Das liest man in Deutschland
Beklemmende Lektüre
Ein amerikanischer Historiker erinnert an das Schicksal sogenannter Mischlinge
Auf das Thema Schicksale deutsch-jüdischer «Mischlinge» im Dritten Reich kam der Universitätsprofessor James F. Tent aus Alabama durch eine Zufallsbekanntschaft während einer Eisenbahnfahrt durch die DDR im Sommer 1978. Der ihm gegenübersitzende Professor Werner Jentsch erzählte ihm seine Lebensgeschichte und enthüllte ein «haarsträubendes», dem Autor bis dahin weitgehend unbekanntes Schicksal, das er mit Tausenden Deutschen seiner Generation geteilt hat. Jentsch galt nämlich in Hitlerdeutschland als «Halbjude» oder als «jüdischer Mischling» – wie jene bezeichnet wurden, die einen jüdischen Vater oder eine jüdische Mutter hatten. Diese Definition wird von Tent und auch in dieser Rezension der Einfachheit und Klarheit wegen beibehalten.
Das NS-Regime hatte für diese Menschen einen eigenen rechtlichen Status geschaffen, der sie zunächst davor bewahrte, dieselbe Entrechtungsspirale zu durchlaufen wie ihre sogenannten «volljüdischen» Verwandten. Doch selbst diese Menschen hatten unter Diskriminierungen und Verfolgungen zu leiden, wenn auch später und weniger schwer als ihre Leidensgefährten. Sie lebten weiter unter ihren deutschen Mitbürgern, mussten jedoch untergeordnete Berufe ausüben und durften keine Arier heiraten. Mit der Zeit freilich wurde ihnen ein normales Leben in der Gesellschaft erschwert. Einige der männlichen Mischlinge dienten sogar an der Front, bis die Wehrmacht sie plötzlich mit Schimpf und Schande davonjagte. In den letzten Jahren des Krieges wurde es dann immer offenkundiger, dass diese Gruppe als nächste dem Holocaust zum Opfer fallen würde. Nur das Kriegsende rettete ihnen das Leben. Nach 1945 blieben viele Mischlinge in Deutschland. Ihr Schicksal jedoch geriet schnell in Vergessenheit oder wurde gar nicht wahrgenommen. Für manche waren sie nur ein peinliches Überbleibsel der Nazi-Herrschaft. Viele dieser Opfer behielten daher weiterhin ihre Überlebensstrategie bei, die sie im «Dritten Reich» geübt hatten. Sie verhielten sich unauffällig und führten ein betont angepasstes Leben, zumal nicht wenige Deutsche insgeheim an ihren Vorurteilen gegenüber Juden festhielten.
Doch nachdem der braune Spuk vorbei war, machten einige der Betroffenen beeindruckende Karrieren in Wissenschaft, Medien und Politik, so wie der bekannte Fernsehmoderator Gerhard Löwenthal, der als wichtiger Zeitzeuge erst in der deutschen Ausgabe erwähnt werden konnte, während er in der im Jahr 2003 auf Englisch erschienenen amerikanischen Ausgabe noch nicht vorkommt. Ein anderer ist Ernst Benda, der ehemalige Innenminister und spätere Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Er galt im «Dritten Reich» als «Vierteljude». «Mischlinge» waren auch der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt und die einstige FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher, diese wird von Tent allerdings nicht genannt.
In der bisherigen Holocaust-Forschung wurden die sogenannten Mischlinge lange nicht beachtet. Nur einige Publikationen haben sich mit ihnen befasst, wie etwa Beate Meyer in ihrer Dissertation Jüdische Mischlinge. Rassenpolitik und Verfolgungswahn 1933–1945 und Martin Doerry in seinem Bericht über seine Großmutter Mein verwundetes Herz. Das Leben der Lilli Jahn 1900–1944. Auch Raul Hilberg hat diesen Opfern in seinem Werk ein bescheidenes Plätzchen eingeräumt.
Tent erhebt indes keineswegs den Anspruch, diesen Aspekt des Holocausts gründlich und umfassend beleuchtet und dargestellt zu haben. Er bietet keine tiefschürfenden Analysen von Beweggründen und Zielen der beteiligten Akteure innerhalb des NS-Machtapparates. Gleichwohl ist seine Publikation eine gute Ergänzung zu diversen Forschungsberichten. Denn im Mittelpunkt seines Buchs stehen zahlreiche Einzelschicksale von Menschen mit teilweise jüdischer Abstammung, wobei er sowohl auf eigene Befragungen als auch auf amtliche Quellen zurückgreift und den neuesten Stand der Forschung mit berücksichtigt. Allerdings sind die meisten dieser Opfer, die zum Zeitpunkt der Machtergreifung erwachsen waren, inzwischen gestorben und konnten nicht mehr befragt werden. So war Tent vor allem auf jene angewiesen, die die NS-Zeit als Kinder oder Heranwachsende erlebt haben.
Unter Kapitelüberschriften wie «Unschuldige im Klassenzimmer», «Bewerbungen von Mischlingen sind zwecklos» oder «Trennlinien und Mauern» erzählt der Autor detailliert von Menschen, die als sogenannte Nichtarier auf jede erdenkliche Weise geschnitten, diffamiert oder denunziert wurden, die, wenn sie eine höhere Schule besuchten, diese verlassen mussten, die nur auf Widerruf die deutsche Staatsbürgerschaft behalten durften, die in Zwangsarbeitslager gesteckt wurden und – in ständiger Angst vor dem nächsten Schritt – sehnlichst auf das Ende des Krieges warteten. Tent weist ferner auf das unterschiedliche Verhalten der Lehrer hin. Nicht alle waren eingefleischte Nazis. Es gab auch erfreuliche Ausnahmen. In einem weiteren Kapitel zeigt der Autor, dass Bewerbungen von Mischlingen oft zwecklos waren und dass ihnen im Allgemeinen nur randständige Stellen offen standen. Nach jedem Kapitel wird ein genaues Fazit gezogen, wobei Wiederholungen nicht ausbleiben.
Mit deutlich spürbarer Anteilnahme breitet James F. Tent eine Fülle von Einzelschicksalen mit oft erschreckenden, erschütternden und fast unglaublichen Vorfällen aus und gewährt seinen Lesern so einen anschaulichen Einblick in den für Mischlinge mitunter recht gefahrvollen Alltag zur Zeit des Nazi-Regimes.
Nebenbei wirft er einen Blick auf einzelne Etappen der rassistischen Entscheidungsprozesse: Die erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz im November 1935 entzog deutschen Volljuden die Staatsbürgerschaft. Mischlinge erhielten diesen Status nur auf Abruf. Nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 begann die Ghettoisierung der Volljuden, von der Mischlinge und Juden, die mit arischen Partnern verheiratet waren, vorerst verschont blieben. Dann aber verschärfte sich die Judenverfolgung. Auf der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 wurde beschlossen, alle Juden Europas zu ermorden. Der Status der Mischlinge blieb weiter in der Schwebe – und damit gefährdet.
Im Jahr 1939 zählten 72 000 deutsche Staatsbürger im damaligen Deutschland zu «Halbjuden», rund 40 000 Deutsche wurden als «Vierteljuden» eingestuft. Wer zwei jüdische Großeltern hatte, galt als «Mischling ersten Grades», ein «Mischling zweiten Grades» war, wer nur einen jüdischen Großelternteil hatte. Letztere waren nicht denselben Verfolgungen ausgesetzt wie die «Halbjuden». Doch auch sie wurden Opfer rassistischer Schikanen der Nazis, zum Beispiel verwehrte ihnen der NS-Staat die Zulassung zur Universität oder erschwerte ihr berufliches Fortkommen. Überwiegend kamen die jüdischen Mischlinge (etwa 90 Prozent) aus nichtreligiösen Familien, waren aber auf Wunsch der Eltern evangelisch oder katholisch getauft worden. Erklärte indes ein Halbjude, er habe sich für den jüdischen Glauben als Religion entschieden, wurde er als «Geltungsjude» angesehen und war denselben Verfolgungs- und Unterdrückungsmaßnahmen ausgesetzt wie die in einer Mischehe lebenden Volljuden.
Tents Buch bietet eine beklemmende, spannende und eindrucksvolle Lektüre, die besonders historisch unkundige Leser ansprechen und ihnen an vielen Stellen unter die Haut gehen dürfte.
Von Ursula Homann
James F. Tent (Hg.): Im Schatten des Holocaust. Schicksale deutsch-jüdischer «Mischlinge» im Dritten Reich. Übersetzt aus dem Englischen von Karl Heinz Siber. Böhlau Verlag, Köln 2007.
Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de