Sonderthema
Die Ermittlung
Die «zunehmende Unmöglichkeit der Darstellung des Geschichtlichen», insbesondere die Zeit des Nationalsozialismus betreffend, hatte bereits 1951 Theodor W. Adorno festgestellt. Die Größe der damals begangenen Verbrechen hatte eine solche Dimension erreicht, dass es schwer war, eine Möglichkeit der Beschreibung zu finden, die Distanzierung und Reflexion zuließen. Dies galt in besonderem Maße für die Darstellung von Konzentrationslagern, weil diese selbst eine unbegreifliche, trotz oder auch wegen aller realen Leiden, «irreale Realität» darstellten.
Vor diesem Problem steht auch Peter Weiss, als er 1965 in der Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen Auschwitz auf die Bühne bringen will. Das Stück gehört ursprünglich zusammen mit dem Gesang vom Lusitanischen Popanz und dem Viet-Nam-Diskurs in den Kontext eines größeren Projektes, der Adaption Dantes Divina Commedia. Weiss versteht Auschwitz als Teil des «Infernos». Er entscheidet sich jedoch gegen dieses Interpretationsmodell und versucht die Thematik stattdessen durch eine strikte Orientierung an Fakten und Dokumenten zu fassen. Dafür entwirft er das «dokumentarische Theater», in dem die Darstellung nicht durch Schauspiel, sondern durch die strenge, möglichst objektive Wiedergabe von reinen Fakten geschieht. Die Ermittlung basiert auf den Protokollen aus dem Auschwitzprozess, der in Frankfurt zwischen 1963 und 1965 durchgeführt wurde. Dabei bezieht er sich vor allem auf eigene Aufzeichnungen und Berichte von Bernd Naumann. Bereits in der «Anmerkung» zum Stück schreibt er: «Bei der Aufführung dieses Dramas soll nicht der Versuch unternommen werden, den Gerichtshof, vor dem die Verhandlungen über das Lager geführt wurden, zu rekonstruieren. Eine solche Rekonstruktion erscheint dem Schreiber des Dramas ebenso unmöglich, wie es die Darstellung des Lagers auf der Bühne wäre.»
Es geht Peter Weiss nicht darum, den tatsächlichen Ablauf des Prozesses in Frankfurt erneut auf die Bühne zu bringen. Sein Ziel ist eine «parteiliche» Präsentation durch eine Neuordnung der Fakten. Dargestellt wird eine «imaginäre Wanderung durch die Topographie von Auschwitz», von der «Rampe» bis zu den «Feueröfen». Dennoch bleibt das Konstrukt des Tribunals erhalten, und das ist auch notwendig, um Gericht zu halten über die Vergangenheit. Mit diesem Kunsttrick gelingt es ihm, sich von der konkreten Wirklichkeit der Lager so weit zu distanzieren, dass die Vergangenheit nicht nur interpretierbar, sondern auch beurteilbar wird.
Dieser Gestus der Distanzierung zeigt sich auch in Weiss’ Methode, die Geschichte zu entindividualisieren. Die Opfer – mit der Ausnahme Lili Toflers – werden nicht beim Namen genannt, sie bleiben anonym. Die Täter werden zwar als konkret identifizierbare Personen benannt, im Personenverzeichnis sind sie jedoch nur als Nummern aufgeführt.
Weiss’ Ziel ist es nicht, ein einzelnes Geschehnis oder einzelne Schicksale zu beschreiben, so furchtbar sie auch gewesen sein mögen. Ihm geht es darum, das Prinzip, die Struktur, die Logik hinter dem Konzentrationslager sichtbar zu machen (heute würden wir sagen: den Herrschaftsdiskurs zu dekonstruieren). So ist sein Text eine Kritik an totalitären (faschistischen) Einrichtungen und deren Vernichtungspolitik. Dabei bleibt der Autor aber nicht stehen. Immer wieder zieht er im Text explizite Verbindungen zwischen den kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen und dem Faschismus, wenn er etwa die «segensreiche Freundschaft zwischen der Lagerverwaltung und der Industrie» anspricht. Und da diese kapitalistischen Strukturen auch die Nachkriegsgesellschaft dominierten, wird Die Ermittlung zu einer Kritik der Gegenwart, in der – nach Weiss – die implizite Möglichkeit eines neuen Faschismus qua Struktur immer noch enthalten ist. Wenn aber gegen die Vergangenheit und die Gegenwart gleichermaßen ermittelt werden muss, so die logische, jedoch nicht ausgesprochene Schlussfolgerung des Dramas, kann die Lösung nur in einer radikalen politischen Systemveränderung liegen.
Der Text ist entnommen aus: http://www.xlibris.de