Sonderthema
Marat/Sade
Das 1964 erschienene Stück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade spielt mit seinem langen, für heutige Zeiten unüblichen Titel auf die Tradition der mittelalterlichen Fastnachtsspiele an. Diese verbanden Spaß und Ernst miteinander, indem ernste Themen komödienhaft und unterhaltsam dargestellt wurden, um so eine Kritik an den Verhältnissen zu äußern. Diese Intention nimmt Peter Weiss auf und macht von Beginn an deutlich, dass sein Drama keine reine Komödie sein soll, sondern in der Aussage ernst genommen werden will.
Der Ablauf des Stückes Marat/Sade ist formal-ästhetisch komplex gestaltet. Es gibt drei unterschiedliche inhaltliche Ebenen, Marats Ermordung durch Charlotte Corday, de Sades Inszenierung dieses Vorganges in der «Irrenanstalt» zu Charenton und schließlich die Anwesenheit der Zuschauer, die immer wieder aktiv mit einbezogen werden. Diese Erzählebenen werden beständig miteinander vermischt, die Schauspieler wechseln permanent ihre Rollen, mal sind sie die «Verrückten», mal die «Revolutionäre», mal sie selbst. Dieser Verfremdungseffekt soll das Schauspiel als Schauspiel im Schauspiel entlarven, also zeigen, dass es sich auf der Bühne nicht um die Darstellung einer historischen Realität handelt, sondern um ein Gleichnis. In Abkehr von Bertolt Brecht geht es Peter Weiss jedoch nicht um eine rationale Auseinandersetzung mit der dargestellten Problematik. Marat/Sade ist keinesfalls als didaktisches Lehrstück gedacht, sondern als ein emotionales und mitreißendes Drama, das die Zuschauer zum Einfühlen und Mitfühlen einlädt.
Weiss interessiert sich nicht für seine Figuren als konkrete historische Individuen, vielmehr stehen sie für unterschiedliche Modelle gesellschaftstheoretischer Anschauungen. Daher ist das Stück auch nicht lebensgeschichtlichen Fakten verpflichtet, beispielsweise haben sich Marat und de Sade niemals unter den geschilderten Bedingungen getroffen. Stattdessen ist das Drama von dem Willen zur Interpretation der Gegenwart getragen. Peter Weiss hat die Verfügbarkeit von Geschichte zum künstlerischen Prinzip erhoben. Das im Text anhand der Figurenkonstellation Marat versus de Sade durchgespielte Modell betrifft Fragen, die für die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in den 60er Jahren eine zunehmend wichtigere Rolle spielen sollten: Welche Möglichkeiten und Notwendigkeiten gibt es für eine revolutionäre politische Veränderung?
Die Stärke des Stückes liegt in der ungemeinen Kunstfertigkeit des Autors, politische Positionen in einer großen Formenvielfalt darzustellen. Die vom Autor verwendeten Mittel des surrealistischen, des epischen und des grausamen Theaters, sein Springen zwischen strenger Ordnung und chaotisch anmutender Vielfalt verhindert jeden moralisch-belehrenden Impetus.
Die Schwäche des Stückes liegt in der letztlich fehlenden Aussage. Weiss kann sich nicht für die eine oder andere Seite entscheiden. Zwar lässt sich anführen, er zeige die Widersprüchlichkeit von Wirklichkeit und damit, dass zu einfache Politkonzepte der Realität nicht gerecht werden können. Dennoch bleibt der Text in seiner Aussage unbefriedigend. Das hat Peter Weiss wohl ähnlich empfunden, nicht weniger als fünf unterschiedliche Versionen liegen von dem Theaterstück vor. Die letzte und gültige ist die von ihm autorisierte «revidierte Fassung 1965» des Rostocker Regisseurs Hans Anselm Perten, der es, laut Aussage von Peter Weiss, besser als der Autor selbst schaffte, die Intention des Stückes auf den Punkt zu bringen.
Der Text ist entnommen aus: http://www.xlibris.de