Sonderthema
Doktor Faustus, von Sputnik erlöst
Ihr Name war Fernande. Alles, was man über sie weiß, steht in einem fünfseitigen Brief in französischer Sprache, den sie im März 1963 an Wernher von Braun schrieb. Der viel beschäftigte Raketeningenieur las ihn nicht nur, er fertigte auch eine minutiöse Übersetzung ins Deutsche an. Er muss ihm wie eine Nachricht aus dem Jenseits vorgekommen sein.
Fernande erinnert ihn an das Jahr 1943 im besetzten Paris. «Als Du das letzte Mal zu mir in die Rue Ponthieu 50 kamst», schrieb sie, «sagte meine Mutter Dir, dass ich im Gefängnis bin. Sie bat Dich, alles zu tun, um mich herauszuholen, und Du hast es versprochen.» Tatsächlich ließ die Gestapo sie Anfang 1944 frei, doch «Monsieur Werner» tauchte nicht wieder auf. Im August 1944 wurde Paris befreit und Fernande abermals inhaftiert, diesmal wegen ihrer Beziehung zu einem Deutschen. Jetzt, 20 Jahre später, lebe sie mittellos in den Pyrenäen, schrieb sie. Aber sie habe ja Glück gehabt. Hätte man gewusst, wer ihr Liebhaber war, wäre sie «zweifellos zum Tode verurteilt und hingerichtet worden».
Es ist nur eine Episode, und Michael Neufeld, Raumfahrthistoriker am National Air and Space Museum in Washington, erwähnt sie in seiner soeben erschienenen monumentalen Biografie Wernher von Brauns eigentlich nur der Vollständigkeit halber. Doch unwillkürlich denkt man sich: diese filmreife Story hat hier wirklich noch gefehlt.
Denn filmreif war das ganze Leben des deutsch-amerikanischen Raketenpioniers. Freunde sehr verschiedener Genres kämen hier auf ihre Kosten: des Historien-Thrillers, der Technik-Doku oder der Familien-Saga, des Horrorfilms und – durch den Fernande-Brief wissen wir es jetzt – sogar die Fans von Streifen wie Casablanca. Als Heldenlegende wurde dieses Leben übrigens bereits verfilmt – 1960, neun Jahre bevor es seinen letzten Höhepunkt erreichte – mit Curd Jürgens in der Titelrolle. Doch wie Michael Neufeld mit enormer Detailfülle und trotzdem ebenso eindrücklich wie spannend darlegt, war die Lebensgeschichte Wernher von Brauns vor allem eines: ein faustisches Drama.
Wernher von Braun an seinem Schreibtisch im Marshall Space Flight Center, im Mai 1964. |
Es ist freilich ein Drama mit multiplen Peripetien. Eine davon, vielleicht die wichtigste, fällt in den Herbst 1957, das Jahr, als Fernande ihrem Monsieur Werner das erste Mal in den Medien begegnete. Bekannt war der deutsche Aristokrat schon damals, aber in jenem Herbst vor 50 Jahren wurde er ein Superstar. Fünf Wochen nach dem Start des Sputnik zierte sein Bild die Titelseite des Magazins «Life».
Bis dahin war der zivile Raketenexperte im Dienst der U.S. Army – die ihn 1945 im Zuge der Geheimoperation «Paperclip» zusammen mit zahlreichen Mitarbeitern in die Vereinigten Staaten geholt hatte – eine exotische Mediengestalt. In Disney-Fernsehprogrammen und bunten Magazinen war er als Advokat einer Zukunft der Menschheit im All aufgetreten. Man wusste, dass er der Mann gewesen war, der Hitler die V2-Rakete gebaut hatte. Das aber war in Amerika mitten im Kalten Krieg nur bedingt rufschädigend. Die Deutschen waren ja jetzt Verbündete, und der Feind stand ein Stück weiter östlich. Wernher von Brauns Vergangenheit schien ebenso aus einem Hollywoodfilm zu stammen wie die Raumschiffe, von denen er sprach.
Die Stunde des Propheten
Doch mit Sputnik war der Weltraum plötzlich in die reale Gegenwart eingebrochen. Der charmante Baron wurde in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem Propheten des Raumfahrtzeitalters, noch dazu zu einem, der seinen Visionen Taten folgen lassen konnte.
Bereits im Januar 1958 beförderte von Brauns Jupiter-C-Rakete mit Explorer 1 den ersten amerikanischen Satelliten in den Orbit. Der erst drei Jahre zuvor eingebürgerte deutsche Immigrant war nicht nur zu einem amerikanischen Nationalhelden geworden, sondern zu einer Ikone der westlichen Welt.
Aber dieser Triumph – und alle weiteren, die sich bis zur ersten Mondlandung 1969 durch Apollo 11 daraus ergaben – machte lange etwas vergessen: dasselbe Managementgenie und dieselbe Energie und Überzeugungskraft, denen sich der Erfolg von Explorer 1 verdankt, standen auch schon mal in anderen, dunkleren Diensten.
Wie so viele Deutsche im 20. Jahrhundert hat Wernher Freiherr von Braun eigentlich zwei Leben gelebt: eines vor 1945 und eines danach. Die Frage, wie die beiden zusammenhängen und inwiefern die Bilanz des ersten Lebens in die des zweiten eingehen müsse, stellt sich natürlich nicht nur bei ihm.
Aber Wernher von Braun ist ein Sonderfall – und das hat die historische Aufarbeitung seines Lebens bislang ausgesprochen behindert. Zwar gab es bei ihm einerseits eine geradezu unheimliche Kontinuität – er hat immer nur Raketen gebaut. Andererseits, bei kaum einem anderen Deutschen mit einem aktiven Leben nach und vor 1945 hatten die beiden Hälften für so viele Menschen so völlig entgegengesetzte Auswirkungen wie bei ihm. Die Zeitgenossen des NASA-Ingenieurs führte er maßgeblich ins Raumfahrtzeitalter – mit all den weltpolitischen Folgen, lebenspraktischen Segnungen und der Bedeutung, die der Weltraum für die fernere Zukunft der Menschheit noch haben wird. Von den Zeitgenossen des V2-Projektleiters aber starben 5000 durch den Einsatz seiner Waffe, und ein Mehrfaches dieser Zahl ging als Arbeitssklaven bei der Produktion dieser Rakete im KZ Mittelbau-Dora elend zugrunde.
Hälften des Lebens
Diese Dichotomie ist wohl auch ein Grund dafür, warum bis zu Neufelds Buch keine umfassende Darstellung beider Hälften dieses Lebens vorlag. Bisherige Biografien von Brauns legten den Schwerpunkt meist auf nur eine Hälfte. Die große Mehrzahl stellte den Raumfahrtpionier in den Mittelpunkt und bestätigte damit – nicht nur zu Unrecht – die tiefe Überzeugung des abendländischen Menschen, dass ein Individuum voller Energie und Optimismus gelegentlich doch Berge versetzen kann. Allein, an Hitler und der SS habe auch dieser große Geist scheitern und sich zu schrecklichem Dienst zwingen lassen müssen. Die erste Hälfte dieses Lebens wird aus dieser Perspektive ganz im Licht der zweiten gesehen. Das Ergebnis ist dann eher Hagiographie als historische Forschung.
Ein anderer Zugang kam erst Mitte der achtziger Jahre auf – aber nicht nur, weil damals immer mehr persönliche und militärische Dokumente aus den Jahren um 1945 der Forschung zugänglich wurden. In diesen Jahren begann auch die Generation derer endgültig abzutreten, die im Dritten Reich bereits erwachsen waren und von denen viele sich das Bild, das sie sich davon gemacht hatten, nur ungern durch Historiker gefährden oder gar eigene Verstrickungen vorhalten lassen wollten. Die Aufarbeitung der Nazizeit wurde nun zum Gebot der Stunde. Und dabei gerieten naturgemäß auch die ersten 33 Jahre im Leben des Wernher von Braun in den Blick.
Nicht, dass man über Wernher von Braun und die Nazizeit nicht schon früher geredet hätte. Die V2-Einsätze gegen London oder Antwerpen waren für ihn und seine Arbeitgeber – die Army und ab 1958 die NASA – durchaus immer wieder ein PR-Problem. Und während des Kalten Krieges gab es in der DDR wiederholt Versuche, den Helden der westlichen Raumfahrt zum Nazi und Kriegsverbrecher zu stempeln. Wer wollte, konnte schon damals erfahren, dass von Braun nicht nur NSDAP-Parteigenosse, sondern auch SS-Hauptsturmführer gewesen war. Mit den Schrecken von Mittelbau-Dora aber wurde von Braun bis zu seinem Tod 1977 nicht direkt in Verbindung gebracht.
Das also geschah erst in den achtziger Jahren – allerdings vor allem durch Autoren, die all jenem kritisch gegenüberstanden, was Wernher von Braun in seiner zweiten Lebenshälfte verkörperte: eine entschieden wertkonservative Haltung, Technikoptimismus, aber auch die Visionen von einer in den Weltraum expandierenden Menschheit. Für die dringend notwendige geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der Rolle von Brauns im Dritten Reich war diese Konstellation unvorteilhaft, denn sie verführt dazu, den Fehler der Hagiographen von Brauns mit umgekehrten Vorzeichen zu wiederholen und seine zweite Lebenshälfte im Lichte der ersten auszulegen.
Es ist daher ein ausgesprochenes Verdienst Michael Neufelds, anhand akribischer Auswertung aller heute verfügbaren Quellen erstmals beide Lebenshälften umfassend dargestellt zu haben. Dabei legt Neufeld offen, was man über dieses Leben weiß, was man nicht weiß und was man dort, wo man nichts weiß, fairer- und vernünftigerweise vermuten kann.
Wernher von Braun im Januar 1968 vor einer Saturn-1B-Rakete |
Erst auf dieser Grundlage versucht Neufeld nach den inneren Verbindungslinien zu fahnden und seinem Gegenstand im Schlimmen wie im Großartigen gerecht zu werden. Es verwundert dann am Ende nicht, dass der Wernher von Braun, dem man bei Neufeld begegnet, weder ein Heiliger ist noch ein Finsterling, sondern eben eine faustische Figur.
Aber wie ist dieser moderne Faust an den Teufel geraten? Wernher von Braun wusste früh, was er erreichen wollte: ins All fliegen, auf den Mond und zu den Planeten. Anstoß gab vielleicht ein Teleskop, das ihm seine naturwissenschaftlich interessierte Mutter 1925 zur Konfirmation schenkte.
Das Interesse ist geweckt, aber allem Weiteren stehen zwei Dinge entgegen. Das eine ist die Musik. Der Berliner Gymnasiast Wernher von Braun ist ein begabter Klavierspieler, später lernt er Cello und nimmt Kompositionsunterricht bei keinem Geringeren als Paul Hindemith.
Das andere, was anfangs zwischen ihm und den Sternen steht, sind schlechte Noten. In der achten Klasse fällt er durch – wegen Mathematik und Physik. Seine Eltern schicken ihn aufs Internat. Als er dort 1930 Abitur macht, ist er in diesen Fächern Schulprimus. Ursächlich für diesen Wandel ist das formelgespickte Buch Die Rakete zu den Planetenräumen von Hermann Oberth. Der Sitzenbleiber will es verstehen, wird darüber zum Wunderkind und hat sein Lebensthema gefunden.
Doktorand der Artillerie
1932 ist der Maschinenbaustudent Mitglied einer Gruppe von Raketenenthusiasten, da melden sich nach einer Vorführung Armeeangehörige. Die Artillerie der Reichswehr interessiert sich für Raketen und bietet der Gruppe finanzielle Unterstützung an. Im Dezember 1932 beginnt von Braun eine vom Militär finanzierte geheime Doktorarbeit. Zwei Monate später ergreift Hitler die Macht. Hat er da den Pakt mit dem Teufel geschlossen?
«Dass er sich der reaktionären Armee einer schwachen Republik verpflichtete, war vielleicht noch kein Faustischer Pakt», schreibt Neufeld, «aber die Machtergreifung der Nazis machte es zu einem, wenn zunächst auch nur langsam und unmerklich.»
Was niemand heute entschuldigen möchte, kann gleichwohl jeder verstehen: Ein junger brillanter Mann hat einen Traum, und man gibt ihm alles, was er braucht, um ihn zu verwirklichen. Da greift er zu. Dass die Raketen, die er konstruiert, um Erfahrung für den Bau von Raumschiffen zu sammeln, einmal auf Menschen abgeschossen werden könnten, tritt für ihn in den Hintergrund. Und dass die Welt um ihn zunehmend verrückt spielt, scheint er in seiner Fixierung auf die Rakete auch dann nicht zu merken, wenn er die abgeschlossenen Militärlabors – erst in Kummersdorf bei Berlin, später in Peenemünde an der Ostsee – verlässt.
Und die Welt spielt verrückt. Seine Eltern fliehen nach dem Röhm-Putsch 1934 aus Berlin – der Vater war immerhin Minister in der untergegangenen Weimarer Republik. Sein Bruder fürchtet «um seine Menschlichkeit», als er für den Eintritt in die Beamtenlaufbahn den Eid auf Hitler ablegen soll. Nichts davon scheint Wernher von Braun wirklich zu berühren.
Aber vielleicht ist die wachsende Blindheit gegenüber allem, was nicht mit seinen Raketen zu tun hat, nicht nur eine absichtliche Strategie, um ja seine Tätigkeit nicht zu gefährden. Im Juli 1934 tötete in Kummersdorf eine Explosion an einem Teststand einen Kollegen und zwei Studenten. «Es gibt keinen Hinweis darauf, dass der Unfall von Braun sehr nahe gegangen ist», schreibt Neufeld.
Bei so viel Apathie verwundert es nicht, dass er sich nicht lange wehrt, als man ihn 1937 auffordert, der NSDAP beizutreten. Als Himmler ihn 1940 in seine SS zwingt, schmeckt ihm das schon weniger. Aber da war es eigentlich schon zu spät. «Mitte der dreißiger Jahre hätte er sich den Nazis vielleicht noch entziehen können», sagt Neufeld, «wenn er bereit gewesen wäre, seinen Traum aufzugeben.» Tatsächlich aber wurde ihm seine Situation zu spät klar – vielleicht erst 1944, als er mit einigen Mitarbeitern von der SS verhaftet wurde und nur knapp der Hinrichtung entging, oder bereits 1943 bei seinem ersten Besuch in der Hölle von Mittelbau-Dora. Dort muss der Weltraumträumer sich tatsächlich wie Goethes Faust vorgekommen sein, der in der Tragödie zweitem Teil ebenfalls große Ingenieurswerke zum Wohle der Menschheit in Gang setzt und dann mit ansehen muss, wie Mephisto dafür das alte Ehepaar Philemon und Baucis ermordet. Faust ist angewidert, aber das macht die beiden auch nicht mehr lebendig.
Bei Kriegsende begibt sich Wernher von Braun schnurstracks in die Hände der amerikanischen Armee. Auch hier diagnostiziert Neufeld zunächst einmal einen beunruhigenden Opportunismus. Die Amerikaner sind die Sieger. Wer kann nun von Brauns Raketen bauen, wenn nicht sie?
In der Frage, wie es mit der Faustischen Karriere nach 1945 weitergeht, ist Neufeld allerdings weit weniger explizit. Aber seine Befunde machen mehr als deutlich, dass es nicht die U.S. Army war, die ihn erlöste – wenn Erlösung mehr sein soll als die Rettung seiner physischen Person. Die Army wurde ihm eher zu einem neuen, wenn auch ungleich freundlicheren Mephistopheles. Denn von Braun baute ja weiterhin Waffen. Und er machte sogar Vorschläge, wie seine Raumfahrtpläne dem Westen im heraufdämmernden Kalten Krieg nützlich sein könnten, etwa in Gestalt einer mit Kernwaffen bestückten Raumstation.
Gerichtet und gerettet
Wernher von Brauns Grab |
Die Erlösung des Dr. Wernher von Braun kam, wenn nicht alles täuscht, erst im Oktober 1957 durch jene kleine silberne Kugel mit ihrem monotonen Funksignal. Denn erst durch Sputnik konnte von Braun seine Weltraumträume wahr werden lassen, ohne dafür Massenvernichtungswaffen bauen zu müssen. Sputnik befreite die Raumfahrt aus der militärischen Enklave, in der sie nun einmal geboren worden war – auch wenn wir uns wünschen, es wäre anders gewesen. Sputnik ermöglichte es, dass Wernher von Brauns Team mit einer seiner Raketen endlich einen echten Raumflugkörper in den Orbit schießen durfte, den Forschungssatelliten Explorer 1. Dank Sputnik wurde 1958 die NASA gegründet und später das Apollo-Programm möglich. Ohne diese Entwicklung wäre von Braun als bloßer Waffenschmied für heiße und kalte Krieger in die Geschichte eingegangen. Sputnik hat ihn erlöst.
Das publizistische Fegefeuer, das postum über ihn und seine Weltraumträume hereinbrach, war gleichwohl unvermeidlich. Und es war nützlich, um dem nach 1945 auch in anderen Sektoren der Technik und Wissenschaft gepflegten Mythos ein Ende zu bereiten, die Fachleute hätten einfach nur ihre Arbeit getan, die andere dann missbrauchten. Aber das Fegefeuer wird irgendwann erlöschen. Und dann bedarf es eines differenzierten Blickes auf dieses abenteuerliche, reiche und komplexe Leben.
Aus: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 30.09.2007, Nr. 39, S. 67
Der Text ist entnommen aus: http://www.raketenspezialisten.de/pdf/doktor_faustus.pdf