Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №12/2008

Literatur

Paul Nizon: Das Jahr der Liebe

Fortsetzung aus Nr. 09–11/2008

Um die Zeit auszufüllen, machen wir einen beachtlichen Umweg über die Place des Abbesses, dann den Boulevard Rochechouart hinunter plus Abstecher in die Araber Straßen, die so verrufen, aber so herrlich lebendig und, ja, beinah abartig, weil so ganz hermetisch sind für unser Gefühl, sie tragen Namen wie Rue de la Goutte d’Or und Rue de Chartres und sind der reine Orient. Dann den Boulevard Barbes entlang mit seinem geschäftigen Sonntagsmarkt und weiter den Boulevard Ornano. Entkommen, entkommen, jubelt eine Stimme und ein Stimmchen in mir, während wir promenieren ja, wie die andere Stimme gejubelt hat, die Klarinette dieses jungen Mannes, Student wohl, der mit zwei Banjo-Spielern und einem Bassisten vor dem Warenhaus Printemps, kürzlich, letzte Woche war’s, aufspielte, und eine beachtliche Menge blieb und blieb und konnte sich nicht lösen, auf dem verbreiterten Trottoir vor dem Warenhaus, Junge und Alte,Farbige und Weiße und Kinder, und ab und zu ging jemand vor, um ein Geldstück in den Instrumentenkasten am Boden zu werfen, das war so rührend, diese Gänge Einzelner, diese Bühnengänge zu Danksagungszwecken, es war überhaupt nicht ‹so im Vorbeigehen›, weil die Leute, die Spender, ja gleich wieder in den Ring der Zuhörer zurückkehrten, es war ein Danken, ja, ein Einzelgang – wie zu einem Altärchen, Obulus, ein Kranzniederlegen, eine Verbeugung, ein Manifestieren war’s. Diese Loslösungen Einzelner, die da zu den vier jungen Musikern oder Musikanten vortraten, schüchtern die einen, darunter ganz alte Leute, behutsam andere, wie um nicht zu stören, alle aber um zu bezeugen, aber was? Dankbarkeit, Einverständnis, Solidarität?
Es war mitreißend, die Klarinette vor allem war es, die aus diesem ganz jungen Kerlchen herauswuchs wie ein verlängerter Mund, ein Rüssel, der mit der linken ausgeblasenen gebeulten Backe zusammenzuhängen, zusammengewachsen zu sein schien, und das Kerlchen war ganz und gar Musik, schriller jubilierender wunderbar getragener durch und durch vibrierender rei­ender mitreißender Klarinettenton, der ganze Bursche war Ton, Aufstand und Klage und Trost, die Tonmelodien hingen geradezu sichtbar aus seinem Munde, aus dem Körper, den er manchmal wie lauernd und befeuernd in die Hocke beförderte, das Instrument den drei Kameraden zugewandt, eine Herausforderung und Befeuerung, und die Banjo-Burschen und der kleine Dicke am Baß steigerten sich sichtlich wie das schallte, klagte, jubelte, riß und riß, an unseren Gefühlen riß. Manchmal, wenn die Banjos begannen oder der Baß ein Solo einlegte, setzte er sich auf den Warenhaussockel, klein und vornübergebeugt, mit dem rechten Fuß den Takt skandierend und ganz leise, fast murmelnd, eine Begleitmelodie, Begleitung zu den Auftritten der anderen intonierend, bis es ihn wieder hochriß bei seinem Einsatz und die Luft und unsere Herzen zersprangen. Niemand konnte sich lösen, und zwischen den Musikern und den Zuhörern gab’s überhaupt keinen Kontakt außer diesem tiefen, den die Musik vermittelte später im Warenhaus drinnen, als ich nach einer Handtasche für meine Mutter Ausschau hielt, einer Tasche, die ich ihr als Geschenk zum kommenden Geburtstag mitzubringen gedachte, zu ihrem neunundsiebzigsten, hörte ich die Musik immer noch, aber ich war nicht sicher, ob ich sie wirklich hörte oder ob sie dermaßen in mich übergegangen, eingegangen war, daß ich sie nun in mir spielen, schmettern, klagen und siegen hörte und verspürte nur Liebe für alle anderen, die draußen mit mir im Ring gestanden hatten an diesem Vormittag meine Mutter, ich sehe sie mit ihren steifen kurzen Schritten zur Tür stelzeln, gebückt und klein ist sie geworden. Es ist ihre neue Wohnung, diese Alterswohnung, modern und kühl, irgendwie grau wirkt diese Wohnung vor lauter Funktionalität, aber vielleicht auch nur des grauen Spannteppichs und der verhältnismäßigen Dunkelheit wegen – obwohl eine ganze Fensterfront auf diese hintere Terrasse geht, ist das Wohnzimmer nur bei wirklich strahlendem Wetter hell; das Haus steht unter der Kornhausbrücke, in Bäumen zwar, in geradezu feudalem Umschwung, aber hell ist es hier nicht. Und Mutter hält die Wohnung sauber und steril, als gehöre sie nicht ihr, als sei sie nur zu deren Reinhaltung, Inordnunghaltung hier abgestellt worden, im Bad und in der Küche mit all den Einbauschränken und -fächern steht nichts herum, das auf einen Bewohner schließen läßt und, ja, Angst spricht aus Mutters Gesicht und Äußerungen, Angst vor dem Lärmmachen, vor Geräuschen überhaupt. Und eine entsprechend übertriebene, geradezu untertänig wirkende Freundlichkeit nach außen, zu den Mitbewohnern dieser Alterssiedlung, ich weiß nicht, ist es Einschüchterung, eine Form von Erniedrigung. Wenn sie so steif und gebückt dahergeschrittelt kommt, die Tür vor dieser bei aller Möblierung leer, ja geradezu garagenhaft leer wirkenden Einzimmerwohnung aufmacht, ist oder scheint selbst die Überraschung, die Freude geheuchelt, ich weiß nicht recht, ist sie sich wirklich klar darüber, daß ich jetzt angereist gekommen bin, sie zu sehen, oder denkt sie, ich sei immer da; das wäre ja schrecklich, sollte sie in einem solchen Geisteszustand sein, oder wär’s eine Erlösung? Das Mausgraugeworden-, das Stillgelegt- und Beiseitegeschobensein
[…]

be|acht|lich <Adj.>: a) ziemlich groß, beträchtlich: -e Verbesserungen; -e Fortschritte machen; -e Schäden anrichten; b) recht wichtig u. bedeutsam; respektabel: er hat eine -e Position, Stellung; c) in recht deutlich erkennbarer Weise, sehr: die Rohstoffpreise sind b. gestiegen.

ver|ru|fen <Adj.>: in einem schlechten, zweifelhaften Ruf stehend, übel beleumundet, berüchtigt: eine -e Gegend; ein -es Viertel, Lokal; als Geschäftsmann ist er ziemlich v.

pro|me|nie|ren <sw. V.> [frz. (se) promener < mfrz. po(u)r mener, aus: po(u)r = im Kreis u. mener < spätlat. minare = (an)treiben, führen] (geh.): a) an einem belebten Ort, auf einer Promenade o. Ä. langsam auf und ab gehen <hat>; b) sich promenierend (a) irgendwohin bewegen <ist>.

Um|schwung, der; -[e]s, Umschwünge: 1. einschneidende, grundlegende Veränderung, Wendung: ein politischer, wirtschaftlicher U.; es trat ein [plötzlicher] U. der/in der allgemeinen Stimmung, öffentlichen Meinung ein. 2. (Turnen) ganze Drehung um ein Gerät, durch deren Schwung der Körper in die Ausgangsstellung zurückgebracht wird: einen U. [am Reck] machen, ausführen. 3. (schweiz.) zum Haus gehörendes umgebendes Land.

un|ter|tä|nig [mhd. undertænec] <Adj.> (abwertend): jmds. Haltung zeigend, die erkennen lässt, dass er sehr beflissen den Willen eines Höher­gestellten, Mächtigeren als verbindlich anerkennt, sich beeilt, ihm nachzukommen.

Ein|schüch|te|rung, die; -, -en: das Einschüchtern. ein|schüch|tern<sw. V.; hat>: jmdm. Angst machen u. ihm dadurch den Mut zu etw. nehmen: jmdn. mit/durch Drohungen einzuschüchtern versuchen; ein völlig eingeschüchtertes Kind.

Aus: Paul Nizon: Das Jahr der Liebe. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1981. S. 7–17.