Das liest man in Deutschland
Der Tod des Vaters
Josef Winkler schreibt aus der Ferne und ist seinem Vater ganz nah
«Ich sag dir eines, mein Sohn», schreibt der Vater, «wenn es soweit ist, ich möchte nicht, dass du zu meinem Begräbnis kommst.» Josef Winkler kommt dann auch nicht, und doch ist er anwesend. Als sein Vater im Alter von 99 Jahren in Kärnten stirbt, ist der berühmte Schriftsteller gerade auf einer Lesereise in Japan. In Tokyo, im Stadtteil Roppongi, erfährt er von seinem Tod, und als er im Garten der Botschaft einen Reiher sieht, denkt er: «Ich schaute hinaus auf einen Teich mit orangefarbenen Wakinfischen, als ein Reiher mit weit auseinandergebreiteten Flügeln am Rande des Teiches aufsetzte. Der tote Vater hat sich also, dachte ich in diesem Augenblick der Trauer und des Glücks, in der Gestalt eines weißen Reihers noch einmal bei mir blicken lassen, bevor er unter die Erde geschaufelt wird mit seinen langen, dünnen roten Beinen, mit seinem erdig gewordenen spitzen langen Schnabel, auf der Suche nach den Würmern seines zukünftigen Grabes in Roppongi. Sein Fluch war in Erfüllung gegangen; wir reisten nicht zurück, sondern blieben in Roppongi.» Froh war er, nicht dabei zu sein, «so dass ich beim Begräbnis des Vaters das Zügenläuten, das Geläute der kleinsten, den Tod ankündigenden und seit meiner Kindheit mein kleines kreuz und quer pochendes Kinderherz in Angst versetzenden Glocke meines Heimatdorfes, nicht hören musste».
Schon lange beschäftigt sich Winkler mit dem Tod, seit seinem Erstling Natura morta. Immer wieder hat er Angst vor ihm, nur durch das Schreiben kann er sie bannen1: «In aller Welt bin ich um sieben Uhr abends gefährdet... ich höre das Zügenläuten meines Heimatdorfes, immer wieder und überall, in Berlin, in Rom, in Tokio, in Indien, in Klagenfurt.» Deswegen schreibt er immer wieder über den Tod. Immer mit einem gewissen Abstand, immer ganz dicht dran, wie in Indien auf dem Verbrennungsplatz: «Ohne Notizbücher und Füllfeder hätte ich mir die vielen Einäscherungen und das Treiben auf dem Totenplatz nicht anschauen können, es hätte mich erdrückt, und ich hätte vor allem nachts in meinen Träumen keine Ruhe vor dieser Bilderflut des Todes gehabt, aber sie wurden in meinen roten, indischen Notizbüchern festgehalten, und sie wurden zwischen leere Seiten verbannt.»
Schon lange auch schreibt er über seinen übermächtigen Vater. In mehreren autobiografischen Romanen und Novellen beschäftigte er sich mit seiner Kindheit als ungeliebter Bauernsohn in dem streng katholischen, kleinen Dorf Kamering. In Roppongi erinnert er sich noch einmal an seine Kärntner Heimat, aber auch an Indien, das er bereist hat, das er jetzt als einen Versuch versteht, sich von seiner Herkunft zu lösen. «Was willst du denn in Indien? Was willst du in einem Land, wo sie die Kühe wie Heilige behandeln?», fragt er sich. Japan wird zu einer Art Ruhepunkt, von dem aus er noch einmal alles rekapituliert, sich alles noch einmal klarzumachen versucht. Ein Haltepunkt wird auch das berühmte Buch von den «Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder» des japanischen Nachkriegsautors Shichiro Fukazawa, das er immer wieder zitiert. Auch Fukazawa erzählt von den Dörfern, erzählt vom Sterben einer alten Frau, die von den Nachbarn bedrängt wird. Genauso fragten auch die Nachbarn seines Vaters, ob der Alte denn ewig leben will.
Der Tod des Vaters wird aber auch Anlass für Winkler, sich noch einmal an sein Leben mit ihm zu erinnern, an die schwierigen Verhältnisse auf dem Dorf, an das Arbeitsethos seines Vaters, an sein Unverständnis seinem Sohn gegenüber, der partout2 Schriftsteller werden will, bis er nur noch bitten kann: «Sepp! Mach uns keine Schand!» Winkler erinnert sich an die gewalttätigen Ausbrüche und an die mythische Existenz des Alten, der bis ins hohe Alter immer noch im Winter zum Holzschlagen in den Wald geht und sich mit noch fünfundneunzig Jahren einen Traktor kauft.
In einen Mythos steigt auch Winkler, der dann doch haarklein und minutiös3 noch vom Begräbnis erzählt, obwohl er doch im fernen Japan sitzt. In drastischen, direkten und sehr bildhaften Beschreibungen berichtet er von der Aufbahrung, beschreibt «das tiefe Erdloch, in dem sich mehrere von den Spatenstichen halbierte Regenwürmer krümmten», die Dorfbewohner, die sich mit der Kreissäge über den Leichnam des Vaters hermachen und dabei alles kurz und klein sägen. Und er sieht seinen Vater genau vor sich: «Mit den geerbten Schuhen seines Bruders, unseres Onkel Hans, dem braunen Kärntneranzug, der roten Krawatte, weißem Hemd, die von einem Rosenkranz umwickelten Hände zum christlichen Gebet gefaltet und, wie es hieß, wohlversehen mit den heiligen Sterbesakramenten, lag er in der Feistritzer Leichenhalle, umgeben von Blumenkränzen, im Sarg.»
Das kurze Buch, mit dem sich Winkler von seinem Vater verabschiedet, ist ein einziger großer Auswurf, ein mäandernder Ausruf und eine Anrufung zugleich. Es ist halb ein autobiografischer Bericht, halb ein Essay (über Musik, das Geiersterben, das Leben in Indien, den Vater, die Provinz), aber auch eine im kleistschen Sinn anekdotische Novelle über den Vater, über die schwierige Beziehung zwischen den Generationen, und über das Ersticken in der tiefsten österreichischen Provinz.
Winklers Sprache entwickelt schnell seinen spezifischen Sog4, den man bereits aus seinen anderen Büchern kennt. Seine Sätze sind kunstvoll, manchmal sogar kunstvoll unbeholfen, sich schlängelnd, in Variationen wiederkehrend, mit manchen dialektalen Wendungen oder Neuerfindungen, die einem schlagartig einen Sachverhalt sprachlich verdeutlichen. So etwa das großelterliche Schlafzimmer, «aus dem die Großeltern längst herausgestorben waren».
Es ist eine sehr anregende, manchmal anstrengende Lektüre, voller Bilder, Reflektionen, Erinnerungen, voller Ausbrüche und Melancholie, voller Zorn und voller Trauer. Es ist auch so etwas wie eine Summe, ein vorläufiger Abschluss einer dann doch nie endenden Arbeit am eigenen Leben, die uns Winkler mit virtuosen Wörtern vorführt, eine endlose Selbsterfahrung, aber, und das ist wichtig, mit den Mitteln der Literatur, mit einem ausgeprägten Sinn für Sprache und Rhythmus, für Bilder und Metaphern, für Wahrheit und Erfindung. Die manchmal dann doch eine höhere Art von Wahrheit ist.
Von Georg Patzer
Josef Winkler: Roppongi. Novelle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de
1ban|nen <sw. V.; hat> [mhd. bannen = bannen, (unter Strafandrohung) ge- od. verbieten, ahd. bannan = gebieten, befehlen; vor Gericht fordern, urspr. = sprechen; seit dem 15. Jh. als Abl. von Bann empfunden u. sw. V.]: jmdn., etw. durch magische Kraft vertreiben: der Zauberer versuchte den bösen Geist zu b.; Ü die Hochwassergefahr war noch nicht gebannt (abgewendet).
2par|tout [...´tu:] <Adv.> [frz. = überall; allenthalben, zu: par = durch u. tout = ganz] (ugs.): unter allen Umständen; unbedingt.
3mi|nu|ti|ös, minuziös <Adj.> [frz. minutieux, zu: minutie = (peinliche) Genauigkeit < lat. minutia, zu: minutus, Minute] (bildungsspr.): 1. peinlich genau: eine -e Schilderung; etw. m. darstellen. 2. (veraltet) kleinlich.
4Sog, der; -[e]s, -e [aus dem Niederd. < mniederd. soch, eigtl. = das Saugen, zu saugen]: 1. (in der nächsten Umgebung eines Strudels od. Wirbels od. hinter einem sich in Bewegung befindenden Gegenstand, z. B. einem fahrenden Fahrzeug, auftretende) saugende Strömung in Luft od. Wasser: einen S. erzeugen; in den S. der Schiffsschraube geraten; Ü der S. (die starke Anziehungskraft) der großen Städte. 2. (Meeresk.) Strömung, die unter landwärts gerichteten Wellen seewärts zieht.