Sonderthema
Die Ästhetik des Widerstands
Théodore Géricault: Das Floß der Medusa, 1818/19, Paris, Louvre
«Géricaults Bild jedoch war ein gefährlicher Angriff gewesen auf die etablierte Gesellschaft. Mit seinem gewaltigen Format schon, sieben zu fünf Metern, drohte es, alle übrigen Werke im Salon zu erschlagen, unerträglich aber war den Honoratioren das Thema, das die Korruption der Beamtenschaft, den Zynismus, die Selbstsucht der Regierung entblößte. ... Aus der vereinzelten Katastrophe war das Sinnbild eines Lebenszustands geworden. Voller Verachtung den Angepassten den Rücken zukehrend, stellten die auf dem Floß Treibenden Versprengte dar einer ausgelieferten Generation, die von ihrer Jugend her noch den Sturz der Bastille kannte. Sie lehnten und hingen aneinander, alles Widerstreitende, das sie auf dem Schiff zusammengeführt haben mochte, war vergangen, vergessen war das Ringen, der Hunger, der Durst, das Sterben auf hoher See, zwischen ihnen war eine Einheit entstanden, gestützt von der Hand eines jeden, gemeinsam würden sie jetzt untergehn oder gemeinsam überleben, und dass der Winkende, der Stärkste von ihnen ein Afrikaner war, vielleicht zum Verkauf als Sklave auf die Medusa verladen, ließ den Gedanken aufkommen an die Befreiung aller Unterdrückten.»
Die Ästhetik des Widerstands ist der Titel eines dreibändigen, um die 1000 Seiten umfassenden Romans, der in zehnjähriger Arbeit zwischen 1971 und 1981 entstand. Das Werk stellt den Versuch dar, die historischen und gesellschaftlichen Erfahrungen und die ästhetischen und politischen Erkenntnisse der Arbeiterbewegung in den Jahren des Widerstands gegen den Faschismus zum Leben zu erwecken und weiterzugeben. Zentral ist der Gedanke der zu erreichenden Einheit: zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten wie zwischen der künstlerischen Moderne und der Arbeiterbewegung. Die drei Bände sind einzeln in den Jahren 1975, 1978 und 1981 in Westdeutschland im Suhrkamp Verlag erschienen, 1983 wurden sie auch in der DDR veröffentlicht. Ein Seitenstück zu dem Roman sind Weiss’ Notizbücher 1971–1980, eine Auswahl, die vom Autor selbst mit der Absicht zusammengestellt wurde, den Entstehungsprozess, die Quellen des Romans und die lang dauernde Arbeit an seiner Fertigstellung zu dokumentieren; auch sie sind 1981 bei Suhrkamp erschienen.
Das erst kurz vor dem Tod des Autors abgeschlossene Werk zeichnet ein umfassendes Bild der faschistischen Epoche in Europa aus Sicht der antifaschistischen Position des Widerstands.
Verhandelt wird dabei die Frage um die mögliche Rolle von Kunst und Kultur als Nährboden für politischen Widerstand gegen totalitäre Systeme. Weiss schildert nicht nur die Lebensbedingungen, unter denen Menschen mit Kunst in Berührung kamen. Er beschreibt auch, wie bestimmte Kunst den wenigen Menschen, die sich dem Nationalsozialistischen Regime widersetzten, Kraft und Orientierung vermitteln und das politische Bewusstsein schärfen konnte. Zentrale Figur ist ein durch den ganzen Roman namenlos bleibender, fiktiver deutscher Arbeiter und Widerstandskämpfer, den Weiss, wie er selbst bemerkt haben soll, mit seiner eigenen «Wunschbiografie» versehen hat.
Eugène Delacroix: Die Freiheit auf den Barrikaden (Die Freiheit führt das Volk an), 1830, Paris, Louvre
«In ihrer fleischigen Fülle, die Faust um die scharf gezeichnete Schusswaffe geballt, den schweren Schenkel vorgestemmt, zeigte sie das Stadium an, in dem die Idee zur materiellen Gewalt wird. In der Dreieinigkeit des Proletariats schlossen sich ihr Arbeiter, Intellektueller und Jugendlicher an.»
Durch alle Bände ziehen sich wie ein roter Faden immer wieder Interpretationen von Kunst und Literatur, so z. B. des Dadaismus, des Surrealismus, Théodore Géricaults Gemäldes Floß der Medusa (Louvre), der Tempelanlagen von Angkor Wat, des Gemäldes Die Freiheit führt das Volk an von Eugène Delacroix und insbesondere Picassos Guernica-Gemäldes. Franz Kafkas Roman Das Schloss wird im Romantext ausführlich interpretiert. Schon gleich am Anfang des Romans, bei einem konspirativen Treffen vor der Schlachtendarstellung auf dem Fries des antiken Pergamonaltars führen der Ich-Erzähler und zwei seiner kommunistischen Genossen eine Diskussion um Geschichte, Politik, Kultur, Kunst und Literatur – vor allem jedoch um die Möglichkeit, das kulturelle Erbe der Vergangenheit für den sozialistischen und antifaschistischen Kampf zu nutzen. In den Giganten, die auf dem Pergamonaltar von den olympischen Göttern besiegt werden, erkennt er das Abbild der Proletarier, die sich gegen ihre Unterdrücker wehren. Historische Recherchen unter anderem über die Mitglieder der «Roten Kapelle» um Harro Schulze-Boysen flossen in das Werk ebenso ein wie detailgetreue Beschreibungen von Orten, Wahrnehmungen, Gedankengängen und der Bewusstseinsentwicklung des Protagonisten und seiner Mitstreiter.
Eugène Delacroix: Die Dantebarke (Dante und Vergil in der Hölle), 1822, Paris, Louvre
«Bisher hatte er [der Opportunist Delacroix] seine ausschweifenden Phantasien in Höllenfahrten und Gemetzel versetzt, das grausame Niederschlagen des griechischen Freiheitskampfs war ihm noch nah, nun versuchte er, diesem Julitag, in dessen Toben er geraten war, Gestalt zu geben.»
Der 1. Band behandelt vornehmlich Erfahrungen der proletarischen Bildung, des Lesens und Sehens von Kunstwerken vor dem Hintergrund der verfallenden Weimarer Republik und des aufziehenden Faschismus vom Standpunkt des Arbeiters. Die Erzählung setzt im September 1937 ein, Dialoge eröffnen Rückblicke auf die gescheiterte Bremer Räterepublik und die gescheiterten Kooperationsversuche zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitern in der Weimarer Republik. In Form vielfältiger Überblendungen und Montagen aus der Perspektive des Erzählers entsteht ein breites Panorama. Wenige Tage später verlässt dieser als Jugendlicher Berlin und gelangt über die damalige Tschechoslowakei nach Spanien, wo er als Sanitäter für die Republikaner am Kampf gegen Franco teilnimmt. In Spanien erlebt er die scharfen Konflikte zwischen den verschiedenen linken Gruppen und hört von Stalins Schauprozessen gegen vorgebliche Abweichler und Verräter.
Im 2. Band verschlägt es den Erzähler nach der Auflösung der Internationalen Brigaden und dem Zusammenbruch der Spanischen Republik zunächst nach Paris. Wie auch Weiss selbst, landet der Protagonist schließlich in Schweden. Er arbeitet in einer Fabrik und betätigt sich in der illegalen KP. Er lernt den ebenfalls im Exil lebenden Bertolt Brecht kennen, unter dessen Anleitung er erste Schreibversuche macht. Er entschließt sich, in der Tradition Brechts sozialistische Parteilichkeit mit persönlicher Kreativität zu verbinden und zum kritischen Chronisten seiner Epoche zu werden.
Francisco Goya y Lucientes: Die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 in Madrid, 1814, Madrid, Prado
«Vermutlich gab es neben den noch zuckenden, blutüberströmten Leibern nicht den geringsten Gedanken an Zorn, Stolz und Sieg, nur an Würgen, Frieren und unsägliche Angst, und von einer Zukunft war keine Spur vorhanden, beim Krachen der Schüsse war alles längst in furchtbarer Unwirklichkeit vergangen. Was sollten wir anfangen mit diesen Zeichen der Einmaligkeit, was half uns das vollendet komponierte Massaker, wenn alles um uns ungelöst blieb.»
Dieser Entschluss kommt besonders im 3. Band zum Ausdruck: Aus räumlicher und zeitlicher Distanz beschreibt er den Widerstand der «Roten Kapelle» in Berlin. Die detaillierte Beschreibung der Verhaftung und Hinrichtung der Widerständler in Plötzensee stellen den erschütterndsten Teil des Romans dar. Die Erzählung endet im Jahr 1945 nach der Niederringung des Faschismus in Europa mit einem letzten Hinweis auf den Fries des Pergamonaltars, «auf dem die Söhne und Töchter der Erde sich gegen die Gewalten erhoben, die ihnen immer wieder nehmen wollten, was sie sich erkämpft hatten».
Der Roman gewinnt seine Unverwechselbarkeit durch einige markante Strukturelemente wie die Kombination von historisch authentischen und fiktiven Figuren sowie die Kombination von narrativen und reflexiven Partien, die zu der treffenden Bezeichnung «Roman-Essay» geführt hat. Ein weiteres dominantes Merkmal sind die ausgedehnten dialogischen Partien, teils in direkter, teils in indirekter Rede. Sie sind formaler Ausdruck einer Gedankenbewegung, die in Brechts Nachfolge immer wieder versucht, widersprüchliche Positionen (in Politik, Ideologie, Ästhetik) zu artikulieren und so gegeneinander zu setzen, dass sie zu neuen Erkenntnissen, Konsequenzen, Veränderungen führen. Eine ähnliche Funktion kommt dem Verfahren der Montage zu, mit dem Weiss auf quasi-filmische Weise verschiedene Orte, Zeiten, Figuren und Standpunkte miteinander konfrontiert. Andererseits bewirkt der biografische Erzählrahmen zumindest formal eine «Einheit der Widersprüche».
Albrecht Dürer: Melancholia I, 1514
«Für diese Menschen gebe es nur zwei Möglichkeiten, entweder den immer hermetischer werdenden Rückzug in ihre Halluzinationen, in denen die Vereinsamung ihnen allmählich den Sinn für das Zusammensein mit anderen Menschen raube, oder den Weg in die Kunst. Dieser Weg aber sei nur so lange offen, als Bereitschaft bestehe, sich an die äußere Welt zu wenden. Ginge dies verloren, gebe es keinen Einlass mehr in die Regionen der Kunst. Die Grenze zwischen dem Sich-Verschließen und dem Sich-Öffnen, was eine Heilung verspreche, sei in der Kunst stets vorhanden und spiegle sich in der Neigung zur Melencholia. Fast sei es so, dass uns in einem Kunstwerk mehr als der Aufschwung dieses Versinken im Unbenennbaren ergreife.»
Für die Wahl der Romanform dürfte eine weit zurückreichende Vorgeschichte wesentlich sein. Immer wieder hatte sich Weiss seit Anfang der 60er Jahre mit dem Plan befasst, ein Werk nach dem Vorbild von Dantes Göttlicher Komödie zu schaffen. Zunächst hatte er die Vorstellung eines dramatischen Werkzyklus über das «Welttheater» der Unterdrückung, doch im Sommer 1969 entschied er sich für eine Prosafassung und arbeitete auch bereits daran. Dieses Projekt wies zwei «Monstrositäten» auf: «die Epoche in ihrer Totalität zur Darstellung zu bringen» und «dies durch Spiegelung in Bewusstsein und Sprache eines einzigen Zeitgenossen zu tun» – wofür ausschließlich eine epische Form geeignet war.
Pablo Picasso: Guernica, 1937, Madrid, Prado
«Nach einer Weile nahm die Komposition, mit ihrer zentralen Figurenpyramide, ihren seitwärts aufragenden Gestalten, Gegenständlichkeit an. Ohne die Erscheinung noch ganz zu begreifen, sahn wir, was in Spanien geschah. Gehämmert zu einer Sprache von wenigen Zeichen, enthielt das Bild Zerschmettrung und Erneurung, Verzweiflung und Hoffnung.»
Der Text ist entnommen aus: http://de.wikipedia.org
http://www.kat.ch/bm/pw/asthetik.html