Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №17/2008

Sonderthema

Wilhelm Raabe
Der Lebensweg

Die Familie und ihre Zeit
Am 8. September 1831 wurde Wilhelm Raabe in Eschershausen geboren. Sein Vater Gustav Raabe (1800–1845) war seit 1827 als Aktuar am Amtsgericht Eschershausen tätig, einem Flecken, der erst 1833 als kleinste Stadt des Herzogtums Braunschweig die Stadtrechte erhielt. Die Mutter Auguste Johanna Friederike Raabe (geb. Jeep) war seit 1829 mit Gustav Raabe verheiratet.
Ein besonders enges Verhältnis besaß Wilhelm Raabe zu seinem Großvater August Heinrich Raabe (1759–1841). Dieser war zuletzt Postmeister in Holzminden. «Der Mann ist von früh auf literarisch tätig gewesen. Ein unermüdlicher Aufklärer des 18. Jahrhunderts! ... Ich habe von ihm Manches für mein Odfeld gebrauchen können», erinnerte Wilhelm Raabe. Mit seinem Großvater, einem Befürworter der Französischen Revolution von 1789 und der Befreiungskriege von 1813/15 konnte sich der Enkel uneingeschränkt identifizieren. Eine Notizen- und Abschriftenmappe (Collectanea) und Beiträge des Großvaters im «Holzmindischen Wochenblatt» bewahrte Wilhelm Raabe nicht nur sorgfältig auf, sondern nutzte sie auch für seine Werke, bis hin zu längeren Zitaten sowie textlichen Übernahmen.

img1

Raabes Geburtshaus in Eschershausen

August Heinrich Raabe war keineswegs nur Postmeister in Holzminden, sondern auch Redakteur und Schriftsteller. Ursprünglich hatte er an der braunschweigischen Landesuniversität Helmstedt Theologie studiert, fand jedoch keine Anstellung als Pfarrer im Herzogtum Braunschweig. Eine Unterredung mit Herzog Carl Wilhelm Ferdinand endete mit dem legendären Hinweis an den Kandidaten der Theologie: «Mein lieber Raabe, man kann dem Vaterland ebenso gut in einem blauen wie in einem schwarzen Rock dienen.» Der Kandidat verstand und trat in den herzöglich-braunschweigischen Postdienst und gelangte von Holzminden über Braunschweig wieder zurück nach Holzminden, wo er 1838 sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum feiern konnte. Seine Kollegen schenkten ihm dazu einen silbernen Pokal, aus dem auch sein siebenjähriger Enkel Wilhelm einen kräftigen Schluck nahm und so «den ersten kleinen Rausch gezeugt hat». August Heinrich Raabe war ein produktiver Schriftsteller sowie engagierter Aufklärer, der auch einen engen Kontakt zu seinem Landsmann in Deensen, Joachim Heinrich Campe (1746–1818), pflegte.
Der Vater Gustav Raabe, ein aufgeweckter, wissbegieriger, lebenslustiger, strebsamer, angesehener, schriftstellerisch und musikalisch begabter Jurastudent, Verwaltungsjurist und Richter konnte jedoch nicht entscheidend auf Wilhelm Raabe wirken. Nicht nur, dass er starb, als der Sohn gerade 13 Jahre alt war, auch führte seine Lebens- und Berufseinstellung bei Wilhelm Raabe zu innerer Distanz gegenüber dem Vater. Sein Lebensmotto «Der Mensch kann alles lernen, was er will» führte zu Konflikten mit dem ältesten Sohn, der sich in einem bitter klingenden Fazit über das gespannte Verhältnis zum Vater äußerte: «Der frühe Tod meines Vaters war mein Schicksal. Hätte er länger gelebt und mich erzogen, so wäre ich vielleicht ein mittelmäßiger Jurist geworden – einer von uns musste weichen!» Der Berufsweg des Vaters führte die Familie Raabe von Eschershausen über Holzminden nach Stadtoldendorf, wo der Vater am 31. Januar 1845 starb.

Wilhelm Raabes Schul- und Lehrzeit
Nach dem plötzlichen Tod des Vaters siedelte die Familie nach Wolfenbüttel über. Die Mutter hoffte hier auf schulische Förderung des ältesten Sohnes durch ihre Brüder Justus und Christian Jeep, die beide am Gymnasium «Große Schule» tätig waren. Wilhelm Raabe war in seiner Schulzeit in Stadtoldendorf mangelhaft ausgebildet worden und musste nun um mehrere Jahrgänge zurückversetzt werden. Er empfand dies als tiefe Demütigung. Als er Ostern 1849 das Gymnasium verließ, hatte er keinen Abschluss, der zu einem ordentlichen Hochschulstudium berechtigt hätte. Das Abgangszeugnis vom 28. März 1849 bestätigte, dass er sich «in den Schulwissenschaften fleißig zu vervollkommnen» suchte. In der kleinbürgerlichen Honoratiorengesellschaft von Wolfenbüttel galt er als Versager. Er wurde zunehmend das Sorgenkind der Mutter, die Raa­be stets dankbar als liebevolle Alleinerzieherin schilderte. Sie hielt zu ihrem Ältesten und wurde für ihren Sohn zugleich Mutter und Freundin. Als sie 1874 starb, schrieb er: «Ich habe unendlich viel verloren, denn ich habe geistig ununterbrochen mit ihr gelebt, und was ich getan habe, habe ich für sie getan.»
Seine nächste Lebensstation war Magdeburg, wo er von 1849 bis 1853 in der Creutzschen Buch- und Musikalienhandlung – dem ersten Geschäft am Platze – eine Buchhändlerlehre absolvierte. In jeder freien Minute seiner Ausbildungszeit, die er als «Faulenzen mit Hindernissen» empfand, widmete er sich der Lektüre. Besonders wichtig wurden ihm alte Chroniken aus dem Antiquariat der Buchhandlung, die ihm nach eigener Aussage mehr Anregungen geboten haben als das Universitätsstudium. Zu den Autoren, die Raabe las, zählten Balzac, Scott, Sterne, Thackeray und Dickens sowie Heine, Freiligrath und E.T.A. Hoffmann. Magdeburg wurde zum Ausgangspunkt seines Schriftstellerlebens: «Wie mich darnach unseres Herrgotts Kanzlei, die brave Stadt Magdeburg, davor bewahrte, ein mittelmäßiger Jurist, Schulmeister, Arzt oder gar Pastor zu werden, halte ich für eine Fügung, für welche ich nicht dankbar genug sein kann.»
Mehr als bisher angenommen, dürfte Magdeburg für Wilhelm Raa­be ein fester Bestandteil seiner Lebensplanung auf dem Weg zum freien Schriftsteller gewesen sein. Pubertäre Orientierungskrisen, psychosomatische Störungen und die Folgen einer tief greifenden Erschütterung über den Freitod des Sohnes seines Dienstherrn waren Spuren einer ungesicherten Lebenseinstellung, die zu grundlegenden Lebenserfahrungen wurden. Überraschend verließ er Magdeburg ohne Gehilfenprüfung und erschien in Wolfenbüttel erneut als Gescheiterter.

Ein Buch schreibt Geschichte
Von 1854 bis 1856 besuchte Wilhelm Raabe als Gasthörer die Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Nach der Rückkehr aus Magdeburg hatte er vergeblich versucht, in Wolfenbüttel die Hochschulreife nachzuholen. Dennoch ging er nach Berlin: «Eine ziemliche Menge sehr verworrenen Wissens hatte ich im Hirn zusammengehäuft, jetzt konnte ich Ordnung darein bringen und tat es nach Kräften. Ohne Bekannte und Freunde in der großen Stadt war ich vollständig auf mich selbst beschränkt und bildete mir in dem Getümmel eine eigene Welt.» Wie die Testate seiner Professoren belegen, besuchte er gewissenhaft Vorlesungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Kunstwissenschaft und Ästhetik. Prägend aber wurden seine Erfahrungen mit dem Leben in der Großstadt. In der Erzählung Theklas Erbschaft knüpfte Raabe an seine Berliner Erfahrungen an: «Ich war ein Student und ich studierte in Berlin die schönen Wissenschaften und die hässlichen für das Vergnügen und ums liebe Brot. Ich studierte aber auch das Leben und in ihm das Schöne und das Hässliche von demselben Blatt – o großer Gott, was ich alles studiert habe!» Raa­be pflegte nur wenige Kontakte, erwähnenswert ist die Freundschaft zu August Stülpnagel. Dieser führte eine Leihbücherei mit deutschen, französischen und englischen Neuerscheinungen in Verbindung mit einem Antiquariat. Zweifellos hat Raabe die Gelegenheit genutzt, sein unbändiges Leseinteresse zu stillen.
In diese Zeit fiel der Beginn der Arbeit an der Chronik der Sperlingsgasse. Raabe will am 15. November 1854 mit der Niederschrift begonnen haben: «Ich hatte mir das gelbe Papier aus einer leeren Zigarrenkiste herausgerissen, darauf habe ich die Sperlingsgasse (begonnen).» Raabe selbst hat diese Form seiner Berufung zum Dichter mit der Stilisierung des «Federansetzungstages» gefördert; seine Verehrer haben diesen Mythos bis in die Gegenwart gepflegt. Mit der Chronik hatte sich Raabe im Winter 1855 «frei geschrieben». In der Selbstverwirklichung als Schriftsteller fand er die Bestätigung seines Berufszieles. Es war der in seiner Zeit ungewöhnliche Versuch, den Lebensunterhalt zukünftig aus der Tätigkeit als freier Schriftsteller zu bestreiten. Zugleich war dies eine Entscheidung für eine Isolation im Schaffen: «Im Augenblick, wo der echte Künstler schafft, hat er weder Weib noch Kind und am allerwenigsten Freunde».
Zunächst bereitete die Suche nach einem Verleger Probleme, sodass Raabe keine wirtschaftliche Basis in Berlin sah und zur Mutter nach Wolfenbüttel zurückkehrte. Diese empfing den scheinbar erneut Gescheiterten mit wenig Hoffnung für seine berufliche Zukunft: «Als ich jung von Berlin kam und brachte ihr das Manuskript der Chronik mit und legte es ihr vor, da sagte sie: ‹Ach, Wilhelm, es wird ja doch wieder nichts.›»

Die Anfänge des Schriftstellers
Um den Druck seines Erstlingswerkes bei einem Berliner Verleger zu ermöglichen, musste sich Wilhelm Raabe von seiner Mutter und seinem Bruder Geld leihen. Mit dem Erfolg der Chronik der Sperlingsgasse wurde aus dem gesellschaftlichen Außenseiter ein angesehenes Mitglied des Wolfenbütteler Honoratiorentums. Raabes Onkel Christian Jeep blieb des Erfolges kritisch und meinte: «Sage nur ja keinem, dass ich auf dem Gymnasium Dein Lehrer im Deutschen gewesen bin.» In Wolfenbüttel hatte der Schriftsteller Wilhelm Raabe die produktivste Phase seiner Tätigkeit. Hier entstanden fünf Romane und dreizehn Erzählungen, die sich teilweise auch mit der Geschichte der näheren Heimat beschäftigten, wie etwa Die alte Universität (1859). Später bewertete Raabe seine literarischen Arbeiten jener Jahre als «Probierversuche» und «veraltete Schnurren». Mit dem Briefroman Nach dem großen Kriege (1861), der die Freiheitskriege aufgreift, wollte Raabe inhaltlich noch einmal an den Erfolg der Chronik anknüpfen.

img2

Das Raabe-Haus
in Braunschweig

Raabe war stets gezwungen, auf die Vermarktungsmöglichkeiten seiner Werke zu achten. Daher wurden sie zunächst als Fortsetzung in Zeitschriften abgedruckt und erst später in Buchform publiziert. Durch die Freundschaft mit dem Redakteur Adolf Glaser war es für Raabe möglich, seine Werke in «Westermanns Illustrierten Deutschen Monatsheften» zu veröffentlichen. Die dadurch beständig fließenden Honorare bildeten eine solide wirtschaftliche Grundlage seines Lebens. Höhepunkt der gesellschaftlichen Anerkennung Raabes in Wolfenbüttel war die Schiller-Feier 1859, zu der er das Festgedicht verfasste. Die freiheitlich-nationale Orientierung der Schiller-Feier entsprach Raabes politischen Vorstellungen. Er wurde am 26. Mai 1860 Mitglied im «Deutschen Nationalverein», zu dessen Tagungen er 1860 nach Coburg und 1861 nach Heidelberg reiste.
Raabe unternahm vom 5. April bis 18. Juli 1859 eine Bildungsreise, deren ursprüngliches Ziel Italien war. Er kam jedoch nur bis Wien, da der Krieg zwischen Österreich und Frankreich in Oberitalien seine Weiterreise verhinderte. Besuche bei Schriftstellern und verschiedenste kulturelle Eindrücke bestimmten diese für Raabes literarische Vorstellungswelt wichtige Reise. Besonders intensiv waren die Kontakte zu Kollegen und Verlegern in Stuttgart, einem der literarischen Zentren Deutschlands im 19. Jahrhundert. Zwei Jahre später siedelte Raabe mit seiner jungen Ehefrau Bertha Emilie Wilhelmine, die er am 24. Juli 1862 in Wolfenbüttel geheiratet hatte, nach Stuttgart über. Die Tochter aus der angesehenen und begüterten Honoratiorenfamilie Leiste galt als leidenschaftlich, zärtlich, treu sowie geistig rege, politisch aufgeweckt, kulturell engagiert und kreativ leistungsfähig.

Raabe in Stuttgart
Die literarische Bedeutung und Betriebsamkeit der Stadt hatte Wilhelm Raabe veranlasst, unmittelbar nach seiner Heirat nach Stuttgart überzusiedeln. Im Rückblick bezeichnet er die Stuttgarter Zeit als seine glücklichste Lebenszeit, wozu sicherlich die junge Ehe, die Geburt der Tochter Margarethe im Jahr 1863 sowie intensive gesellschaftliche Kontakte beigetragen haben. Eine spätere Äußerung Raabes, in Stuttgart seien in einem Jahr mehr Schriftsteller und Literaturfreunde durch sein Haus gegangen als in Braunschweig während der ganzen Zeit seines Aufenthaltes, unterstreicht dies eindrucksvoll.
Von der «Museumsgesellschaft» über «Kaffee Rheinsberg» und «Sonntagskränzchen» bis hin zum «Bergwerk» nahm Raabe von Anfang an die Gelegenheit wahr, gesellige Kontakte zu pflegen. Im «Bergwerk» trafen sich ehrbare Bürger der Stadt und verkleideten sich als Bergleute, um Rituale zu vollziehen, die ebenfalls in der Bergmannssprache bezeichnet und abgelegt wurden. Es war eine eigenartig philiströse Welt und schon 1865 erklärte Raabe seinen Austritt, da ihm «der gequälte Humor» schnell «zu viel wurde». In der Folgezeit besuchte er gemeinsam mit seiner Frau Theater, Konzerte und Museen. Die euphorische Stimmung der Anfangszeit, in der Raabe meinte, «als Schriftsteller wie als Mensch könnte ich jetzt in ganz Deutschland keinen besseren Aufenthaltsort finden», wich bald einer kritischen Beurteilung. Raa­be begann unter den geselligen Verpflichtungen, die mit Kosten, Arbeitsunterbrechungen und Stimmungsschwankungen verbunden waren, zu leiden. Finanzielle Sorgen, Ärger über seine häuslichen Zustände, Dienstmädchenprobleme und Ehekrisen belasteten zunehmend die Stuttgarter Jahre. Der Kontakt zur alten Heimat blieb jedoch nicht nur brieflich erhalten, sondern wurde durch zwei Reisen nach Norddeutschland noch vertieft. Die Veränderung der politischen Lage in Deutschland in der Mitte der 1860er Jahre bedeutete den Bruch Raabes mit seiner Wahlheimat und erstmals dachte er an eine Rückkehr nach Braunschweig.

«Heimatlose Stimmung»
«Deine Bemerkungen über die Veränderung, die in meiner Schriftsteller-Anschauungsweise allmählich sich vollzieht, erkenne ich als begründet an; – man wird eben älter und auch ich glaube meine mehr lyrische Periode glücklich hinter mir zu haben. So putze ich denn meine epische Rüstung und gedenke als deutscher Sitten-Schilderer noch einen guten Kampf zu kämpfen», schrieb Raabe 1866 in einem Brief. Den entscheidenden Einschnitt zu seinem «abgestandenen Jugendquark» legte Raabe zwischen den 1864 erschienenen Hungerpastor und den Drei Federn im Jahr 1865.
Mit der ersten Folge des Hungerpastor startete der Verleger Janke im November 1863 seine «Deutsche Roman-Zeitung». Raabe war im Grunde gegen die Vorabdrucke in Fortsetzungen, blieb jedoch finanziell vom lukrativen Zeitschriftenwesen abhängig. Die wichtigsten Werke der Stuttgarter Jahre waren: Der Hungerpastor, Abu Telfan, Der Schüdderump sowie Else von der Tanne, Drei Federn, Die Gänse von Bützow, Im Siegeskranze und Der Dräumling (erschienen erst 1872).
Trotz der beachtlichen literarischen Leistung wuchs Raabes Unzufriedenheit: «Für die Kritik, wie sie sich jetzt manifestiert, bin ich tot und freue mich darüber.» Neben privaten Sorgen und Unzugänglichkeiten im Literaturbetrieb belastete Wilhelm Raabe auch eine politische Krise: die Reichseinigungskriege von 1864 und 1866. «Auch bei uns ist die Aufregung in Sachen Schleswig-Holsteins sehr intensiv und wächst von Tag zu Tage; ich glaube sogar, das Volk rührt sich mehr wie bei Euch, und von unsern demokratischen Kreisen aus wird alles getan, die Massen in Fluss zu bringen ... ich glaube, die Krisis ist zum Besten der Nation: Es bleibt nichts übrig als die Revolution und nur die Revolution; in den Kreisen, in welchen ich verkehre, fühlt und sagt das Jedermann.» In der Hoffnung, dass die Reichseinigungskriege mit der anachronistischen Kleinstaaterei in Deutschland ein Ende machen würden, befürwortete Raabe die sogenannte kleindeutsche Lösung Preußens. 1866 hatte er sich daher der «Deutschen Partei» angeschlossen. Seine Stuttgarter Freunde waren dagegen auf der Seite der großdeutsch-demokratischen schwäbischen Fortschritts- und Volkspartei und wurden zu politischen Gegnern. Bei einer politisch motivierten Auseinandersetzung am 12. Juli 1866 in der Stuttgarter Liederhalle lernte Raabe den gleichgesinnten Publizisten und Literaten Wilhelm Jensen kennen. Hieraus entwickelte sich die wichtigste Freundschaft für Wilhelm und Bertha Raabe. Prägend war dabei vor allem Wilhelm Jensens Frau Marie, die inspirierend auf Raabes Werk wirkte.
Wilhelm Raabe hatte seine seit 1864 bestehende «heimatlose Stimmung» nicht mehr abgelegt. Nachdem auch das Ehepaar Jensen 1868 Stuttgart verlassen hatte, stand der Rückkehr nach Norddeutschland nichts mehr im Wege. Am 17. Juli 1870 verließ die Familie Raabe, nach der Geburt der Tochter Elisabeth 1868 nun mit zwei Kindern, Stutt­gart in Richtung Braunschweig.

«Nicht zanken, wir sind jetzt alle Brüder»
Die Reise von Stuttgart nach Braunschweig, die Raabe mit seiner Familie am 17. Juli 1870 antrat, dauerte vier Tage, da die Mobilmachung für den Deutsch-Französischen Krieg zu erheblichen Verspätungen im Zugverkehr führte. Allerdings wurden in Nürnberg und Kassel Aufenthalte für Besichtigungen eingelegt. Überall herrschte Kriegsbegeisterung und am Schalter in Nürnberg notierte Raabe: «Nicht zanken, wir sind jetzt alle Brüder.» An seine Mutter hatte er am 17. Juli 1870 noch geschrieben: «Keine Sorgen machen. Hier großer Enthusiasmus. Aller Parteischwindel zu Ende. Krieg bis zum Messer gegen die Franzosen!»

img3

Wilhelm Raabe

Aus einem eher grotesken Anlass begann der Deutsch-Französische Krieg. Ausgangspunkt war die Thronfolge in Madrid, die den Hohenzollern angeboten worden war. Der preußische König Wilhelm I. lehnte auch nach erneuter Intervention Bismarcks die Thronfolge für das Haus Hohenzollern ab. Frankreich aber verlangte Garantien, dass niemals wieder ein Mitglied des Hauses Hohenzollern für den spanischen Thron in Frage kommen dürfe. Den Bericht über die­se Aufforderung kürzte Bismarck so, dass er der Aufforderung einer Kriegserklärung gleichkam (Emser Depesche). Ein bizarrer Kriegsgrund für Frankreich, die wirklichen Kriegsgründe lagen hingegen tiefer. Es ging um Frankreichs Vormachtstellung auf dem europäischen Kontinent, um die deutsche Einheit und das künftige Gesicht Europas. Es war keineswegs klar, dass Süddeutschland mit Preußen in den Krieg ziehen würde. Durch die knappen Entscheidungen der Länderkammern zugunsten Preußens wurde dies jedoch möglich. Ein Blitzkrieg Preußens sicherte schnelle Erfolge in Lothringen; Sedan und Metz wurden eingeschlossen.
Am Ende stand am 18. Januar 1871 die Ausrufung von Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser in Versailles. Raabes politische Hoffnungen schienen sich mit der Reichsgründung zu erfüllen, so muss man jedenfalls seine Äußerungen zu Kriegsbeginn verstehen. Nachdem er festgestellt hatte, dass er politisch, kulturell und sozial groß geträumt hatte und schließlich in einem Deutschen Reich aufgewacht war, wo spätfeudale Scheinkultur, militärisches Imponiergehabe, Klassenzwietracht und Profitsucht miteinander wetteiferten, wuchs jedoch seine Enttäuschung. Entsprechend heftig hatte Raabe bereits auf die Kriegslyrik reagiert, zu der übrigens auch sein Freund Jensen einen Beitrag geliefert hatte: «Herrgott, was haben wir für eine Menge schlechter Dichter! Es ist doch eine Schande um diese Masse elendes Gereimsel.» Für Raabe stand fest: «Der alte Goethe hatte recht: es soll niemand Kriegslieder singen, der nicht selber mit in den Krieg zieht.» Raabe sang nicht und war endgültig in seinem «Duodez Vaterländchen» angekommen: Braunschweig – seit 1871 ein selbstständiger Bundesstaat im neuen Deutschen Reich.

Wilhelm Raabe und Braunschweig
«Vor kurzem von Stuttgart nach Braunschweig übergesiedelt, saß ich hier völlig in der Einsamkeit ohne Freunde, ja auch ohne Bekannte – dem gebildeten, gelehrten und ungelehrten Honoratiorentum höchstens ein absonderlicher und dazu etwas verunglückter Romanschreiber.» Ein Fremder in der Heimat, so schien sich Raabe in Braunschweig zu empfinden. Zunächst wurde das Leben von der Familie bestimmt: 1872 und 1876 wurden die Töchter Klara und Gertrud geboren. Am 1. November 1874 starb Raabes Mutter. «Verklungen ach! Der erste Wiederklang», so lautete seine Tagebuchnotiz. Besonders betroffen war er vom Tod der jüngsten Tochter am 24. Juni 1892: «Gestern vor acht Tagen haben wir unsere Gertrud begraben, und so liegt nun mein junges schönes Kind zwischen allem, was bis jetzt noch gesund und frisch in mir war, und dem, was übrig blieb. Das ist eine Schranke, die sich nicht wieder niederlegen lässt: Sie haben und finden nun in Wahrheit einen alten Mann an mir, wenn Sie mich wieder einmal besuchen!»

img4

Wilhelm Raabe-Relief in Braunschweig

Mehrfacher Wohnungswechsel, regelmäßiger Besuch im «Großen Club» und in «Herbsts Weinstube», Mitgliedschaft in verschiedenen Männerzirkeln, gelegentliche Reisen und des Öfteren Bahnfahrten in den Harz waren die Eckpunkte der Braunschweiger Zeit ohne besondere äußere Ereignisse. In Braunschweig schrieb Raabe 32 Romane und Erzählungen, darunter: Meister Autor, oder die Geschichten vom versunkenen Garten (1874), Höxter und Corvey (1875), Die Innerste (1876), Pfisters Mühle (1884), Das Odfeld (1888), Stopfkuchen (1891), Hastenbeck (1899) sowie Altershausen (1911). Seit 1902 bezeichnete er sich schließlich als Schriftsteller a. D.
Aus Anlass seines 70. Geburtstages 1901 erlebte Raabe zahlreiche Feiern und Ehrungen. Er erhielt die Ehrenbürgerwürde der Städte Eschershausen und Braunschweig sowie die Ehrenpromotion der Universitäten Göttingen und Tübingen. Die Aufmerksamkeit zum 70. Geburtstag machte Raabe einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, wobei er sich stets gegen die Einschätzung als norddeutscher Dichter entschieden zur Wehr setzte: «Ich will kein Heimatdichter sein, sondern ein deutscher Dichter!»
Die Haupt- und Residenzstadt Braunschweig hatte sich bis 1905 zu einem bedeutenden Industriezentrum mit nahezu 130 000 Einwohnern gewandelt. Die Industriestadt, die eine Hochburg der Sozialdemokratie war. Mit den aktuellen Problemen seiner Zeit – Industrialisierung, deren wirtschaftlichen und sozialen Folgen, Umweltverschmutzung – setzte sich Raa­be in seinem Spätwerk auseinander. Die letzten Lebensjahre verbrachte er in der Wohnung Leonhardstraße, die heute Raabe-Museum der Stadt
Braunschweig ist. Hier besuchte ihn 1909 Hermann Hesse: «...und so sieht ihn meine Erinnerung heute noch: in einer kleinen dämmrigen Stube, Bücher auf dem Tisch, Bücher an den Wänden, stehend, sehr groß und aufrecht, aus milden, aber übermenschlich klugen Augen auf mich niederblickend...» Diese Augen schlossen sich am 15. November 1910.

Wilhelm Raabe
Zeittafel

1831 Am 8. September in Eschershausen (bei Holzminden) geboren.
1832 Übersiedlung nach Holzminden, wo Raabe ab 1837 die Bürgerschule, ab 1840 das Gymnasium besucht.
1842 Umzug nach Stadtoldendorf, nach dem Tod des Vaters 1845 nach Wolfenbüttel.
1849–1853 Buchhändlerlehre in Mag­de­burg. Der Versuch, das Abitur nachzuholen, scheitert.
1854–1856 In Berlin Gasthörer an der Universität. Die Chronik der Sperlingsgasse erscheint im Oktober 1856.
1856–1862 In Wolfenbüttel als freier Schriftsteller. Es erscheinen zahlreiche Novellen und Romane, oft mit historischen Stoffen wie z. B. Die schwarze Galeere (1861).
1862–1870 Heirat und Übersiedlung nach Stuttgart. Es erscheinen Die Leute aus dem Walde (1863), Der Hungerpastor (1864), Else von der Tanne, Drei Federn (beide 1865), Die Gänse von Bützow (1866), Abu Telfan (1867), Der Schüdderump (1869) u. a.
1870 Übersiedlung nach Braunschweig, wo Raabe in den nächsten 40 Jahren viele weitere Novellen und Romane schreibt, in denen seine Sympathie für Außenseiter und Sonderlinge mit einer äußerst kritischen Haltung gegenüber dem «germanischen Spießertum» seiner Zeit und seiner Landsleute korrespondiert. Die wichtigsten Werke aus dieser Zeit: Der Dräumling (1872), Zum wilden Mann (1874), Höxter und Corvey (1875), Horacker (1876), Wunnigel (1879), Alte Nester (1880), Pfisters Mühle (1884), Unruhige Gäste (1886), Im alten Eisen (1887), Das Odfeld (1888), Der Lar (1889), Stopfkuchen (1891), Die Akten des Vogelsangs (1896), Hastenbeck (1899), Altershausen (unvollendet, postum 1911). – In den letzten 10 Jahren seines Lebens schreibt Raabe nichts mehr; vielfache Reisen an die Nord- und Ostsee.
1910 Am 15. November stirbt Raabe in Braunschweig.

Der Text ist entnommen aus: http://www.webcss.de