Sonderthema
Die Zeit des Oswald von Wolkenstein
«Als die Welt noch ein halbes Jahrtausend jünger war, hatten alle Geschehnisse im
Leben der Menschen viel schärfer umrissene äußere Formen als heute.»
Johann Huitzinga: Herbst des Mittelatters
Krankheiten beispielsweise: kaum wirksame Medikamente, kaum Spitäler; wer krank war,
fand nur wenig Hilfe. Und Gebrechen versteckten sich nicht in isolierenden Heimen, die drängten
sich auf – das Klappern und Rasseln der Aussätzigen, das schreiende Betteln der Krüppel.
Und der Tod: Volksprediger, die enormen Zulauf fanden, redeten vom Sterben, vom
Verwesen, auf einem Friedhof, vor einem offenen Beinhaus, Knochen geschichtet, Schädel gestapelt;
eindringlich wurde hingewiesen auf das Verkrampfen der Hände, das Aufklaffen des Mundes, das
Erkalten und Verwesen, Würmer in den Eingeweiden, der Mensch als Madensack, alle Schönheit nur
äußerlich, unter der Haut nichts als Schleim, Blut, Galle, Kot.
Und Weinen, Wehklagen unter den Zuhörern, ein Hinausschreien der Angst vor dem
Sterben, dem Verwesen, ein Hinausschreien von Sündenbekenntnissen, man warf sich auf die Erde,
Schluchzen, Weinen, Stammeln, Ächzen – man war damals rückhaltlos in seinen Äußerungen. Immer
wieder gemeinsame Emotion, ein öffentliches Hingerissenwerden: Scheiterhaufen, die nach zündenden
Predigten errichtet wurden, und Frauen warfen Kopfputz hinein, der als eitel bezeichnet wurde,
Männer warfen Spielkarten, Würfel, Spielbretter hinein, die als teuflisch bezeichnet wurden, und
kurz darauf trug man wieder Kopfputz, vielleicht noch höher, glanzvoller, und bald wieder
fortgesetzt das Kartenspielen, Brettspielen, Würfeln, und unablässig das Fluchen, das
gotteslästerliche Fluchen, weil alles sanftere Fluchen ohne Würze war, einer versuchte den anderen
zu übertrumpfen, ganze Fluchkataloge gab es, Flucharien...
Man wünschte einem das Fieber, die Krämpfe, den Veitstanz, man legte Schwüre ab bei
Gottes Lunge oder Leber, bei Gottes Blut oder Darm, bei Gottes Laus oder Schweiß, bei Gottes
Leichnam. Dass dich Gottes fünf Wunden schänden! Dass dich der Teufel schände! Dass dich Gottes
Leichnam schände! Und dann wieder verfluchte man sein Fluchen, weinte während der öffentlichen
Ekstase, die Wanderprediger herausreizten durch Predigten, in denen Schreien und Wimmern, Singen
und Toben rasch abwechselten – nur so konnten sie ihr Publikum einfangen, bannen; alles musste
krass sein, überdeutlich. Krasse Deutlichkeit auch beim öffentlichen Bestrafen und Töten von
Verurteilten: düstere Spektakel der veranstaltenden Justiz... Wer mit falschen Würfeln spielte oder
nachts Unfug trieb, Passanten behelligte, dem wurden die Augen ausgestochen oder ausgebrannt;
Fälschern wurden die Wangen gebrandmarkt, oder sie wurden in kochendes Wasser geworfen; Dieben
hackte man die Hände ab, oder man hängte sie auf; Schänder wurden gepfählt: auf den Rücken gelegt,
Arme und Beine weggestreckt und festgebunden, ein Pflock auf die Bauchdecke gesetzt, das Opfer
durfte die ersten drei Hammerschläge ausführen, dann wurde der Pflock durch den Körper in den Boden
geschlagen. Und Vierteilen und Rädern. Das Enthaupten: Der Verurteilte musste dabei hinknien vor
dem Henker, der schlug mit dem Schwert zu. Dabei reichte normalerweise ein Schwerthieb nicht aus,
oft drei, vier, fünf, sechs oder sieben Schwerthiebe, ehe der Kopf vom Rumpf war; es kam auch vor,
dass man den Kopf schließlich absägte...
Als zentraler Faktor galt die Religion, die Kirche: das Leben der mittelalterlichen
Christenheit in jeder Beziehung durchdrungen von religiösen Vorstellungen... Selbst der damals
übliche Spott über Pfarrer und Mönche, das Verhöhnen dieser Männer, die nicht kämpfen und lieben
durften, und die lustvollen Vorstellungen von prassenden, messerstechenden, saufenden, fickenden
Mönchen – Affekte, die Bindungen anzeigten!
Was man, zu einer Stadt kommend, als Erstes sah, war meist der Rabenstein,
demonstrativ an der Landstraße: zwei oder drei gemauerte Steinsäulen, miteinander verbunden durch
Balken, an denen gewöhnlich ein Gehängter baumelte oder mehrere; man nahm sie nicht ab nach der
Hinrichtung, sie blieben zur Abschreckung hängen, bis sie verfault, vertrocknet waren; nur wenn
hoher Besuch zur Stadt kam, wurden sie abgehängt, verscharrt. Köpfe, die auf Pfählen steckten,
gewöhnlich über den Stadttoren, die nahm man selbst zu feierlichen Empfängen nicht ab, die blieben
oben, bis sie von selbst herabfielen. Man spießte sogar die Stücke von Gevierteilten auf, um
Besuchern, vor allem Herumstreifenden zu zeigen: Hier wird scharf gerichtet.
Innerhalb der Stadtmauern vor allem: Dreck. Erst mit Beginn des 15. Jahrhunderts
begann man hier und dort zu pflastern, aber meist nur den Marktplatz, die eine oder andere Gasse,
dann vielfach «Steinerne Gasse» genannt. In den gewöhnlich noch ungepflasterten, auch in der
Konzilsstadt ungepflasterten Gassen die Gosse. Hier und dort hölzerne Übergänge oder kleine,
aufgeschüttete Dämme, an den Häusern entlang. Bei Regen konnte man in den Gassen kaum noch gehen –
Schlamm, Schlick. Wiederholt wird berichtet, dass Pferde bis über die Kniegelenke im Dreck
einsanken, manchmal bis zum Bauch. Dass es nicht bloß Schlamm war, in dem man einsank, dies zeigen
zeitgenössische Berichte. Sehr viele Stadtbewohner hielten Schweine, die sich in den Gassen
suhlten. Die Behörden versuchten hier und dort, die Sauerei einzudämmen, indem sie eine Höchstzahl
von Schweinen pro Haushalt ansetzten...
In den Gassen tote Ratten, Katzen, Hunde; Innereien von geschlachteten Tieren; aus
Fenstern wurden Fäkalien geschüttet. Es galt als erstaunliche Neuerung, als Ende des 15.
Jahrhunderts von der Stadt Nürnberg ein Knecht angestellt wurde, der mit einer Bütte umherzog und
die toten Ratten, Hühner, Hunde, Katzen aufsammelte, die er gleich vor dem nächsten Stadttor wieder
auskippte. Wie viele Fliegen während der Sommermonate in diesen Städten? Durch die Gassen zogen
Hausierer und Korbmacher, Lumpensammler und Kesselflicker, Kaminfeger und Abdecker, Kuppler und
Schweineschneider, Baderknechte, Kuchenverkäufer, Zahnbrecher. Und Landstreicher, Suppenfresser
genannt, auch: Suppenlecker, Schmalzbettler, Faltenstreicher, Schlegelwerfer. Zahlreiche Bettler,
die sich auf das Simulieren verschiedener Krankheiten spezialisiert hatten: Gelbsucht oder
Epilepsie; andere verbanden sich die Augen mit blutigen Tüchern und klagten, sie seien von Räubern
überfallen, geblendet worden. Armut – sie prägte entschieden das Bild einer spätmittelalterlichen
Stadt.
Theoretisch galt Armut als christliche Tugend; aber dieses Leitbild hatte in der
damaligen Gesellschaft wenig Auswirkungen. Nur die Reichen hatten etwas zu sagen in der Stadt, die
Patrizier, die Aufsteiger unter den Bürgern. Sie wohnten in eigenen Vierteln, hatten eigene
Kleidung; soziale Stufen sichtbar gemacht. Ein Geselle durfte nicht wie ein Meister gekleidet sein,
ein Bürger nicht wie ein Patrizier; zahlreiche Gesetze, Durchführungsbestimmungen zur
Kleiderordnung. Abgrenzungen, Abstufungen überall; wo sich die Metzger von den Gerbern
distanzierten, distanzierten sich die Gerber wiederum von den Abdeckern. Und die zünftigen Berufe
streng getrennt von den unehrlichen; zu denen gehörten die Henker, die Schinder, die
Büttel, die Totengräber, die Turmhüter, die Bader, die Spielleute. Von Vertretern dieser meist
unterprivilegierten Berufe wiederum abgesetzt die Personen mit sehr geringem oder gar keinem
Einkommen – die Armen und die Siechen, die Witwen und Waisen, die auf Almosen, Spenden, auf
Suppengeld, Brotgeld, Spitalkost angewiesen waren.
Wie groß war die Schicht derer, die kaum das Existenzminimum verdienten – und weniger? Die Zahlen unterscheiden sich nach Städten und Jahren, aber einige Richtwerte lassen sich doch angeben, für Oswalds Zeit: Zur sozialen Unterschicht gehörten etwa 25 bis 30 Prozent der Stadtbevölkerung; 4 bis 10 Prozent lebten in Kellerwohnungen. Die Vorstellung, dafür hätten wenigstens die Handwerker stattliche Häuser besessen, trifft insgesamt auch nicht zu; die Handwerkerfamilien wohnten oft eng und ärmlich zur Miete. Einer der Hauptgründe: Die reichen Händler (mit dem Handel, nicht mit der Herstellung wurden damals die großen Geschäfte gemacht!) steuerten vielfach die Produktionskapazitäten der Handwerksbetriebe durch Kontingentierungen – etwa der Tuchmengen, die jährlich hergestellt wurden... In Köln beispielsweise wurden etwa zehn Prozent der Bevölkerung in Spitälern abgefüttert. Ein großes, auch gefährliches Potential! Die Spenden wurden vielfach nur gemacht, um die Armen ruhig zu halten: Das Werk des Friedens sollte fest und sicher bestehen; so wurde das (schon) damals formuliert.
Nach: Dieter Kühn: Ich Wolkenstein. Biografie. Fischer Taschenbuch Verlag, 1996.
Der Text ist entnommen aus: http://www.oswald-von-wolkenstein.de/zeit.htm