Sonderthema
Wilhelm Raabes Werk
«Wenn ihr wüsstet, was ich weiß», heißt es in dem Spruch des Propheten Mohammed, der dem Abu Telfan als Motto vorangesetzt ist, «ihr würdet viel weinen und wenig lachen.» Es ist nötig, die Wahrheit zu wissen, aber besser, von ihr zu sprechen, als zähle man Nüsse hin. Nüsse über Nüsse, in der langen Folge seiner Romane. Uns blieben Jahrzehnte, sie aufzuknacken. Haben wir jetzt schon den bitteren Kern geschmeckt?
Als Raabe zu schreiben anfing, es ist um die Jahrhundertmitte, beginnt die große Verwandlung. Die politische, wirtschaftliche und soziale Verwandlung, von der nichts verschont bleibt, die Landschaft nicht und besonders nicht der Mensch, sein Lebensgefühl und das seelische Klima. Wissen wir eigentlich schon, was Raabe von dem Neuen am meisten erregt hat?
Von dem jungen Schriftsteller Corvinus, der auf die gelbe Papiereinlage einer Zigarrenschachtel die ersten Sätze seiner Chronik der Sperlingsgasse notierte, haben wir nur ungenaue Nachrichten. Aber er lebt im Herzen von Berlin, nur ein paar hundert Meter vom Schloss entfernt, wo im März 1848 der graue endlose Zug von Menschen mit seinen Toten defilierte, es regnete, der König stand mit entblößtem Haupt auf dem Balkon. Wenn ihr wüsstet, was ich weiß. Es gibt Wissende in Berlin, und Raabe gehört wohl zu ihnen. Nicht die Revolutionsfanfare, nicht der lärmende Betrieb der ersten Gründerjahre, nicht der dunkle Zug von Menschen aus den Arbeitervierteln ist es, was ihn mit einer schockartigen Wirkung bewegt haben muss. Das alles weiß er, aber er weiß noch mehr – was nach Berliner Art unübertrefflich in die Alltagssprache übersetzt ist im Titel einer Witzzeitung, die damals zu erscheinen beginnt: der Kladderadatsch.
Fast will es scheinen, als habe Wilhelm Raabe den Auftrag, den die Zeit für ihn hatte, so präzise und genau erhalten, dass er auf immer enger werdenden Spiralen in das Gehäuse des eigenen Lebens sich einschließt. Wenige Fühler nur zur Außenwelt: eine größere Reise in den Süden, die vorzeitig abgebrochen wird, ein paar Jahre in Stuttgart, dann aber wieder in der niedersächsischen Heimat, Jahrzehnte des Schreibens, Jahrzehnte zwischen Schreibtisch, Leseklub und schweigsamem Stammtisch in der Weinstube von Herbst.
1857 erschien die Chronik der Sperlingsgasse unter dem Pseudonym Jakob Corvinus, das wie eine Signatur der eigenartigen Welt Raabes wirkt. Hebbel applaudierte dem Erstling und nannte ihn eine Ouvertüre, der nur die Oper fehle. Wilhelm Raabe hat sie in den kommenden Jahrzehnten geschrieben, diese große Oper des deutschen Schicksals, die als eine dunkle, ahnungsvolle Grundmelodie durch das riesige erzählende Werk hindurchgeht. Ein Mensch, der ganz zum Bürgertum gehört, wittert, noch bevor das Bürgertum seinen höchsten Aufschwung genommen hat, den Zusammenbruch, der kommen muss. Schon vor dem Jahre 1871 mit seinem glänzenden Äußeren ahnt Raabe das kommende 1918.
Schwerlich hat einer seiner zeitgenössischen Leser Verständnis dafür gehabt, wie schreckbar genau die deutsche Wirklichkeit im oft so gemütlichen und skurrilen Spiegel der Raabe’schen Romane abgebildet war. Aber Raabe hat auch alles getan, um die Botschaft zu verhüllen, die er unermüdlich zu seinen Lesern trug. Nicht nur, weil den nackten Kern doch keiner verstanden hätte, nicht nur, weil Verhüllen immer ein Anliegen der Kunst sein muss, es scheint noch ein anderes Motiv hinzuzukommen. Raabe ging bewusst nicht den Weg der Kassandra, des Propheten aus der Wüste mit den hohlen, fernhin klingenden Gespensterrufen – dieser Weg, zu dem so viele der schöpferischen Kräfte verurteilt waren. Denn Raabe kommt es auf das Dabeisein, auf das Verstandenwerden an. Was aber der Bürger versteht, das muss in seiner Sprache reden, muss aus seiner Gefühlswelt wachsen. Möglicherweise wird das Stilphänomen Raabe von diesem Motiv her einmal erklärt werden können. Jedenfalls weiß er genau, dass nicht nur im staatlichen und gesellschaftlichen Bereich jahrhundertealte Bindungen sich zu lockern beginnen, sondern dass auch die transzendenten und geistigen Bindungen, die das Säkulum noch mit dem abendländischen Erbe verbanden, endgültig zerstört sind. Das Säkulum, so nennt er seine Gegenwart, über dem er die dunklen Gewitterwolken künftiger Entwicklung sieht. Jedes seiner Bücher zeigt den werdenden Staat auf einer anderen Stufe seiner Entwicklung, jedes seiner Bücher ist, offener oder verhüllter, eine Warnung vor dem Zeitgeist. Raabe sieht genau, was geschieht: den restlosen Verschleiß des Erbteils deutschen Wesens, das aus dem strahlenden Beginn dieses Jahrhunderts noch gerettet war, und die Verwandlung fruchtbarer Innerlichkeit in die Geschäftstüchtigkeit des neuen Reiches. So schafft er sich eine große Familie von Figuren, die miteinander verwandt durch Denkart und Lebensgefühl, durch Grundsätze und Kauzigkeiten, übrigens auch durch ihre Lieblingsbücher, alle eine gemeinsame Heimat seitab des Säkulums finden. Wir können sie nicht alle aufzählen, denn es ist ein langer Weg von den Menschen der Sperlingsgasse bis zum Geheimrat Feyerabend im Alterswerk Altershausen. Die berühmte Trilogie ist der Abgesang des deutschen Idealismus, im Stopfkuchen zieht ein gespenstiger Dämonenzug durch die niedersächsische Idylle der Roten Schanze. Aus dem behaglichen Kleinbürgerleben der Akten des Vogelsangs steigt visionär die Gestalt des Unbehausten, des Besitzlosen auf. Im Fragment gebliebenen Altershausen setzt er die Sonde so tief an, dass sie bis ins Unbewusste führt. Mitten aus Erfolg und Ehrungen bricht der berühmte Gelehrte Feyerabend auf, um in die Bezirke der Kindheit heimzukehren. Diese Heimkehr in die Kindheit gibt es in allen Literaturen, der weise Gewordene lässt den lauten Alltag hinter sich und kehrt zum Wesentlichen zurück. Raabes Geheimrat Feyerabend aber findet auf diesem Wege eine zerstörte Welt, die des Spielgenossen Ludchen Bock, der nach einem Sturz ein Idiot geblieben ist, ein Kretin – schrecklicher Ausdruck dafür, dass die Schicht des Unbewussten, des Wesentlichen schon zerstört ist. Mitten im Satz bricht, fast fünf Jahre vor seinem Tode, Raabe die letzte Erzählung ab und schweigt von diesem Tage an. Der Spiegel zerschellt, weil, was er zeigt, zu fürchterliche Züge trägt.
Von Jürgen Schüddekopf
© Die Zeit, 1946
Der Text ist entnommen aus: http://www.zeit.de