Wissenschaft und Technik
Getreu seinen Zahlen
Seinen Jüngern verordnete er fleischlose Kost, Enthaltsamkeit und eisernes Schweigen. Dennoch ist Pythagoras legendär geblieben – und sei es nur als Namensgeber eines berühmten Satzes der Geometrie. Aber wer war der seltsame Guru von Samos?
Verehrter Grübler: Im Mittelalter galt Pythagoras als Magier im Reich des Exakten, vor allem als Theoretiker der Musik – so wurde der antike Guru um 1145 selbst am Königsportal der Kathedrale von Chartres unter die Patriarchen der Wissenschaften eingereiht.
Der neue Star unter den hellenischen Intellektuellen ist ein komischer Kauz. Statt des landesüblichen Gewandes trägt der Hochgewachsene Hosen, wie sie bei den Persern Mode sind. In den Kleidern steckt der hagere Körper eines über 50-Jährigen in Topform – der Asket verzehrt ausschließlich ein Kraftfutter, das auch moderne Müslifritzen begeistern könnte: Zum Frühstück gibt’s Honigbrot, abends Fladen aus Hirse und Gerste, gekochtes und rohes Gemüse sowie Brei aus Kichererbsen, verfeinert mit Mohnsamen und Sesam.
Trunkenheit hält der Enthaltsame für besonders schädlich, auch vom Sex rät er ab. Von einem Schüler gefragt, wann man ihn haben sollte, antwortet er verächtlich: «Immer, wenn du schwächer werden willst.» Aber auch solch grantige Erkenntnisse mehren offenbar nur seinen Ruhm. Als im 6. Jahrhundert v. Chr. in den Städten Kleinasiens an der Küste der Ägäis eine intellektuelle Glanzleistung die nächste jagt, strahlt der Stern des Weisen Pythagoras besonders hell.
Die griechische Kultur erblüht damals in zuvor ungekannter Form: Erste Prosabücher erscheinen, Winkelmaß und Wasserwaage werden erfunden, ein Himmelsglobus und eine verbesserte Erdkarte entstehen. Mitten in dieser geistigen Feuerwerksstimmung erwirbt der Gelehrte Pythagoras von der Insel Samos das Image eines wahren Universalgenies: Wesentliche Gesetzmäßigkeiten der Mathematik soll der Tausendsassa ebenso entdeckt haben wie die Grundintervalle der Musik. Er wird als Schöpfer des Begriffs «Philosophie» gerühmt, gilt als ausgezeichneter Redner und exzellenter Politiker. Nach weitverbreiteter Meinung ist dieser Pythagoras gar ein Halbgott, der Pestepidemien vertreiben und Hagelstürme besänftigen kann.
Natürlich machten nicht alle beim Starkult mit. So fauchte ein Zeitgenosse, der Philosoph Heraklit, sein umjubelter Kollege arbeite mit «faulen Tricks». Und der Geschichtsschreiber Herodot raunte, Pythagoras habe seine Einsichten und Weisheiten größtenteils zusammengeklaut.
Dass der umstrittene Gemüse-Fan überhaupt im großen Stil Aufmerksamkeit auf sich zog, grenzt dabei schon allein an ein Wunder. Kein Wort hat er aufgeschrieben, um der zeitgenössischen Wissenschaft seinen Stempel aufzudrücken oder zumindest den eigenen Nachruhm zu sichern. Stattdessen scharte der Sonderling ergebene Jünger um sich, denen bei Preisgabe von Lehrdetails die sofortige Verbannung aus dem verschwiegenen Zirkel drohte.
Nachwuchs für seine Runde rekrutierte der Meister höchstselbst und nach eigenwilliger Methode: Die Kandidaten mussten zunächst eine physiognomische Untersuchung über sich ergehen lassen. Wer die Gesichtskontrolle überstanden hatte, auf den harrten noch weit peinvollere Prüfungen. Drei Jahre lang würdigte der Alte den Aspiranten keines Blickes. Hatte der Novize auf diese Art Charakterfestigkeit bewiesen, musste er hernach fünf Jahre schweigend in der Gemeinschaft ausharren.
Als Lohn lockte die Vollmitgliedschaft im womöglich exklusivsten Intellektuellenclub dieser Zeit, der in besten Tagen bis zu 600 Köpfe gezählt haben soll. Vorwiegend aristokratische Jünglinge hingen an den Lippen des Pythagoras, doch auch Frauen drangen in die eigentümliche Sekte vor. Die bizarrste Gestalt dieser wissbegierigen Gesellschaft war vermutlich der Ringer und Olympionike Milon von Kroton, der, wie es in antiken Berichten heißt, täglich acht Kilo Fleisch verschlang.
Die Diät des Muskelprotzes blieb die absolute Ausnahme: Der Verzehr von Tieren war den Pythagoreern streng verboten, denn die folgsame Schar glaubte ebenso fest an die Seelenwanderung wie ihr Vordenker, der mitunter gar vor Tieren dozierte. Überhaupt hatte Pythagoras das Leben des Geheimbundes streng reglementiert – mitunter auch durch recht wunderliche Weisungen: So durften seine Schüler «nicht gegen die Sonne pissen» oder sich «das Gesäß mit Öl abwischen». Auch auf Hauptstraßen zu gehen war untersagt.
Dafür lebten die Auserwählten in einer Art Kommune, in der sämtlicher Besitz geteilt wurde. Das galt auch für die Urheberschaft jener Geistesleistungen, die aus der Denkschmiede hervorgingen – auf persönlichen Ruhm und Anerkennung war der drahtige Guru nicht aus. Umso strenger achtete Pythagoras auf Geheimhaltung, panisch in Sorge, das mathematische und zum Göttlichen führende Wissen könnte Ignoranten in die Hände fallen, die nicht an Körper und Geist geläutert waren.
Mit solchen Volten hat der Weise bis heute Verwirrung unter seinen Exegeten gestiftet. Das Bild des Gelehrten, der die Mathematik zu einer mit sauberen Beweisen arbeitenden Wissenschaft geformt haben soll, ist nur schwer mit jenem mürrischen Mystiker in Einklang zu bringen, der Zahlen mit Eigenschaften wie Gerechtigkeit und Treue gleichsetzte und seine Anhänger hysterisch vor dem Verzehr von Bohnen warnte. Interpreten der pythagoreischen Überlieferung zanken noch immer darüber, ob der Rätselhafte wirklich ein Wissenschaftler oder nicht doch eigentlich Begründer einer Art Schamanenkultes war. So ergibt sich die kuriose Situation, dass sich Mathematikprofessoren wie auch Anhänger diverser esoterischer Lehren auf Pythagoras berufen.
Wer also war der Mythenumrankte tatsächlich, dessen Vater – der wohlhabende Kaufmann Mnesarchos – vom Orakel in Delphi erfuhr, sein Sohn werde «an Schönheit und Weisheit die Menschen aller Zeiten überragen»?
Als einigermaßen gesichert gilt, dass Pythagoras um 570 v. Chr. auf der Insel Samos geboren wurde. Schon als junger Mann verließ er seine Heimat für mehrere Jahre, um in Ägypten und Babylonien zu studieren. Vermutlich trieb den von Religionen faszinierten Hochbegabten die Aussicht auf Entdeckung neuer Gotteskulte in die Fremde.
Was er jedoch nach langen Reisejahren als kostbarsten Schatz mit nach Hause brachte, war jenes nach ihm benannte Theorem, das als «Satz des Pythagoras» in die Geschichte einging: Bei einem rechtwinkligen Dreieck ist das Quadrat über der Hypotenuse den Quadraten über den beiden Katheten gleich – gegossen in die Formel a2 + b2 = c2.
Hatte der wackere Wandersmann die Formel bei seinen Gastgebern gestohlen, um damit in der Heimat zu brillieren? Wohl kaum. Den Babyloniern war das Gesetz zwar aus der praktischen Anwendung vermutlich seit rund 1500 Jahren bekannt; explizit formuliert hat es erstmals jedoch Pythagoras.
Mit einer der gewaltigsten mathematischen Leistungen der Antike im Gepäck kehrte der Kaufmannssohn zurück und gründete seinen Geheimorden. Fraglos ebneten die Pythagoreer in der Folge mit ihren im Verborgenen betriebenen Studien den Weg für eine Blütezeit der mathematischen Philosophie und der wissenschaftlichen Geometrie.
Dass Pythagoras seinen Zahlen- und Formelkosmos zu einer Religion ausbaute, mag verwirren. Der Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell notierte freilich rund 2500 Jahre nach Pythagoras anerkennend, die Mathematik sei «die Hauptquelle des Glaubens an eine ewige und exakte Wahrheit sowie an eine übersinnliche intelligible Welt».
So ähnlich sahen es offenbar auch die Zeitgenossen. Eifersüchtig warben Herrscher wie Polykrates von Samos um die Freundschaft des Vielbestaunten, der bei Hofe wie ein Fabelwesen funkeln sollte. Doch Pythagoras verprellte ihn und andere Tyrannen, indem er öffentlich gegen allzu herrschsüchtige Despoten wetterte. Der schnöde Umgang mit den Zeitgenossen brachte der Gruppe ohnehin häufig Ärger ein. Schließlich verübten missgünstige und zurückgewiesene Landsleute Anschläge auf die Versammlungslokale der verschworenen Gemeinschaft.
Nach einer dieser üblen Fehden, die seine Anhängerschaft arg dezimiert hatten, soll sich Pythagoras in eine Höhle zurückgezogen haben – als abgekämpfter Greis von 90 Jahren. Der Mann, der Zeit seines Lebens größte Sorgfalt auf sein Essen verwandt hatte, machte es kurz: Er stellte die Nahrungsaufnahme ein – und starb.
Von Frank Thadeusz
Der Text ist entnommen aus: http://www.spiegel.de