Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №21/2008

Das liest man in Deutschland

Erfahrungen eines von den Nazis vertriebenen Philosophen

Karl Löwith über sein Leben in Deutschland vor und nach 1933

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Angeregt zu seinem Bericht Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 wurde der deutsch-jüdische Philosoph Karl Löwith durch ein Preisausschreiben, das die Harvard Universität 1940 ausgeschrieben hatte, um Erfahrungen von Augenzeugen aus Deutschland vor und nach 1933 zu sammeln. Löwith schrieb den Bericht, schickte ihn ein und hat dann nie wieder etwas von ihm gehört. Erst nach seinem Tod fand ihn seine Witwe beim Aufräumen wieder. Daraufhin erschien der Bericht 1986 mit einem Vorwort von Reinhart Kosellek, einer Nachbemerkung von Ada Löwith und Löwiths Curriculum Vitae 1959, das der Philosoph Löwith im selben Jahr in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vorgetragen hatte.
Jetzt liegt der von Frank-Rutger Hausmann neu herausgegebene Band wieder vor und wirkt, da Löwith seine Erinnerungen unter dem unmittelbaren Eindruck seiner schlimmen Erlebnisse im Nazi-Deutschland zu Papier gebracht hat, überaus authentisch und gegenwartsnah und zeigt, wie gravierend die Zeitgeschichte in das Leben des Autors eingegriffen hat.
Zunächst lernt man Löwiths Kindheit und Jugend in einem gut bürgerlichen Künstlerhaus kennen. Der Vater war ein konfessionslos gewordener Jude aus Mähren, dem Deutschland zur Heimat geworden war, ganz besonders München, wo Karl Löwith am 9. Januar 1897 geboren wurde. Im Ersten Weltkrieg war Löwith Soldat, wurde schwer verwundet und geriet in italienische Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung studierte er Biologie und Philosophie, Philosophie vor allem bei Edmund Husserl und Martin Heidegger, er promovierte 1923 und habilitierte sich 1928 mit der Arbeit Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen bei Martin Heidegger.
Zu seiner ersten Vorlesung waren 150 Hörer erschienen. «Nicht einem von ihnen», schreibt Löwith, «wäre es damals eingefallen, mich als einen ‹artfremden› Eindringling anzusehen, von dem man die Universität zu ‹säubern› habe.» 1933 freilich musste er erfahren, dass für ihn im «Land der Dichter und Denker» kein Platz mehr war.
Bis 1933 habe er sich als unpolitisch betrachtet, gesteht der Philosoph. Die Ereignisse der Weimarer Republik hätten ihn nur von Ferne berührt. In den Parteien wurde um Dinge gestritten, «die mich selbst nichts angingen und mich in meiner Entwicklung nur irritierten». Eine Art Rechtfertigung gewährten ihm die 1918 erschienenen Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann. Auch las er all die Jahre hindurch keine Zeitung und nahm erst spät die drohende Gefahr von Adolf Hitlers Bewegung wahr. «Ich war politisch so ahnungslos wie die meisten meiner Kollegen», bemerkt der Autor.
Selbst wenn man mittlerweile hinreichend Bescheid weiß über das seinerzeit an das NS-Regime angepasste Verhalten vieler Deutscher, so ist man doch bestürzt, wenn man liest, wie sich Heidegger, Oskar Becker und andere Philosophen in jener Zeit benommen haben. Heidegger hatte sich von Husserl völlig distanziert und war nach dem Umsturz nicht mehr bei seinem «väterlichen Freunde» (das war die stereotype Anrede seiner Briefe gewesen) erschienen. Husserl war tief getroffen durch das Verhalten seines Schülers, der ihm die Nachfolge auf den Freiburger Lehrstuhl verdankte und nun Rektor der Universität war. Als Husserl starb, bezeugte Heidegger die «Verehrung und Freundschaft», mit der er Husserl 1927 sein Werk gewidmet hatte, dadurch, dass er, spöttelt Löwith, kein Wort des Gedenkens oder der Teilnahme verschwendet und gewagt habe. Auch Oskar Becker, dessen philosophische Existenz von der Habilitation bis zur Berufung nach Bonn durch Husserl gefördert worden war, hatte auf dessen Tod nicht reagiert, aus dem «schlichten Grund, weil sein Lehrer ein entlassener Jude war und er ein beamteter Arier.»
Als Löwith in Rom, wohin er mit seiner Frau zunächst emigriert war, Heidegger traf und ihn zum Abendessen in seine Wohnung einlud, hatte der Verfasser von Sein und Zeit selbst bei dieser Gelegenheit das Parteiabzeichen nicht von seinem Rock entfernt. Offenbar war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass das Hakenkreuz fehl am Platz war, wenn er mit Löwith einen Abend verbrachte. Als dieser ihm später zwei seiner Bücher übersandte, erhielt er keine Zeile des Dankes oder gar eine sachliche Äußerung.
Durch die dortigen Rassengesetze wurden Juden 1938 auch aus Italien vertrieben. Löwith hatten diese, da er 1936 an die Universität von Sendai in Japan berufen worden war, nichts mehr anhaben können. Doch dem Hakenkreuz war selbst in Japan auf die Dauer nicht zu entgehen. Wieder gelang es Löwith und seiner Frau, rechtzeitig zu fliehen, kurz vor Pearl Harbour, diesmal in die USA. Paul Tillich und Reinhold Niebuhr verhalfen ihm zu einer Lehrstelle an einem amerikanischen theologischen Seminar in Hartford, von dem Löwith 1949 an die New School for Social Research berufen wurde. Nach 18 Jahren Abwesenheit kehrte er dann nach Deutschland zurück, wo der Philosoph, «trotz allem, was geschehen war, die Universitätsverhältnisse merkwürdig unverändert vorfand». Von 1952 an bis zu seiner Emeritierung lehrte er als Professor an der Universität Heidelberg. Karl Löwith starb dort am 24. Mai 1973.
Den Bericht über die Etappen eines aufgenötigten Lebensweges prägen zwei große Themen: Der Verfall der deutschen bürgerlichen Welt und die von Löwith erzwungene Spaltung seiner Existenz, in die eines Deutschen und eines Juden. Im Nachwort bekennt Löwith, dass er sich erst durch Hitler als Deutscher und Jude gefühlt habe, «gerade weil in Deutschland das eine vom andern getrennt worden ist».
Schon früh hatte sich Löwith mit den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des europäischen Nihilismus befasst. Den Zarathustra habe er bereits auf der Schulbank gelesen, erzählt er, «mit boshafter Vorliebe während des protestantischen Religionsunterrichts». Wie Luther sei dieser ein spezifisch deutsches Phänomen gewesen, «radikal und verhängnisvoll».
Deutlich zeichnet sich aus eingestreuten Überlegungen ab, dass sowohl das Christentum als auch die aus ihm erwachsene europäische Humanität für Löwith ein Problem geblieben ist, das er weder positiv christlich noch antichristlich auflösen mochte. Die deutsche «Lösung der Judenfrage» sei nur die offenkundigste Seite des prinzipiellen Barbarentums, das jede Brutalität im Dienst eines Ungeheuers von Staat sanktioniert, meint der Verfasser. Gegenüber dieser Entmenschung des Menschen sei die bloße Humanität außerstande, auch nur einen wirksamen Protest zu erheben, und «so erklärt es sich, wenn die geistige Reaktion zu ähnlich drastischen Mitteln griff und eine Rückkehr zur Kirche predigte».
Aber radikale Lösungen seien keine Lösungen, «sondern blinde Versteifungen, die aus der Not eine Tugend machen und das Leben vereinfachen». Löwith betont die Hinfälligkeit alles menschlichen Treibens und meint, dass diese Einsicht, die schon Hiob ausgesprochen habe, dem Deutschen abhanden gekommen sei, «obwohl noch ein Voltaire behaupten konnte, dass in diesen Worten alles enthalten sei, was die menschliche Existenz kennzeichnet».
Löwith fragt nach der Welt überhaupt, innerhalb derer es den Menschen und seine Geschichte gibt, die, wie Heraklit schon sagte, immer dieselbe sei für alles und alle, von keinem besonderen Gott und von keinem Menschen gemacht. Der Autor bezieht sich auf Verse aus einer Ode von Horaz, die auf den fortschreitenden Verfall der menschlichen Geschlechter hindeuten. Aber mit Kant könne man sich mit dem Hinweis trösten, dass dieses «Jetzt» der letzten Zeit, in welcher der Untergang der Welt kurz bevorzustehen scheine, so alt sei wie die Geschichte selbst.
Der mit zahlreichen Anmerkungen versehene, gut bebilderte Band bietet eine faszinierende Lektüre und macht neugierig auf Karl Löwiths übrige Werke, zum Beispiel auf seine Abhandlungen Von Hegel zu Nietzsche und Heid­egger, Denker in dürftiger Zeit.

Von Ursula Homann

Frank-Rutger Hausmann (Hg.): Karl Löwith. Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2007.

Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de