Bildung und Erziehung
Warum zu viel Goethe in der Schule schadet
Unsäglich sei die Schullektüre, hat vor kurzem eine Repräsentantin des deutschen Buchhandels gesagt. Und dann noch behauptet, auf Goethe könne man auch verzichten. Seitdem bekommt sie jede Menge Briefe, vor allem von erzürnten Germanisten. Hat sie trotzdem recht?
Nun denn, Goethe zu lesen ist ein Genuss. Aber nicht, weil er ein Klassiker ist, sondern weil die Genauigkeit und der Reichtum der Sprache bis heute überwältigen. Goethe und die anderen Helden des Literaturkanons in der Schule zu lesen ist eine Qual. Endlos lange ging es in meinem Unterricht um Dramen des Sturm und Drangs und der Romantik, bei denen stets im fünften Akt das unschuldige Mädchen ins Wasser ging oder auf andere unerfreuliche Weise verschied1. Deutsch in der Oberstufe war ein einziges bürgerliches Trauerspiel.
Bei Goethe leidet man mehr
Schullektüre wird immer gehasst. Sie gilt per se2 als mühsam, riecht nach Arbeit und ist vergnügungsfrei. «Das habe ich in der Schule gelesen», ist ein Satz, der oft mit Verachtung und Grundgenervtheit in der Stimme ausgesprochen wird. Woran liegt das? Natürlich stößt für jeden aufrechten Teenager das von Erwachsenen vermittelte Wissen auf Ablehnung. Da hat es Goethe schwer, da hätten es aber auch Thomas Bernhard und John Updike schwer. Das Leid mit Goethe ist aber größer, weil ihn Lehrer vermitteln, die seit 25 Jahren den gleichen Stoff runterleiern. Schon allein das spricht für mehr zeitgenössische Literatur im Unterricht, hier sind Lehrer gezwungen, sich in eine neue Welt hineinzuarbeiten.
Die Vermittlung des Stoffes gleicht früher wie heute einer chinesischen Wasserfolter (natürlich trifft das nicht für alle zu – nicht aufregen, verehrte Deutschlehrer): «Und dann lesen wir bis nächste Woche die Seiten 22 bis 34», heißt es am Ende der Unterrichtsstunde, als befinde man sich im Kreis von Legasthenikern.
Gequältes Verlieben
Dabei hoffen die Pädagogen offenbar3 auf eine Variante des Stockholm-Syndroms: Je länger die Kinder mit Klassikern gequält werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich eines Tages in sie verlieben. Tatsächlich kann ein Überhang an Klassikern den Schülern die Lesefreude verderben. In der Literatur kann sich der Leser verlieren, die Geschichten verändern seine Welt und seine Sicht auf sie. Das gelingt nicht, wenn Lebenswelt und Sprache den Heranwachsenden fremd sind. Das ändert sich im Erwachsenenleben selten: Die Zahl derer, die abends die Gattin fragen: «Schatz, weißt du, wo ich die Oden Hölderlins hingelegt habe?», ist überschaubar.
Und manche Klassiker versteht man halt nicht als Heranwachsender. Sich durch das Nibelungenlied und Walther von der Vogelweide zu quälen ist so freudvoll wie Vokabeln lernen – mit dem Unterschied, dass Letzteres Bedingung für das Lernen einer Sprache, Ersteres totes Wissen ist.
Schule ist idealiter4 ein Ort, an dem jungen Menschen das Denken in Zusammenhängen beigebracht, Wissensdurst entfacht und – so viel Romantik muss sein – ein wenig zur Herzensbildung beigetragen wird. Schule sollte ausdrücklich nicht der Ort sein, an dem Wissen ohne Sinn und Verstand angehäuft wird. Sie ist nicht Trainingscamp für einen Abend mit Günther Jauch oder «Trivial Pursuit». Es ist unerheblich, ob Kinder Goethe, Schiller und Lessing gelesen haben oder nicht. Was zählt, ist, ob sie das Rüstzeug bekommen haben, sie für sich zu entdecken.
1 ver|schei|den <st. V.; ist> [mhd. verscheiden = weggehen, verschwinden; sterben] (geh.): sterben: nach langer Krankheit v.; sie verschied im Alter von 93 Jahren.
2 per se [lat.] (bildungsspr.): von selbst, aus sich heraus: das versteht sich p. se.
3 of|fen|bar <Adv.> [zu: 1offenbar]: dem Anschein nach, wie es scheint: sie ist o. sehr begabt; der Zug hat o. Verspätung.
4 ide|a|li|ter <Adv.> [geb. mit der lat. Adverbendung -iter zu ideal] (bildungsspr.): im Idealfall.
Der Text ist entnommen aus: http://www.welt.de