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Sonderthema

Walther Rathenau – der Mann
vieler Biografien

Walther Rathenau, der Industrielle
Der am 29. September 1867 geborene Walther Rathenau stammte aus einer mittelständischen Bankiers- und Industriellenfamilie und wuchs als Sohn eines Ingenieurs, der sich mit einer Eisengießerei selbstständig gemacht hatte, im Lärm von Kesselschmieden und Transmissionsriemen auf.
Der Vater Emil Rathenau erwarb 1881 die Edison-Patente für Europa und gründete zwei Jahre später die Deutsche Edison-Gesellschaft, die 1887 in Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft umbenannt wurde und sich rasch zu einem welt­umspannenden Industrieunternehmen entwickelte.
Nach dem Abitur und einem naturwissenschaftlichen Studium bereitete sich der mit einer Arbeit über Die Absorption des Lichts in Metallen promovierte Rathenau auf eine Karriere in der AEG vor. An der Technischen Hochschule München ließ er sich hierzu zwei weitere Jahre in Maschinenbau und Chemie ausbilden und widmete sich vor allem der Elektrochemie als einem neuen Zweig der Elektrizitätsanwendung im AEG-Konzern. Mit 24 Jahren begann Rathe­naus praktische Lehrzeit in der Industrie, die ihn zunächst für zwei Jahre als technischen Beamten der Aluminium-Industrie AG nach Neuhausen in der Schweiz führte. Die dort erworbenen Erfahrungen nutzte Rathenau anschließend als Geschäftsführer der von der AEG gegründeten Elektrochemischen Werke in Bitterfeld. Er wurde in kurzer Zeit zu einem international anerkannten Fachmann auf dem Gebiet der Elektrochemie, der mehr als ein Dutzend eigener Patente erwarb und für den Aufbau weiterer elektrochemischer Werke im In- und Ausland zuständig war.

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Emil Rathenau

1899 wurde Rathenau in das Direktorium der AEG berufen. In der Geschäftsführung der AEG für den Bau von Zentralstationen zuständig, setzte er sich engagiert für eine konsequente Fusionspolitik und Trustbildung ein. Folgerichtig wechselte Rathenau 1902 in den Vorstand der Berliner Handels-Gesellschaft, der Hausbank der AEG, und vereinigte fortan den Bankier und den Industriellen in sich. Nach dem Tode seines Bruders Erich avancierte Rathenau zum engsten Mitarbeiter seines Vaters, stieg 1904 in den Aufsichtsrat der AEG.
Seine geschäftlichen Erfolge als «Konzern-Architekt» und besonders in der Kartellpolitik trugen zum weiteren Aufstieg der AEG bei und ließen ihn bei Ausbruch des Krieges 1914 als den geeigneten Mann erscheinen, um die deutsche Kriegsrohstoffversorgung zu organisieren, auf deren Fehlen er selbst hingewiesen hatte. Binnen Kurzem schuf der zum Abteilungsleiter im Kriegsministerium berufene Wirtschaftsfachmann aus dem Nichts eine Mammutbehörde, die die gesamte deutsche Industrie einer an den Bedürfnissen der Kriegführung orientierten Beaufsichtigung unterwarf und, wie er selbst bekannte, tief in das Gefüge der kapitalistischen Wirtschaftsordnung eingriff.

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Mathilde Rathenau

Im März 1915 konnte Rathe­nau seinem Nachfolger eine wohl­organisierte Kriegsrohstoffabteilung hinterlassen, die ihrem Schöpfer über Deutschland hinaus den Ruf eines «Hindenburgs der Wirtschaft» eintrug. Er selbst kehrte zur AEG zurück, deren Präsident er im selben Jahr nach dem Tode seines Vaters wurde. Nun zählte Rathenau selbst zu den «Dreihundert Männern», die nach seinem berühmt gewordenen eigenen Ausspruch «die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents leiten und ... sich Nachfolger aus ihrer Umgebung suchen». Während des Krieges trat er mit Denkschriften und Veröffentlichungen zur künftigen Wirtschafts- und Sozialordnung hervor, die die Summe seiner unternehmerischen Erfahrungen zogen und eine «Neue Wirtschaft» propagierten. Das von seinen Kritikern so titulierte «System Rathenau» sah eine planwirtschaftliche Organisierung der deutschen Wirtschaft vor, die staatssozialistische Züge trug und seinem Erfinder scharfe Kritik von links bis rechts eintrug. Auch nach der Revolution blieb Rathenau Wirtschaftstheoretiker und -praktiker in einer Person, der der AEG als Präsident vorstand und gleichzeitig in Schriften wie der Autonomen Wirtschaft eine Ökonomie ohne Unternehmer forderte. Im April 1920 wurde der Industrielle und Bankier folgerichtig in die 2. Sozialisierungskommission berufen, die unter anderem die Sozialisierung des Kohlebergbaus und der Kaliindustrie vorbereiten sollte. Zugleich wurde er von der Reichsregierung als Sachverständiger in Reparationsfragen hinzugezogen, die nach dem Versailler Friedensvertrag zum Dreh- und Angelpunkt der deutschen Außenpolitik wurde. Fachliche Kompetenz und diplomatisches Verhandlungsgeschick führten Rathenau in seinen beiden letzten Lebensjahren auch in Ämter, die jenseits seines unternehmerischen Wirkungs- und Erfahrungsbereichs angesiedelt waren. Aber noch als Minister für den Wiederaufbau erklärte er im Reichstag programmatisch, sein Aufgabenkreis sei nicht politisch und er werde ihn folglich privatwirtschaftlich und industriell behandeln. Mit einer großen Rede vor dem Reichsverband der deutschen Industrie setzte er im September 1921 dem Wort Napoleons «Was will man immer von dem Schicksal? Politik ist das Schicksal!» sein Credo entgegen: «Die Wirtschaft ist das Schicksal.» Schon in wenigen Jahren wird die Welt erkennen, dass die Politik nicht das Letzte entscheidet. Die AEG blieb seine Heimat, und sie begleitete ihn bis zum letzten Tag; noch das Auto, in dem er am 24. Juni 1922 erschossen wurde, war ein Wagen aus der Produktion der AEG.

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Walther Rathenau: Selbstbildnis. Pastell. Nach 1909

Walther Rathenau, der Politiker
Vertrauter als diese Unternehmerbiografie ist sicherlich die politische Vita Walther Rathenaus: Der spätere Staatsmann Walther Rathenau wuchs in einem liberalen Elternhaus im Berliner Wedding auf, das ihm neben einer sorgfältigen Erziehung und Schulbildung am Königlichen Wilhelms-Gymnasium zu Berlin auch eine lebendige Anschauung vom Leben in einer Arbeitergegend vermittelte. Nachdem er seine wirtschaftliche Existenz gesichert hatte, verfolgte er ab dem 40. Lebensjahr politische Ambitionen aufseiten der Nationalliberalen.
1907 und 1908 begleitete Ra­the­nau den ersten Staatssekretär des neu geschaffenen Reichskolonialamtes, Bernhard Dernburg, auf zwei langen Afrikareisen, die ihm neben einem Kaiserlichen Orden den Ruf eintrugen, ein «kommender Mann» in der deutschen Politik zu sein, der vor einer glänzenden Karriere stünde.
Doch der kritische Bericht, den er über seine Afrikaeindrücke erstattete, kostete ihn die Sympathie einflussreicher Kreise bei Hof. Vergeblich versuchte er, als Kandidat der Nationalliberalen bei der Reichstagswahl 1912 aufgestellt zu werden – Rathenaus Stunde sollte erst bei einer Änderung der politischen Verhältnisse schlagen.
Für die aber setzte er sich fortan mit der Feder ein. In einer Reihe von Aufsätzen und selbstständigen Schriften schrieb er im liberalen Sinne gegen die politische Zurücksetzung des Bürgertums in Deutschland an, kämpfte für die Parlamentarisierung und gegen das preußische Dreiklassen-Wahlrecht.
Bei Ausbruch des Krieges, vor dem er vielfach gewarnt hatte, schien 1914 endlich seine Stunde gekommen: «Alle Gedanken gehören dem Krieg. Tiefe Bedrückung über das Willkürliche der Ursachen, gedämpfte Hoffnung», notierte er in seinem Tagebuch und erkannte sofort, dass Deutschlands Mittellage schnell zu einer kriegsentscheidenden Rohstoffknappheit führen müsse, wenn nicht sofort Abhilfe geschaffen werde. Rathenau sorgte für die Gründung der Kriegsrohstoffabteilung, der er selbst acht Monate vorstand. Rathenaus politische Ideen fanden doch auch im Krieg kein Gehör. Seine Pläne einer mitteleuropäischen Zollunion wurden abgelehnt, er selbst war von Anfang an von tiefem Pessimismus über den Kriegsausgang erfüllt. Als die Nation noch jubelnd zu den Waffen eilte, prophezeite er: «Nie wird der Augenblick kommen, wo der Kaiser, als Sieger der Welt, mit seinen Paladinen auf weißen Rossen durchs Brandenburger Tor zieht. An diesem Tage hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren.»
In dem Moment allerdings, als die von ihm vorausgesehene Katastrophe im Oktober 1918 tatsächlich hereinbrach und Ludendorff vom neuen Kanzler ein sofortiges Waffenstillstandsangebot verlangte, forderte er in der «Vossischen Zeitung» am 7. Oktober eine Volks­erhebung, um nicht wehrlos in die Friedensverhandlungen zu gehen: «Nicht im Weichen muss man Verhandlungen beginnen, sondern zuerst die Front befestigen. ... Die nationale Verteidigung, die Erhebung des Volkes muss eingeleitet, ein Verteidigungsamt errichtet werden. ... Wir wollen nicht Krieg, sondern Frieden. Doch nicht den Frieden der Unterwerfung.»
Nie handelte Rathenau politischer als mit diesem Aufruf, der ihn dennoch im kriegsmüden Deutschland jeden Kredit kostete. Politisch war er als Kriegsverlängerer erledigt und in der Revolution ohne Rolle. Als man in der Nationalversammlung vorschlug, Rathenau zum Reichspräsidenten zu wählen, hallte das Weimarer Thalia-Theater vom brüllenden Gelächter der versammelten Abgeordneten wider. «Augenzeugen erzählen», notierte Rathenau selbst verbittert, «dass Männlein und Weiblein zum Gruß an einen Deutschen, dessen geistige Arbeit sie kannten oder nicht kannten, sich beseligt auf ihren Sitzen kugelten.» Selbst aus der 1. Sozialisierungskommission wurde er schließlich gestrichen. Auch in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), der er daraufhin beitrat, wurde er von einem Listenplatz zur Nationalversammlung verdrängt.
Wieder zog Rathenau sich auf das Feld der politischen Publizistik zurück und veröffentlichte in kurzer Folge eine Kaskade von Schriften, die die beißende Kritik an den bestehenden Verhältnissen mit der Entwicklung wirtschafts- und sozialpolitischer Zukunftsvorstellungen verbanden und schnell zehn, zwanzig und mehr Auflagen erlebten. In einer glänzenden psychologischen Studie entwarf er ein ungeschminktes Bild des gestürzten Kaisers und der hohlen Epoche, die sich in ihm spiegelte.
Kurz darauf, im Mai 1919, folgte Der neue Staat, der «die Gelegenheitsvorstellungen der Weimarschen Verlegenheitsbühne» aufspießte und «der spießbürgerlichen Republik, dem spießbürgerlichen Parlament und der spießbürgerlichen Regierung» das Misstrauen aussprach. Mit seiner Kritik der dreifachen Revolution schließlich traf er das Gefühl der Zeit: «Es ist kein Zweifel: was wir deutsche Revolution nennen, ist eine Enttäuschung. ... Die Revolution war kein Produkt des Willens, sondern des Widerwillens», schrieb Rathenau und forderte, der «Revolution aus Versehen» eine Revolution der Verantwortung entgegenzusetzen.
Seine Schriften trugen ihm den Hass der Rechten ein, und das paradoxerweise half ihm nach dem Scheitern der Gegenrevolution im Kapp-Putsch vom März 1920 endlich den bisher versperrten Weg an die Hebel der politischen Macht zu ebnen. Rathenau wurde in die
2. Sozialisierungskommission berufen und nahm als Sachverständiger an der Konferenz von Spa im Juli 1920 teil, deren Gegenstand die deutschen Reparationsleistungen waren. Hier wurde die von ihm selbst so getaufte und von seinen Gegnern geschmähte «Erfüllungspolitik» geboren, die durch ehrliche Bemühung um Begleichung der utopisch hohen Reparationsschuld die politischen und atmosphärischen Voraussetzungen für eine Verständigung mit den Alliierten schaffen wollte.
Schnell erhielt Rathenau die Gelegenheit, seine Konzeption zu verwirklichen, als er im ersten Kabinett Wirth zum Wiederaufbauminister und Ende Januar 1922 zum Chef des Auswärtigen Amts berufen wurde. Doch letztlich war seiner politischen Linie der Boden schon entzogen, als in Frankreich der verständigungsbereite Ministerpräsident Briand stürzte und die englische Regierung sich weigerte, anstatt fälliger Goldmarkzahlungen Sachlieferungen zu akzeptieren, die die deutsche Wirtschaft hätten ankurbeln können. Auch die Übereinkunft mit Sowjetrussland, die als Rapallovertrag in die Geschichte einging und die zu schließen Rathenau lange gezögert hatte, ließ Deutschland zwar mit einem Überraschungscoup auf die internationale Bühne zurückkehren, isolierte es aber gleichzeitig erneut von den Alliierten und zerstörte so die Grundlagen von Rathenaus eigener Ausgleichspolitik. Als Rathenau am 24. Juni 1922, dem Tag seiner Ermordung, das Haus verließ, kehrte er in der Tür noch einmal um und notierte auf einem Blatt Papier unter der Überschrift «Gesamtrahmen d[er] Pol[itik]»: «Unerfüllbar.» Wenige Minuten später starb Rathenau unter den Kugeln politischer Fanatiker, die mit ihm die «Erfüllungspolitik» und die «schleichende Bolschewisierung» des Landes zu treffen hofften.

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Rathenaus Arbeitszimmer und
Bibliothek in der Grunewald-Villa

Walther Rathenau, der Künstler
Der Industrielle und der Politiker Rathenau vermögen nicht zu verbergen, dass sich hinter ihnen noch eine dritte Biografie abzeichnet: die des Künstlers, des Philosophen, des Schriftstellers. Sie beginnt mit der Zeichnung eines Geldsackes, den der Dreizehnjährige seinem Vater zusammen mit folgenden Zeilen zum Geburtstag schenkt: «Stirb, Ungeheuer! Du aller Sorgen, Du allen Kummers drückende Last. Stirb, Ungeheuer!» Es ist die Biografie eines musischen Menschen, der seinen Brotberuf verachtet und ganz seiner künstlerischen Berufung leben will. Später wird Rathenau über seine Jugendzeit schreiben: «Berufswahl: Schwanken zwischen Malerei, Literatur und Naturwissenschaft. Entscheidung für Physik, Mathematik und Chemie als Grundlage neuzeitlicher Technik und Wissenschaft.»
Walther Rathenau bewunderte – wie sein Zeitgenosse Franz Kafka – die Eigenschaften des Vaters «auf dem Weg nach oben», erlebte aber auch wie Kafka die Kehrseiten davon und verachtete manches, was kühle Distanz und Vorsätze zum Anderswerden reifen ließ. Den mehr künstlerischen und intellektuellen Neigungen seines Sohnes war Emil Rathenau mit Misstrauen und Skepsis begegnet: «Er ist ein Baum, der mehr Blüten als Früchte trägt.» Eine enge Bindung bestand dagegen zwischen dem Sohn und seiner Mutter Mathilde Rathe­nau, die einer jüdischen Frankfurter Bankiersfamilie entstammte und mit ihrem würdigen, zurückhaltenden, willensstarken, etwas puritanisch-strengen Wesen großen Einfluss auf die Interessen des Heranwachsenden für Kunst und Wissenschaft hatte. Die Mutter riet dem von seiner Arbeit in der Fabrik Enttäuschten: «Deine Tätigkeit befriedigt Dich nicht, gib sie auf, werde Professor oder Maler, was Dir gut scheint. Du bist nicht der Erste, der nach Jahresfrist eingesehen hat, dass er sich in einen ihm angeratenen Beruf nicht hineinfinden kann, und wirst auch nicht der Letzte sein.»
Emil Rathenaus enger Mitarbeiter im AEG-Vorstand, Paul Mamroth, erinnerte sich später: «In Bitterfeld sprach Walther bis tief in die Nacht von seiner Absicht, auf Technik und Wissenschaft zu verzichten und Maler zu werden; auch eine Berufsgenossenschaft mit seinem Vater schien ihm noch nicht verlockend.»
Noch 1899 beschloss er, sich «von der Industrie zurückzuziehen, um literarisch zu arbeiten». Zu dieser Zeit hatte er allerdings bereits in Maximilian Harden einen langjährigen Freund gefunden, der seinen ersten literarischen Versuchen einen Platz in der Wochenzeitschrift «Die Zukunft» einräumte, und mit Höre, Israel! einen beachtlichen – wiewohl anonymen – Publikumserfolg erzielt.
1907, mit vierzig Jahren, schied er aus der Berliner Handelsgesellschaft aus und verriet Alfred Kerr: «Ich kaufe mir eine Klitsche – und treibe Philosophie. Mein Plan steht ganz fest. Ich habe das längst beschlossen. Vielleicht in Mecklenburg.» So weit kam es nicht, aber zwei Jahre später erwarb er mit Schloss Freienwalde einen Sommersitz, der ihm fortan nicht nur als Erholungsort diente, sondern auch ästhetisches Programm wurde.
Ihm, dem Vetter von Max Liebermann, kam eine ausgesprochen künstlerische Begabung zu Hilfe. Teile seines beachtlichen Oeuvres als Zeichner und Pastellmaler sind heute in Freienwalde zu bewundern; eine Fülle von Porträts, Karikaturen, flüchtigen Skizzen und ausgeführten Aquarellen birgt sein Nachlass, der heute in Moskau liegt. Als Kunstsammler förderte er die Berliner Sezession, erwarb Bilder von Edvard Munch, Max Pechstein oder Otto Mueller, obwohl sein Kunstideal immer dem klaren und kühlen Klassizismus verhaftet blieb.
Doch wenn er es mit dem Pinsel nur zum begabten Dilettanten brachte, mit der Feder schrieb Rathenau sich in die erste Reihe der zeitgenössischen Kulturkritiker. Feuilletonistische Reiseschilderungen, ästhetische und moralgeschichtliche Betrachtungen, geschichtsphilosophische Deutungsversuche, die die Gegenwart als Zeitalter der Mechanisierung deuteten und die Zukunft als «Reich der Seele» voraussagten, machten Rathenau schon vor dem Weltkrieg zu einem der meistgelesenen Autoren seiner Zeit. 1917 schließlich hatte er mit seinem dritten Hauptwerk Von kommenden Dingen, das eine Vision des kommenden «Volksstaates» entwickelte, einen außerordentlichen Publikumserfolg.
Ihm als einzigem Nicht-Belletristen erwies der S. Fischer-Verlag die Ehre einer Gesamtausgabe seiner Schriften. Freundschaften mit Gerhart Hauptmann, Fritz von Unruh, Constantin Brunner und anderen rundeten das Bild eines Schriftstellers ab.

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Minister Dr. Rathenau erschossen: Plakatanschlag der Münchner Neuesten Nachrichten. Knorr & Hirth GmbH
München, 24. Juni 1922

Walther Rathenau und das Judentum
Die vielleicht wichtigste Seite von Walther Rathenaus Leben ist sein Judentum. «In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden», so schrieb er 1911, «gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewusst wird, dass er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und dass keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.» Für Rathenau kam dieser Augenblick spätestens, als seine jüdische Herkunft ihm den Aufstieg zum Reserveoffizier versperrte. Die Grundspannung zwischen wirtschaftlicher Elitenzugehörigkeit und sozialer Ausgrenzung sollte Rathenaus Leben buchstäblich bis zum letzten Tag bestimmen.
Sie schwang schon unüberhörbar mit in dem seltsamen Essay Höre, Israel!, mit dem der Dreißigjährige in die Öffentlichkeit trat. «Von vorn herein will ich bekennen, dass ich Jude bin», beginnt sein Aufsatz, und kommt schnell zum Thema: «Seltsame Vision! Inmitten deutschen Lebens ein abgesondert fremdartiger Menschenstamm, glänzend und auffällig staffiert, von heißblütig beweglichem Gebahren. Auf märkischem Sand eine asiatische Horde. ... In engem Zusammenhang unter sich, in strenger Abgeschlossenheit nach außen –: so leben sie in einem halb freiwilligen, unsichtbaren Ghetto, kein lebendiges Glied des Volkes, sondern ein fremder Organismus in seinem Leibe.» Diese Sätze zitierten Antisemiten über Rathenaus Tod hinaus gegen die Intention ihres Autors, der mit ihnen kein rassisches Stereotyp, sondern einen Assimilationsappell verbunden wissen wollte und von seinen jüdischen Mitbürgern «die bewusste Selbsterziehung zur Anpassung an das Deutschtum» forderte. Er selbst, der dem Judentum immer verbunden blieb, genügte dieser Forderung nicht in seinen philosophischen Anschauungen, in seinem altpreußischen Kunstideal, in seinem wirtschaftlichen und politischen Einsatz für die Interessen des Landes. In späteren Jahren hoffte Rathenau auf eine Vollendung der Judenemanzipation im Geiste christlich-deutscher und jüdischer Verständigung, die sich im gemeinsamen Bekenntnis zur deutschen Nation treffen sollte.
Mit dem fallenden Kriegsglück wurde der vermeintliche Wirtschaftsdiktator zur bevorzugten Zielscheibe eines immer wütenderen Antisemitismus, der in Rathenau den «Volksverderber» sah und seinen späteren Aufstieg in die höchsten Staatsämter als endgültige Demaskierung der verachteten «Judenrepublik» deutete. Ohnmächtig musste Rathenau sich gefallen lassen, dass er als Defätist denunziert wurde, der im Weltkrieg die Armee von hinten zu erdolchen geholfen habe, dass seine Suche nach einem Kompromiss in der Reparationsfrage als schädlicher Ausfluss einer «fremdländischen Psyche» hingestellt und dass er von Massenbewegungen wie der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund als «Fremdling aus Judaan» und «Gerichtsvollzieher der Entente» geschmäht wurde. Gegen seine Ernennung zum Außenminister liefen Protestresolutionen aus dem ganzen Land im Auswärtigen Amt ein, und als Rathenau kurz vor seinem Tod einen befreundeten Journalisten ratlos fragte: «Sagen Sie, warum hassen mich diese Menschen eigentlich so furchtbar?», antwortete der ihm: «Ausschließlich, weil Sie Jude sind und mit Erfolg für Deutschland Außenpolitik treiben. Sie sind die lebendige Widerlegung der antisemitischen Theorie von der Schädlichkeit des Judentums für Deutschland. Darum sollen Sie getötet werden.» Diese Auffassung bestätigte nach seinem Tod der Leipziger Staatsgerichtshof, der im Oktober 1922 über die Mörder Rathenaus zu Gericht saß und als das eigentliche Motiv der Bluttat den «blindwütigen Judenhass» benannte, der weite Volkskreise beherrsche und «in unklaren und unreifen Köpfen einen wilden Mordtrieb» geweckt habe.

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Trauerfeier für den ermordeten Minister Rathenau: Postkarte mit Abbildung der Trauerfeier vor dem Reichstagsgebäude.
Berlin, Juni 1922

Das Rathenau-Bild der Zeitgenossen
Die Vereinigung gegensätzlicher Lebensentwürfe in einer Person hat schon Rathenaus Zeitgenossen irritiert. Berühmt wurde der Ausspruch Carl Fürstenbergs, unter den Bankiers gelte Rathenau für einen halben Schriftsteller, unter den Schriftstellern hingegen für einen halben Bankier.
Stefan Zweig nannte seinen Freund Rathenau 1912 ein «amphibisches Wesen zwischen Kaufmann und Künstler, Tatmenschen und Denker».
Robert Musil porträtierte ihn ein Jahrzehnt später im Mann ohne Eigenschaften boshaft als Großindustriellen und «Großschriftsteller» zugleich, sozusagen als Vereinigung von Kohlepreis und Seele, über den die Mitmenschen sagen, «was wir alle getrennt sind, das ist er in einer Person».
Ein «anstößiges Ereignis» nannte Rathenau selbst seine von ihm empfundene «Vielspältigkeit», sein «Doppeldasein», das er nicht nur lebte, sondern auch philosophisch überhöhte. Als er in einer Laudatio zu seinem 50. Geburtstag als «eine Art neuen Typs von Menschentum», als «Mensch mit dem lyrischen Herzen und dem Kaufmannskopf» gewürdigt worden war, bemühte Rathenau in seiner Antwort Platons Gleichnis vom Wagenlenker und seinen zwei in verschiedene Richtung zerrenden Rössern: «Von meiner Jugend her ist es mir ein Erbteil gewesen ..., dass ich dem, was die Natur mir gab, mich in der Doppelheit fühle.»
Es mag mit derselben stilisierten Doppelnatur zusammenhängen, dass Rathenau nirgends – weder in seinen Gedanken noch in seinen Handlungen – fest einzuordnen war, nie eine stabile Anhängerschaft hinter sich wusste, häufig gerade die Kreise brüskierte, zu denen er selbst gehörte. «Überhaupt», so urteilte sein späterer Biograf Graf Kessler 1919, «ist er der Mann der falschen Noten und schiefen Situationen: als Kommunist im Damastsessel, als Patriot aus Herablassung, als Neutöner auf einer alten Leier.» Nicht weniger gespalten und verwundbar als der öffentliche war der private Rathenau, der die Liebe in Aphorismen pries, aber erotisch gehemmt blieb, der Geselligkeit suchte und einsam lebte, als Kunstliebhaber die zeitgenössische Avantgarde förderte, aber doch in seinem ästhetischen Ideal dem späten 18. Jahrhundert verpflichtet blieb. Und am irritierendsten wirkte zumindest auf die zeitgenössische Öffentlichkeit der Gegensatz zwischen Leben und Lehre dieses Mannes, der wider den Reichtum stritt, aber selbst in ihm lebte, den der von Abermillionen Deutscher im nationalen Taumel gefeierte Kriegsausbruch zu Tränen der Verzweiflung rührte und der dennoch kurz darauf in einer Denkschrift die Bombardierung Londons mit Zeppelinen und die Deportation Zehntausender belgischer Arbeiter empfahl.
Für Rathenaus Mitwelt lag auch weiterhin in der schwer zu fassenden Vielgestaltigkeit, ja Rätselhaftigkeit das eigentliche Grundmuster seiner Persönlichkeit, und sie taufte ihn spöttisch «Jesus im Frack, Inhaber von 39 bis 43 Aufsichtsratstellen und Philosoph von Kommenden Dingen, Schlossbesitzer und Mehrheitssozialist, erster Ausrufer für die nationale Verteidigung und beinahiges Mitglied der revolutionären Sozialisierungskommission, Großkapitalist und Verehrer romantischer Poesie, kurz – der moderne Franziskus von Assisi, das paradoxeste aller paradoxen Lebewesen des alten Deutschlands».
In dieser Beurteilung waren sich nicht nur die Feinde, sondern auch die Freunde zu Rathenaus Lebzeiten einig, wie das Zeugnis Stefan Zweigs belegt: «Bei Rathenau spürte ich immer, dass er mit all seiner unermesslichen Klugheit keinen Boden unter den Füßen hatte. Seine ganze Existenz war ein einziger Konflikt immer neuer Widersprüche. Er hatte alle denkbare Macht geerbt von seinem Vater und wollte doch nicht sein Erbe sein, er war Kaufmann und wollte sich als Künstler fühlen, er besaß Millionen und spielte mit sozialistischen Ideen, er empfand sich als Jude und kokettierte mit Christus. Er dachte international und vergötterte das Preußentum, er träumte von einer Volksdemokratie und war jedesmal hoch geehrt, von Kaiser Wilhelm empfangen und befragt zu werden.»

Das messianische Rathenau-Bild der Ersten Republik
Rathenaus gewaltsamer Tod im Frühsommer 1922 überlagerte dieses Deutungsmuster nachhaltig. Seine Ermordung löste eine ungeheuere Bewegung in Deutschland aus und hielt die Menschen über die Trauerdemonstrationen und Beileidskundgebungen hinaus über Wochen in Atem, bis seine Attentäter nach wochenlanger Flucht und einer spektakulären Verfolgungsjagd von der Ostsee bis nach Thüringen endlich gestellt werden konnten.
Mit der Erregung über den Mordanschlag verschwanden alle Zweifel über die politischen Qualitäten des Außenministers, dessen kurze Amtszeit vom Misstrauen derer begleitet war, die in Rathenau vor allem den «entlaufenen Banklehrling» und «halbgebildeten Autodidakten» gesehen hatten, wie er selbst einmal gesagt hatte. Der Tod verlieh ihm ein Vermächtnis als Vorkämpfer gegen Monarchismus und Reaktion.
Doch nachdem die öffentliche Bewegung über den Meuchelmord abgeflaut war, wurde der Tote über die Parteigrenzen hinaus zum Märtyrer der Republik. In einer zum ersten Todestag Rathenaus im Reichstag organisierten Feier nahm Konrad Haenisch, ein Sozial­demokrat, den gewaltsamen Tod des Ministers als parteiübergreifendes Vermächtnis in Anspruch: «Rathenaus Blut soll nicht umsonst geflossen sein, es ist zum Kitt für die deutsche Republik geworden.»
Wie die Gedenkredner vermieden auch die übrigen Parteien und ihre Zeitungen jeden Versuch, den Toten für eine Partei zu reklamieren; Einung unter dem Banner der Republik war die Devise, nicht Spaltung. Rathenaus Tod wurde Anlass für die Einführung eines Verfassungstags und des Deutschlandlieds als deutscher Nationalhymne, vor allem aber führte er zu einem grundlegenden Wandel seiner Biografie. Der einst als «Mensch in seinem Widerspruch» etikettierte und vermeintlich halbgebildete Autodidakt erschien nun als ein «Fürst im Reich der Geister».
Im Tod wurde so ein neuer Ra­thenau geboren, ein Ausnahme­mensch, der sein Leben in die Waagschale warf, der «in sich Schicksal trug» und freiwillig zum Märtyrer wurde, um das Land zu retten. Im Sog dieses Deutungsmusters organisierten Zeitzeugen ihre Erinnerung neu und fanden nun, der Minister sei sehenden Auges in den Tod gegangen, er habe gleich einem Größeren den Opfertod gleichsam bewusst als Sühne für sein verblendetes Land angenommen.
Den eindrucksvollsten Beweis für das messianische Rathenau-Bild lieferte der Reichskanzler Wirth selbst, der Rathenau die sehr konkrete und substanziierte Anschlagswarnung eines katholischen Priesters weiterleitete: «Meine Mitteilung», so schilderte Wirth sechs Jahre nach Rathenaus Ermordung, «machte auf Minister Rathenau einen tiefen Eindruck. Bleich und regungslos stand er wohl zwei Minuten vor mir. Keiner von uns wagte auch nur mit einem Wort die Stille zu unterbrechen. Rathenaus Augen waren wie auf ein fernes Land gerichtet. Er kämpfte sichtlich lange mit sich. Plötzlich nahmen sein Gesicht und seine Augen den Ausdruck unendlicher Güte und Milde an. Mit einer Seelenruhe, wie ich sie nie an ihm gesehen hatte, näherte er sich mir, legte beide Hände auf meine Schultern und sagte: ‹Lieber Freund, es ist nichts. Wer sollte mir denn etwas tun?› Nach einem nochmaligen Betonen der Ernsthaftigkeit der gemachten Mitteilung und der absoluten Notwendigkeit polizeilichen Schutzes verließ er ruhig und gelassen, mit dem Ausdruck eines mir unverständlichen Sichgeborgenfühlens, die Reichskanzlei.»

Das ambivalente Rathenau-Bild des Nationalsozialismus
Diese messianische Biografie galt freilich nur im politischen Diskurs der Republikaner. Aufseiten der Rechten und im Nationalsozialismus blieb das Rathenau-Bild immer verschwommen und uneinheitlich. Einerseits bildete er als Jude, Großkapitalist und Erfüllungspolitiker eine förmliche Inkarnation des Feindbildes deutscher Rechtsradikaler nach 1918. Seine Mörder setzten mit ihrer Tat den Schlussstrich unter eine Biografie ihres Opfers, die sie aus erfundenen Versatzstücken zusammenfügten, nach denen Rathenau ein Anhänger des sogenannten schleichenden Bolschewismus sei mit dem Ziele, ohne Gewalt ähnliche Verhältnisse wie in Russland herbeizuführen. Rathenau verfolge als Ziele des internationalen Judentums, sämtliche Länder unter jüdische Macht zu bringen. Schließlich sei Rathenaus Erfüllungspolitik falsch und verderblich.
Mit dem Ende der demokratischen Republik 1933 verschwanden konsequenterweise in Berlin und im ganzen Land Straßennamen, Gedenkzeichen und Hinweistafeln, die an Rathenau erinnerten. Doch fand der von Rechtsradikalen Ermordete auch nach dem nationalsozialistischen Machtantritt gelegentlich noch anerkennende Erwähnung – nämlich als ein Jude, der «seinen Rassegenossen mit rücksichtsloser Offenheit den Spiegel» vorgehalten habe. Je nach propagandistischer Funktion schwankte das in der nationalsozialistischen Publizistik gezeichnete Bild Rathenaus daher zwischen zwei Polen, deren einer völlige Verdammung hieß, weil «der Jude unter allen Umständen und unter allen Verhältnissen eben Jude bleibt und niemals Deutscher wird», deren anderer aber das Gegenteil propagierte: «Vielleicht war Rathenau gerade darum besonders befähigt, dem modernen deutschen Juden ins Herz zu sehen, weil er selbst auf der Brücke zwischen beiden Welten stand.»

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Gedenkstein für Walter Rathenau
in der Königsallee

Rathenau nach 1945 – die Megaperson
Der politische und historische Diskurs nach 1945 kehrte nicht zu der geschlossenen Einheitssicht des messianischen Bildes vor 1933 zurück, sondern schuf sich ein vielgestaltiges, ein multiples Rathe­nau-Bild. So ist zu erklären, warum derselbe Rathenau im Kalten Krieg als Säulenheiliger in beiden Teilen Deutschlands zugleich in Erscheinung treten konnte. Ungezählte Ra­thenaustraßen erinnern heute noch daran, dass ost- und westdeutsche Geschichtspolitiker sich unter Berufung auf dieselbe historische Figur gegeneinander zu legitimieren trachteten. Die östliche Erinnerung drängte den Großkapitalisten und Monopolherrn in den Hintergrund, die westliche hingegen spiegelbildlich den Sozialisierungstheoretiker und Vorkämpfer des Vererbungsverbotes. Nur dass Rathenau nach 1945 nicht mehr in persona Stellung beziehen konnte, mag ihn in dieser Zeit geschützt haben.
Das west-östliche Rathenau-Bild entwickelt sich zu einer geschichtspolitischen Allzweckwaffe von gesamtdeutscher Qualität. Im sozialistischen Geschichtsbild der DDR figurierte Rathenau als «ein zwiespältiges Wesen, dessen Füße fest in der kapitalistischen Ordnung standen, dessen Kopf aber in die Sphäre einer besseren Gesellschaft ragte». Der Rapallovertrag machte den ostdeutschen Rathenau zu einem Kronzeugen der propagierten deutsch-sowjetischen Freundschaft, zum «rühmlichen Beispiel friedlicher Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftssysteme». Dieser neukonzipierte Rathenau, alles andere als ein «getarnter Bolschewik», hatte seine aktenkundige Skepsis gegen diesen Bruch mit der Erfüllungspolitik offenbar gänzlich verdrängt: «Rathenau», so hieß es 1958 im DDR-Organ «Tribüne», «musste sterben, weil er die Gesetze der herrschenden Klasse übertrat. ... Als er schließlich den gegenseitigen Friedens- und Freundschaftsvertrag mit der Sowjet­union abschloss, war sein Schicksal besiegelt.»
Auch in der Bundesrepublik wurde Rathenau zum historischen Nothelfer für ganz unterschiedliche Legitimationsbedürfnisse – ein Mann wechselnder Eigenschaften. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Verblassen persönlicher Erinnerungen traten die konkreten Umstände seines Lebens immer weiter zurück. So konnte Rathenau bald auch als zukunftsweisender Garant des «geistigen Deutschland» in seiner politischen Einheit in Erscheinung treten: «Wir blicken auf die wunde Grenze, die sich mitten durch unser Vaterland zieht», bilanziert eine viel gelesene Biografie von 1958. «Wenn dieses in sich gefestigte, gesundete und geschlossene Deutschland, das Rathenau liebte und dem er einen Tempel in seinem Innern aufgebaut hatte, aufersteht – und es muss auferstehen! –, wird es dann auch einen Teil von dem Geist, der Sittlichkeit und der Gottverantwortung in sich tragen, um die Walther Rathenau rang? Wir wollen es von ganzem Herzen hoffen!»
Dreißig Jahre später stand der posthum Modernisierte im Geschichtsbewusstsein des offiziellen Deutschland nicht mehr für die nationale Wiedergeburt, sondern für die europäische Einigung: 1987 erinnerte die deutsche Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen an Rathenaus 1913 unterbreiteten Vorschlag einer europäischen Zollunion und an seine Idee einer wirtschaftlichen und politischen Verschmelzung Europas: «Welche klare, vorausschauende Sicht! Aus unserer heutigen Perspektive ist es erstaunlich, mit welcher Deutlichkeit Rathenau schon zum damaligen Zeitpunkt die Möglichkeiten und Voraussetzungen für die Rolle Europas erkannte und seinen Blickwinkel über die nationale Perspektive hinaus erhob.»
Entsprechend hat auch die jüngere Geschichtsforschung insbesondere Rathenaus «verwirrende Vielseitigkeit eines Lebens im Widerspruch» herausgearbeitet. Vielfach hat sie ehrlicherweise darauf verzichtet, diese Zerrissenheit in einem höheren Sinn biografisch zusammenzufügen, und Rathenau als Repräsentant, Kritiker und Opfer seiner Zeit dargestellt oder erklärt, dass die Mittel der Wissenschaft nicht ausreichen, um sich der Person Rathenaus zu vergewissern, und die Hilfestellung der Fiktion bemüht, damit Rathenau als «Megaperson» fasslich würde. Oder aber sie hat die Zerrissenheit in einem höheren Sinn wieder versöhnt und ihn als «Geschöpf der Mitte und der Mischungen» beschrieben, als «Summenformel des Übergangs vom neunzehnten zum einundzwanzigsten Jahrhundert». In dieser Sicht wurde dann auch der Tod zu einem Meisterstück inszenierten Lebens als Einheit in der Vielfalt: «Die Vielheit der Rollen ausfüllen zu können, das war seine innere Einheit; das Riesenrepertoire, einschließlich eines dramatischen und noblen Todes, zu beherrschen, das war seine Größe.» Im kollektiven Gedächtnis der Gegenwart ist Ra­thenau zur austauschbaren Chiffre geronnen. Das Rathenau-Bild unserer Tage steckt in einem Passepartout, das heute den überzeugten Europäer rahmt und morgen den deutschen Patrioten, das Rathenau den einen als Vordenker der globalen Rüstungskontrolle präsentiert und den anderen als stumme Warnung gegen jede Form des Radikalismus – sei es von links oder rechts oder gar als «Riss der Moderne» selbst.
Lässt man also die vielen Erzählungen desselben Lebens Revue passieren, die Walther Rathe­­naus Weg in die Geschichte begleiteten, zeigt sich, dass der Mann vieler Biografien immer auch das Opfer vieler Biografen war. Jede Zeit und jede Zeitströmung schuf und schafft sich ihren Rathenau neu.

Martin Sabrow

Walther Rathenau
Industrieller, Politiker, Schriftsteller
Zeittafel

1867 29. September: Walther Rathenau wird als Sohn des jüdischen Industriellen Emil Rathenau und seiner Frau Mathilde (geb. Nachmann) in Berlin geboren.
1883 Rathenaus Vater gründet die Deutsche Edison-Gesellschaft, die 1887 in Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) umbenannt wird.
1886–1889 Rathenau studiert Physik, Chemie und Philosophie in Berlin und Straßburg.
1889 Promotion in Berlin über Die Absorption des Lichts in Metallen.
1889/90 Studium des Maschinenbaus und der Chemie an der Technischen Hochschule München.
1892 Technischer Beamter der Aluminium-Industrie AG in Neuhausen (Schweiz).
1893–1898 Als Geschäftsführer baut er die von der AEG gegründeten Elektrochemischen Werke Bitterfeld auf.
1897 Veröffentlichung der Schrift Höre, Israel!, in welcher Rathenau die jüdische Bevölkerung in Deutschland zur Assimilation auffordert.
Beginn der langjährigen Freundschaft mit dem Publizisten Maximilian Harden.
1899 Als Leiter der Abteilung Zentralstationen tritt er in den Vorstand der AEG ein.
1902 Austritt aus dem AEG-Direktorium und Wechsel zur Berliner Handels-Gesellschaft.
1904 Mitglied des Aufsichtsrates der AEG.
1905 Beginn der Freundschaft mit dem Dichter Gerhart Hauptmann.
1907/08 Rathenau unternimmt zwei Inspektionsreisen nach Afrika, um Vorschläge für die künftige deutsche Kolonialpolitik zu machen. In der Schrift Reflexionen veröffentlicht er diese.
1910 Stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats der AEG.
1911 Berater des Reichsschatzamts in der Frage eines Reichselektrizitätsmonopols.
1912 Schwere Erkrankung des Vaters und erste Auseinandersetzungen um dessen Nachfolge in der AEG. Walther Rathenau wird Vorsitzender des Aufsichtsrates der AEG.
1912–1917 Publikation der philosophischen und sozialpolitischen Studien Zur Kritik der Zeit, Zur Mechanik des Geistes und Von kommenden Dingen.
1914 Zu Beginn des Ersten Weltkrieges weist er auf die Notwendigkeit der organisierten Rohstoffverteilung hin. Als Leiter der Kriegsrohstoffabteilung (KRA) im preußischen Kriegsministerium organisiert er die deutsche Kriegswirtschaft.
1915 März: Rückzug aus der KRA.
Tod des Vaters. Felix Deutsch (1858–1928) wird dessen Nachfolger in der AEG, Rathenau erhält Sondervollmachten als Präsident der AEG.
1918 Erste Ausgabe der Gesammelten Schriften in fünf Bänden.
1919 Veröffentlichung mehrerer programmatischer Schriften zum Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft.
1920 Als Wirtschaftssachverständiger und Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) arbeitet er in der 2. Sozialisierungskommission mit und nimmt an der Konferenz von Spa teil, auf der über die deutschen Kohlelieferungen an die Alliierten verhandelt wird.
1921 Mai: Mit dem Eintritt in das Kabinett Wirth als Wiederaufbauminister gibt er alle Ämter in der Wirtschaft auf. Gemeinsam mit dem Finanzminister Matthias Erzberger plädiert er für eine «Erfüllungspolitik», um die Undurchführbarkeit des Versailler Vertrags zu beweisen.
Oktober: Nach dem Rücktritt des Kabinetts Wirth scheidet Rathenau zwar offiziell aus der Reichsregierung aus, wird aber weiterhin mit wichtigen Verhandlungstätigkeiten betraut.
1922 Offizieller Vertreter der Reichsregierung bei der Konferenz von Cannes. Er erreicht die Herabsetzung der laufenden deutschen Reparationszahlungen.
1. Februar: Im zweiten Kabinett Wirth wird er Außenminister.
16. April: Während die Konferenz von Genua tagt, schließt Rathenau den Rapallo-Vertrag mit der Sowjetunion. Dieses bilaterale Abkommen wurde als Beginn einer nach Russland orientierten deutschen Außenpolitik interpretiert.
24. Juni: Walther Rathenau wird von zwei jungen Offizieren, die der rechtsradikalen «Organisation Consul» (OC) angehören, erschossen. Mit seiner Ermordung soll die Weimarer Republik getroffen werden. Das Attentat führt zum Erlass des Republikschutzgesetzes.


Der Text ist entnommen: http://www.schule.de:8080/wro/Rathenau/sabrow.pdf