Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №14/2008

Das liest man in Deutschland

«Das ist schon nicht mehr nur Radio, das ist Literatur»

Zu Wolfgang Koeppens Radio-Essay-Band «Reise nach Rußland und anderswohin»

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Bereits der Titel war eine kleine Provokation. Denn als 1958 eine Sammlung von Wolfgang Koeppens Reise-Essays erschien, stand auf dem Umschlag: Nach Rußland und anderswohin. Empfindsame Reisen. Tatsächlich war Koeppen ein Jahr zuvor unempfindlich genug gewesen, am Ostberliner Hauptbahnhof einen Zug in Richtung Moskau zu besteigen. Zugleich wusste sich der westdeutsche Schriftsteller dafür mit einer dantesken Volte zu rechtfertigen: «Gibt es irgendwo ein Schild, auf dem geschrieben steht: ‹Hier beginnt die Hölle, hier endet das Paradies›? Und wer hat es aufgestellt? Darf man ihm trauen? Ich halte nichts von Schildern. Ich reiste in die Sowjetunion.»
Knapp fünfzig Jahre nach der Erstausgabe von Nach Rußland und anderswohin sind Koeppens essayistische Reisenotizen nun als achter Band der Suhrkamp-Werkausgabe erschienen. Walter Erhart, bis 2007 Direktor des Greifswalder Koeppen-Archivs, hat das Buch herausgegeben und kommentiert. Überhaupt wird die gesamte zweite Hälfte der Werk­ausgabe aus Essays, Fragmenten und Feuilleton-Artikeln bestehen – beredtes Zeugnis für Koeppens literarische Doppelexistenz. Der abrupte Wechsel vom Romancier zum Essayisten wurde einst zum «Fall Koeppen» stilisiert und galt als tragisches Verstummen eines begabten Autors. Koeppen selbst fuhr derweil fort – so der Berliner Literaturwissenschaftler Erhard Schütz – «das zu tun, was er schon immer getan hatte, nämlich nicht konsequent schweigen». Stattdessen schrieb er einfach weiter, nur nicht das, was man von ihm erwartete. «Ich lebe vom Schreiben», notierte der Autor 1954, als in den Buchhandlungen Tod in Rom auslag, der letzte Band seiner Roman­trilogie. Zum Leben reichte das jedoch nicht: «Wenn mein Buch in Deutschland drei- bis viertausend Leser findet, kann ich mir mein Honorar ausrechnen, während ich in der gleichen Zeit auch wesentlich mehr verdienen könnte.» Koeppen wusste, wovon er sprach. Schon in den vierziger Jahren hatte er sein Einkommen mit Filmdrehbüchern bestritten. Mitten im westdeutschen Wirtschaftswunder bahnte sich nun eine neue Möglichkeit an: der öffentlich-rechtliche Rundfunk als «Überlebenskasse».
Mit Alfred Andersch war 1955 ein prominenter Schriftsteller zum Leiter der Radio-Essay-Redaktion des Süddeutschen Rundfunks avanciert. Andersch nutzte sein Amt konsequent zur Förderung darbender Kollegen, und so genoss Koeppen auf den Boulevards der Metropolen die Spesen jener Aufträge, aus denen nach und nach ein Dutzend Radio-Essays hervorgingen. Bereits ganz am Anfang der empfindsamen Reisen nach Russland und anderswohin stand ein bewusster Fauxpas: Koeppen war nach Spanien gefahren, in das Reich des Caudillos Francisco Franco. Mitten im Kalten Krieg wurde auch im Westen von den Intellektuellen erwartet, für eine Seite Partei zu ergreifen. Die Franquisten standen pikanterweise im Lager der Westalliierten und pflegten mit dem Adenauer-Deutschland eine «traditionelle Freundschaft». Im CDU-Staat verkündeten zugleich die Wahlplakate, alle Wege des Marxismus führten nach Moskau. Der Nonkonformist Koeppen jedenfalls leistete sich den Luxus, im Falle von zwei Übeln explizit keins von beiden zu wählen. Das barg das Risiko, zwischen allen Stühlen zu landen. Der spanische Generalkonsul beschwerte sich beim Auswärtigen Amt: Koeppen habe in seinem Radio-Essay mit «boshafter Übertreibung und böser Absicht» zahlreiche «schmutzige Einzelheiten» aus Barcelona, Madrid und Toledo berichtet, das «Würdige», «Große» und «Schöne» des Franco-Staates aber ausgelassen. Doch auch in Russland stießen Koeppens essayistische Schilderungen von Land und Leuten auf Kritik, schienen sie doch politisch viel zu uneindeutig. Von jemandem wie Koeppen, so mäkelte der einflussreiche Kulturfunktionär Roman Samarin, habe man sich ein «tiefer gehendes Urteil» erwartet.
Die deutschen Rezensenten des Reisebuches waren aus anderen Gründen irritiert: Warum hatte sich der Autor zeitkritischer Romane wie Tauben im Gras und Das Treibhaus auf die non-fiktionale Bahn begeben? FAZ-Kritiker Karl Korn unterstellte Koeppen, er habe sich, «was den politischen Anspruch des Intellektuellen angeht, zu den Entsagenden geschlagen». Doch auch wenn die Reise-Essays mit ihren Blicken auf Moskau und Madrid, Rom, London oder Amsterdam von den deutschen Verhältnissen wegführten: Sie enthielten zahlreiche Rückverweise. Die Überblendungen zwischen antiken und aktuellen Trümmerwüsten machen etwa Koeppens Essay Neuer Römischer Cicerone zu einem verhinderten Essay über Berlin.
Am Anfang der komplexen Essays standen Bleistiftkritzeleien und telegrammartige Notizen mit der Reiseschreibmaschine. Das macht der Suhrkamp-Band mit fast hundert Seiten Faksimiles aus dem Greifswalder Koeppen-Archiv deutlich. Diese bisher unveröffentlichten Texte stellen, so der Herausgeber, «keine Varianten der Reiseessays dar; sie ermöglichen stattdessen einen Blick auf die Unmittelbarkeit einer reiseliterarischen Erfahrung, die sich von den ausformulierten Reiseberichten grundlegend unterscheidet». Tatsächlich atmen die stark verkleinert reproduzierten Dokumente einen unmittelbaren Hauch der Ferne: Koeppen spannte auch Hotelquittungen der «Gostinitza Stalingrad» kurzerhand in die Maschine. Akribisch sammelte der empfindsame Reisende Beobachtungen, Anekdoten und Assoziationen. So im Sommer 1957 auf einer Wolga-Fahrt, die bis zum Stalingrader Industriegebiet führte: «Uglitsch: hier ermordete Boris Godunoff den Prinzen Dimitri. Als eine Glocke die Ermordung dem Volk meldete, ließ BG die Glocke auspeitschen, ihr die Zunge herausreißen und verbannte sie nach Sibirien. U. zerstörte er. Heute gr. Käsefabrik und Penicillinherstellung. Nach U. soll der größte künstliche See der Welt kommen, viermal so groß wie der nächste in Kentucky, 70 km lang.»
Weitaus länger als diese Konzentrate wurde das Gesamtprodukt. Alfred Anderschs Schwierigkeiten, gestandenen Romanciers «funkische» Formen nahezubringen, lassen sich daran noch immer ermessen. Koeppen lieferte nach jeder Reise immer wieder endlose Monologe ab, die gesprochen zwei, drei, ja im Falle des Russland-Essays schließlich fast vier Stunden dauerten. In diesem Fall gab Koeppen gegenüber Andersch zu, sich «fürchterlich verrechnet» zu haben. Professionelle Sprecher wie Ernst Ginsberg oder Bernhard Minetti bügelten das potentielle Manko jedoch wieder aus und gaben Koeppens Radio-Essays einen unverwechselbaren Klang. Die Hörer waren begeistert: «Das ist schon nicht mehr nur Radio, das ist Literatur, und es ist gute, ergreifende Literatur», lobte ein Rezensent nach der Ausstrahlung des Russland-Essays.
In gedruckter Form entfalteten die Radio-Essays ihre nachhaltigste Wirkung: Nach Rußland und anderswohin, aber auch die folgenden Bände Amerikafahrt und Reisen nach Frankreich mauserten sich zu Long-Sellern. Der mediale Ursprung geriet dagegen in Vergessenheit. Die Original-Tonbänder lagern seit einem halben Jahrhundert im Stuttgarter Archiv des Süddeutschen Rundfunks. Anders als etwa im Fall Arno Schmidts fand sich bisher kein Verlag, um diesen akustischen Schatz zu heben. Die Germanistik erweist sich dem Rundfunk gegenüber (sieht man von Hörspielen ab) bisher ohnehin allzu oft als schwerhörig. Dieser «déformation professionelle» kann auch die Suhrkamp-Werkausgabe nicht entkommen, beschränkt sie sich doch bei aller Sorgfalt auf die Wiedergabe einer überarbeiteten Fassung des Reisebuches von 1958. Unterschiede zwischen den archivierten Sendefassungen und der Buchausga­be werden somit ausgeblendet. Ganz abgesehen von ausbleibenden Erkenntnissen über die medialen Divergenzen sind damit auch weiterhin einige skurrile Fehler im Text zu finden, die im Sendemanuskript bereits ausgebügelt waren (so wird etwa im Russland-Essay Koeppen weiterhin zu nächtlicher Stunde ganz Polen passieren und nicht nur, wie es heißen müsste, Posen).
Mit der notorischen Fixierung auf das jeweils älteste greifbare Medium folgt die Germanistik freilich einer Spur, die Koeppen selbst gelegt hat, indem er hinsichtlich der Radio-Essays von besser bezahlten «Umwegen zum Roman» sprach. Aus heutiger Sicht ist man eher geneigt, im medialen Umweg ein Ziel zu erkennen. Für das vermeintliche Vehikel des Reisens gilt das ohnehin. «Ich wollte reisen und schreiben», formulierte Koeppen einmal. Genauso gut könnte man sagen: Koeppen musste reisen, um zu schreiben. Auch seine Romane entstanden von Anfang an auf der Reiseschreibmaschine. Reiseliteratur bildet insofern tatsächlich, wie es Walter Erhart im Kommentar des Suhrkamp-Bandes formuliert, das «geheime Zentrum» des Werks, und zugleich das Geheimrezept für Koeppens Erfolg.

Von Ansgar Warner

Wolfgang Koeppen: Reisen nach Rußland und anderswohin. Werke 8. Herausgegeben von Walter Erhart. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.

Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de