbst vermochte sie oft nicht zu helfen. Dass sie «keinen hübschen Zug im Gesichte» trug und bereit war, sich die «innere Grazie» abzusprechen, hat Rahel als ein lähmendes Trauma erlebt. Ihre intimen Beziehungen zu Männern waren kaum geeignet, die Selbstzweifel zu beschwichtigen. Aber auch da besaß sie den Mut, Verhältnisse zu beenden, die der Entfaltung ihrer Persönlichkeit nur hinderlich sein konnten.

Es waren gescheiterte Versuche, sich als Frau bestätigt zu sehen und einer Situation zu entkommen, die ihr als Jüdin perspektivlos zu sein schien. Gleichwohl hat Rahel, beharrlich und sensibel, auf die Menschen in ihrem Kreis gewirkt und sie zur Erkenntnis ihrer selbst gebracht. In dem schlichten Salon beherbergte sie Poeten, Künstler und Diplomaten, die über ein neues Menschenbild und eine neue Ästhetik, über Goethe und Adam Smith, über die Entdeckung der indischen Kultur und des deutschen Mittelalters, über Aufklärung und Romantik debattierten, nur nicht über im eigentlichen Sinne politische Fragen, da dies die Einheit der recht heterogen zusammengesetzten Gesellschaft zerstört hätte. Indessen sollten sich die Zeitläufte bald auf geräuschvolle Weise geltend machen.

Denn während in Rahels Dachstübchen geistige Grenzüberschreitungen vollzogen wurden, überschritten die Armeen Napoleons die Alpen und den Rhein, sie marschierten durch Italien, Süddeutschland und Böhmen. Im Herbst des Jahres 1806 waren sie schon bedenklich nahe. Noch hatte Rahel nicht die Hiobsbotschaft vom Tod des Prinzen Louis Ferdinand im Gefecht bei Saalfeld verwunden, als sie am 24. Oktober die ersten französischen Chasseurs in die Jägerstraße sprengen sah. Das alte Preußen ging unter – und mit ihm Rahel Levins erster Salon, dessen Gäste in alle Winde zerstoben.

Die Frau, die sich bereits der Vierzig näherte, erlebte eine schwere, auch sozial unsichere Zeit. Mehr denn je war sie jetzt auf das Medium des Briefs angewiesen, um die in ganz Europa verstreuten Freunde zu erreichen. Die Kunst des Briefschreibens entwickelte und steigerte sie zu ausdrucksvoller Prosa, die alle Gefühlslagen von der Heiterkeit bis zur Trauer zu artikulieren vermochte. «Mein Leben soll zu Briefen werden!» war der Grundakkord der bese­ligt, erregt oder stammelnd vorgetragenen Selbstbekenntnisse, die nicht ihresgleichen haben bei den zahllosen Brief- und Tagebuchschreibern dieser mitteilungsfreudigen Epoche. Rahels Sprache sprengt alle Regeln, jede Grammatik und möchte durch Unterstreichungen und Hervorhebungen die verborgensten seelischen Nuancen gleichsam hörbar werden lassen.

Trotzdem war ihre Briefkunst nicht aufs Monologisieren, sondern aufs Gespräch mit dem Partner angelegt, den sie mit ihrem Wort bilden und formen wollte. «Gespräche zu schreiben, wie sie lebendig im Menschen vorgehn», war ihre Absicht. Bei einem noch so flüchtig hingeworfenen Billett versuchte sie sich die Physiognomie, den Habitus, das Stimmtimbre des Adressaten vorzustellen. Sie strebte danach, sich dem Empfänger bis in die verborgensten Nischen ihres Wesens verständlich zu machen, aber auch ihn aus seinen innersten Bastionen zu locken, zum Einbekennen seiner Geheimnisse und zur Beichte zu verführen. Schon im Berliner Dachstübchen ist sie vom Willen zur radikalen Kommunikation besessen gewesen, für die nun der Brief eine Fortsetzung mit anderen Mitteln wurde.

In dem um vierzehn Jahre jüngeren Karl August Varnhagen von Ense lernte sie damals einen noch ganz unfertigen, aber hoffnungsvollen und in ihrem Sinne bildsamen Menschen kennen. Mit ihm saß Rahel unter den Zuhörern, vor denen Fichte seine Reden an die deutsche Nation hielt. Die Bemühungen der preußischen Reformpolitiker begleitete sie mit Sympathie, namentlich das Zustandekommen des «Edikts über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden» im Jahr 1812. Seine Zurücknahme durch die Obrigkeit wenige Jahre später fügte den Erfahrungen Rahels eine neue und eine der schmerzlichsten hinzu.

Moses Mendelssohn

Vorläufig aber reihte sie sich mit dem ganzen Enthusiasmus, dessen sie fähig war, in den allgemeinen Aufbruch gegen Napoleon ein. In Prag organisierte sie, gleich nach dem Beginn der Befreiungskriege, ein karitatives Hilfswerk, das verwundete Preußen, Österreicher und Russen ebenso betreute wie internierte Franzosen. «Also doch einmal eine Fürstin!», schrieb sie mit seltener Genugtuung.

Als Rahel sich am 27. September 1814 in Berlin evangelisch taufen ließ, die christlichen Vornamen Antonie Friederike annahm und mit Varnhagen vor den Traualtar trat, stürzte sie jedoch dieser Schritt nur um so tiefer in die schon immer schwelende Identitätskrise. Frau von Varnhagen, wie sie nun hieß, blieb bis zuletzt die «Falschgeborene». Beim Wiener Kongress, auf dem ihr Mann als Zuarbeiter des Fürsten Hardenberg eine Nebenrolle spielte, konnte sie das Treiben der Staatsmänner aus unmittelbarer Nähe beobachten, auch ihres alten Freundes Gentz, der es zum engsten Mitarbeiter Metternichs gebracht hatte. Das glatte Kongress-Parkett war nicht ihre Domäne. «Pfui Christen!», rief sie aus, fühlte sich durch die Taufe weder verändert noch erneuert und unterschrieb ihre Briefe weiterhin mit «Rahel».

Varnhagens diplomatische Karriere im preußischen Staatsdienst blieb ein kurzes Intermezzo. Als Gesandter Berlins in Karlsruhe nahm er allzu offen für die liberalen Kräfte Partei und suchte sogar den Großherzog von Baden zur Entlassung seiner Minister zu bewegen. Er fiel als eines der ersten Opfer der Karlsbader Beschlüsse und wurde 1819 abberufen: ein Vorgang, an dem auch antisemitische Ressentiments beteiligt waren, die sich gegen seine Frau richteten.

Kurz danach kehrte das Ehepaar nach Berlin zurück, wo Rahel, jetzt gemeinsam mit Varnhagen, ihren zweiten Salon erschuf. Inmitten der geräumigen, hellblau tapezierten Zimmer und mit dem Blick auf die Bäume im Garten entstand hier wieder ein geistiger Sammelpunkt. Nur war die Einrichtung von demonstrativer Schlichtheit. Die alternde Frau stellte die Begegnungen, die sie unermüdlich stiftete, unter ein Goethe-Wort: «Freunde, Gleichgesinnte, nur herein!»

Hier geschah es, dass der grämliche Grillparzer seine Müdigkeit überwand und in eine ihm sonst ganz unbekannte Trunkenheit verfiel. Hier fand der junge Heine «das Vaterland», zu dem er sich auch noch in der Fremde bekennen konnte. Hier verspürten zu Dutzenden durchreisende Augen- und Ohrenzeugen das Flair der «Beichtmutter», die zu einer Berliner Zelebrität geworden war.

Was tat es, wenn der beflissene Varnhagen allabendlich hinter Rahels Stuhl stand, in ein leise hervorgezogenes Taschenbuch ihre Sentenzen eintrug, als handelte es sich um die Weissagungen einer Prophetin, und damit das gedämpfte Gespött manches Gastes hervorrief? Mit dem Rahel-Kult, den er begründete, verhalf er den Wortführern des Jungen Deutschland zum Leitstern für ihre Idee der Frauenemanzipation.

Der «Menschenmagnet» so vieler Besucher, Heines «geistreichste Frau des Universums» steigerte in diesen späten Jahren ihre brieflichen Selbst- und Zwiegespräche zu letzter poetischer Kraft und oft bestürzender Spontaneität. Ihr alter Grundsatz «Mein Leben soll zu Briefen werden» gipfelte mehr und mehr in einem dezidierten Gestaltungswillen, der mit gelegentlichen Plänen zur Veröffentlichung der Briefe einherging. Aber dann wandelten sie wieder die alten Selbstzweifel an, wenn sie etwa dem Dichter Fouqué mitteilte: «Ich weiß wohl, dass ich Ihnen lesenswerte Dinge schreibe, aber meine Worte und Ihre! Wie exerzierte Soldaten mit schönen Uniformen steht alles von Ihnen da und meine, wie die zusammengelaufenen Rebellen mit Knittlen!»

Die Leser, die ihre Botschaft untereinander austauschten und weitergaben, begriffen jedoch, was dann für ein ganzes Jahrhundert wieder vergessen wurde: Die­se kränkelnde, bereits hinfällige, nach wie vor um ihre Identität ringende Frau war eine der gro­ßen Schriftstellerinnen deutscher Sprache. Mehr denn je waren ihre Briefe und Tagebücher «Lichtstreifen und Glutwege», existentielle Kundgebungen einer verletzbaren Seele, immer von der Schreiberin sprechend, auch wenn sie anderen Menschen galten.

Aus den Trauergesängen und Gedenkreden, die 1832 Goethes Tod auslöste, könnte man Anthologien zusammenstellen. Das schönste und bündigste Epitaph setzte ihm Rahel in ihrem Tagebuch: «Milder als Mairegen sind Kinderküsse. Rosenduft, Nachtigallton, Lerchenwirbel. Goethe hört’s nicht mehr. Ein großer Zeuge fehlt.»

Hinter den Ermutigungen, die sie ihren Gästen angedeihen ließ, hinter der Ausstrahlung, die ihre Freunde bezauberte, waren Schwermut und Unruhe nicht zu besänftigen. Sie blieb, was sie nach ihrem eigenen Bekenntnis immer gewesen war: «ein Schlemihl und eine Jüdin». Wie Schlemihl, der Pechvogel der Hebräer, in Chamissos Novelle verzweifelt um die Zurückgewinnung seines Schattens kämpft, so hat noch die Greisin um das innere Einverständnis mit ihrem Schicksal gerungen.

Erst als sie sich, fast ein Jahr nach Goethes Tod, zum Sterben niederlegte, nahm sie ihre jüdische Bestimmung ausdrücklich an: «Welche Geschichte! eine aus Ägypten und Palästina Geflüchtete bin ich hier, und finde Hülfe, Liebe und Pflege von euch! ... Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht’ ich das jetzt missen.»

Es war die Identifikation mit ihrer Herkunft und mit dem Weg, den ihr Volk einst angetreten hatte, für das weitere 19. Jahrhundert kaum ein Grund zur gesteigerten Anteilnahme. Die ersten Ausgaben des umfangreichen Briefwerkes erschienen schon bald nach Rahels Tod, pietätvoll ediert, allerdings auch retuschiert von Karl August Varnhagen von Ense. Dass mit ihr eine Briefschreiberin von hohem, vielleicht einzigartigem literarischen Rang sowie eine geniale Kennerin und Versöhnerin der Menschen dahingegangen war, drohte den Nachgeborenen zu entgleiten. Heinrich Heines Prophezeiung, der zufolge Rahels Briefe für die späteren Generationen rätselhafte Hieroglyphen sein würden, schien sich ihrer Erfüllung zu nähern.

Es bedurfte weitläufiger Publikationsbemühungen, um diese Hinterlassenschaft zu reinigen und wieder verfügbar zu machen, obwohl es bis zum heutigen Tag keine auch nur einigermaßen zuverlässige Gesamtausgabe gibt.

Antonie Friederike Varnhagen von Ense, die auch für die Nachwelt «Rahel» blieb, ist am 7. März 1833 in Berlin gestorben. «Es hat sich ausgegnädigefraut! Nennt mich Rahel», sagte sie auf dem Sterbebett zu ihrer Hausgehilfin. Genau hundert Jahre später hätte man ihr möglicherweise, am gleichen Ort, die letzte Stunde mit dem Einwerfen des Fensters gestört. Wiederum zehn Jahre später wäre die «Falschgeborene» wahrscheinlich nicht im Haus eines pensionierten preußischen Legationsrates gestorben, sondern in einer Gaskammer zugrunde gegangen. Ob Rahel dorthin noch der Kindertraum begleitet hätte, den sie so oft erzählte, wollen und dürfen wir nicht ermessen: «In meinem siebenten Jahre träumte mir einmal, ich sähe den lieben Gott ganz nahe, er hatte sich über mir ausgebreitet, und sein Mantel war der ganze Himmel, auf einer Ecke dieses Mantels durfte ich ruhen, und lag in beglücktem Frieden zum Entschlummern da. Seitdem kehrte mir dieser Traum durch mein ganzes Leben immer wieder, und in den schlimmsten Zeiten war mir dieselbe Vorstellung auch im Wachen gegenwärtig, und ein himmlischer Trost: ich durfte mich zu den Füßen Gottes auf eine Ecke seines Mantels legen und da jeder Sorge frei werden, er erlaubte es.»

Von Klaus Günze

Der Text ist entnommen aus: http://www.zeit.de/1996/22/Die_geistreichste_Frau_des_Universums?page=all