Wissenschaft und Technik
Warum Angst für den Menschen so wichtig ist
Von Geburt an wird der Mensch gefährlichen Situationen ausgesetzt. Er reagiert darauf mit Angst – einem Zustand, der von einfacher Furcht bis zur nackten Panik reicht. Doch nicht in jedem Fall ist diese Reaktion sinnvoll. Fest steht aber: Ohne Angst wären der Mensch und die Menschheit nicht, was sie sind.
Wer kennt nicht noch die Sprechgesänge aus frühen Kindertagen wie: «Angsthase, Pfeffernase morgen kommt der Osterhase und bringt dir faule Eier!»? Sie gingen durch Mark und Bein, als einem sowieso schon das Herz in die Hose gerutscht ist. Als Letzter noch oben auf der hohen Mauer stehend, musste man sich nun überlegen: springen oder nicht? Nehme ich es in Kauf, über Wochen gehänselt zu werden, oder gehe ich das Risiko ein, mir weh zu tun?
In Hinblick auf die Evolution muss man sich alles andere als schämen, vor etwas Angst zu haben. Es war durchaus sinnvoll, dass unsere Vorfahren beispielsweise vor einem wild gewordenen Bären Reißaus genommen haben. Ohne Angst wäre die Menschheit schon längst untergegangen. Das Spektrum von Dingen oder Ereignissen, vor denen sich Menschen fürchten, ist individuell verschieden. Dennoch gibt es Überschneidungen von grundlegend existentiellen Ängsten, die auf unseren Ursprung in früher Vorzeit zurückgehen. Ängste sind wichtig, da sie das Überleben sichern.
Dass das Gefühl der Angst überhaupt entsteht, ist genetisch festgelegt. US-Forscher der Rutgers University in Piscataway, New Jersey, fanden das Gen Stathmin, welches angeborene als auch erlernte Angst steuert. Zusammengefasst ergaben die Studienergebnisse, die das Team um Gleb Shumyatsky 2005 im Fachjournal «Cell» veröffentlichte, dass Mäuse, denen dieses Gen fehlte, in den Untersuchungen regelrechte Draufgänger waren.
Bei der Angstentstehung im Körper spielen unterschiedliche Gehirnbereiche eine Rolle. Das emotionale Zentrum des Gehirns, die sogenannte Amygdala scheint aber nach dem bisherigen Erkenntnisstand der Knotenpunkt bei der Angstentstehung zu sein. Ein Angst erzeugender Reiz wird in der Amygdala verarbeitet und setzt eine Kaskade in Gang, die über Hormonausschüttungen wie unter anderem Adrenalin, Cortisol und Dopamin zu den Angst prägenden Körperreaktionen und dem nach überstandener Angst anschließenden Wohlgefühl führt.
Herzrasen, steigender Blutdruck, flache beschleunigte Atmung, Schweißausbruch und Pupillenverengung sind einige davon. Manch einer macht sich sogar tatsächlich vor Angst in die Hosen. Die Angst steht einem meist auch ins Gesicht geschrieben, was sich durch extreme Blässe oder Rötung bemerkbar machen kann. In Angst und Schrecken versetzt hat man weit aufgerissene Augen und unwillkürliche Kieferbewegungen, die mitunter sogar die Zähne klappern lassen. Man zittert wie Espenlaub, denn die Muskeln befinden sich in erhöhter Anspannung, um schnell reagieren zu können. Die Enge, die im Brustkorb verspürt wird, und das Gefühl, einem wird die Kehle zugeschnürt, finden sich auch in der Herkunft des Wortes «Angst» wieder. «Angustus» bedeutet im Lateinischen «eng» und «angere» bedeutet «zuschnüren».
All diese Reaktionen gehen einher mit dem eigentlichen Nutzen des Angstzustandes: der extremen Aufmerksamkeits- und Leistungssteigerung, in die der Körper versetzt wird. Denn er muss auf die drohende Gefahr blitzschnell richtig reagieren, um das Überleben zu sichern. Flucht oder Angriff? Erstarrung oder Drohung? Im Hinblick auf eine existenzielle Bedrohung ist der Körper durch die Angst in Bereitschaft höchster Leistungsfähigkeit. Mit der Angst im Nacken läuft es sich beispielsweise schneller, da Atmung, Kreislauf und Wahrnehmung durch die Hormonausschüttung stark verändert und stimuliert werden.
Manchmal leistet die Angst dem Körper aber keinen Energieschub, sondern führt sogar zu dessen Immobilisierung: Man ist dann gelähmt vor Angst oder wird sogar ohnmächtig. Die Erstarrung zur Salzsäule ist aber bezogen auf unsere Vorfahren gar nicht die schlechteste Form der Verteidigung. Denn viele Raubtiere reagieren auf Bewegung. Beispielsweise bei Insekten oder Mäusen tritt in manch brenzliger Situation die sogenannte Schreckstarre auf, ein unwillkürlicher Totstellreflex, mit dem der Feind ausgetrickst wird.
In der zivilisierten Welt zeigen sich heute existenzielle Bedrohungen nur noch selten in Form von wilden Tieren, die es auf uns abgesehen haben. Dafür haben andere Ängste Einzug in unser Leben gehalten. Zum Beispiel Lampenfieber oder Prüfungsängste, die uns zwar heute nicht unmittelbar das Leben retten, aber im besten Fall zu einer Leistungssteigerung führen und somit durchaus auch positive Effekte für uns haben können.
Gesunde Angst ist richtig und wichtig
Wenn Angst allerdings zu einer Hemmung führt oder krankhafte Formen annimmt, ist sie natürlich kontraproduktiv. Gegen spezielle Ängste wie beispielsweise die Arachnophobie (Angst vor Spinnen), die Klaustrophobie (Angst vor engen Räumen) oder etwas exotischer die Telephonophobie (Angst vor Telefonen) oder Phobophobie (Angst vor der Angst) sowie noch eine lange Liste weiterer krankhafter Ängste gibt es heute gute Behandlungsmöglichkeiten. Meistens werden dabei die Patienten in einer Verhaltenstherapie mit ihren Angstauslösern konfrontiert und müssen sich mit ihnen auseinandersetzen – vermeiden gilt nicht, Augen auf und durch ist die Devise.
Mit manchen Ängsten lernt man zu leben, mit manchen nicht. Zum Teil verfolgen uns unsere Ängste sogar bis in den Schlaf. Dort laufen wir vielleicht um unser Leben oder kämpfen mit wilden Bestien oder anderen Widersachern. Spätestens in den Albträumen setzen wir uns mit unseren Ängsten auseinander, die wir tagsüber versuchen wegzuschieben. Sie lassen uns manchmal sogar Todesangst verspüren, und wir erwachen schweißgebadet. Während der Traumphase ist die Amygdala übrigens besonders aktiv, was die Vermutung nahe legt, dass diese Träume ihre Entstehung ebenfalls in dieser Hirnregion haben.
Kinder sind leider keine angstfreien Wesen. Bereits Säuglinge und Kleinkinder fürchten sich, und zwar vor allem vor einer möglichen Trennung von ihren Eltern und Bezugspersonen. Im Laufe des Heranwachsens unterliegen Kinderängste aber einer Veränderung. Kinder ab etwa sechs Jahren haben sogenannte Objektängste. Diese beziehen sich auf ganz konkrete Gefahren. Die «Top 4» sind: Dunkelheit, Einbrecher, Gewitter und Tiere wie Hunde, Spinnen oder Schlangen. «Hinter den Objektängsten versteckt sich die Auseinandersetzung mit der eigenen Wut und Aggression. Die Kinder verstehen: Wie böse sie selbst sein können, können auch andere sein. Das erzeugt natürlich Ängste», so Reinmar du Bois, Professor an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Olgahospital, Stuttgart.
Erlernte Angst ist wie wirkliche Angst. Das haben der US-Forscher Andreas Olsson und seine Kollegen in einer Studie herausgefunden, die im März 2007 im Fachjournal «Social Cognitive and Affective Neuroscience» veröffentlicht wurde. Es spielt also keine Rolle, ob wir bestimmte Angst einflößende Situationen bereits am eigenen Leib erfahren haben oder wir sie nur vom Hörensagen her kennen. Du Bois: «Bei der Entwicklung von Ängsten bei Kindern spielen durchaus negative Erfahrungen des Kindes eine Rolle. Maßgeblich aber ist die erzieherische Aufklärung – vor allem durch die Eltern.» Kinder passen sich demnach den Ängsten der Eltern an. Im Hinblick auf die evolutive Entwicklung ist dies wohl eine der wichtigsten Überlebensstrategien. Denn nur wer gelernt hat, sich auch vor Situationen zu fürchten, die er noch nicht selbst erlebt hat, weiß, wann er rennen muss, um sich zu retten.
Im Laufe der kindlichen Entwicklung verändert sich der Umgang mit Ängsten, da die Kinder das Gefühl der Angst als solches erkennen lernen. Kinder im Alter von drei bis vier Jahren beginnen mit den sogenannten Angst-Lust-Spielen, ein Anzeichen dafür, dass sie bereit sind, sich mit ihrer Angst auseinanderzusetzen. Sie haben den Wunsch, Angst zu erleben, damit sie sich wieder auflöst.
In ihren Spielen sind Kinder ganz schön radikal – zum zwanzigsten Mal muss das Plastikmännchen – verfolgt von einem Ungeheuer der bestialischsten Art – mit vergeblichen Hilferufen und Höllengeschrei von der Tischkante in die Tiefe stürzen. Auch Verstecken oder Geistspielen gehört in diese Spielart der Angst. «In diesem Spiel haben die Kinder nur einen Wunsch – sich zu entlasten. Durch ständige Wiederholungen eines solchen Spiels versichern sie sich, dass sie mit ihrer eigenen Angst, die sie verspüren, leben können. Märchen und Gruselgeschichten sind für Kleinkinder dann geeignet, wenn sie von sich aus solche Fantasiespiele zur Angstverarbeitung entwickeln», sagt der Forscher du Bois.
Kann Angst auch Spaß machen? Aber ja! Den Nervenkitzel empfinden viele Menschen als besonders lustvoll. Denn aus Situationen besiegter Angst geht man erleichtert, befreit und glücklich hervor. Ob beim Mitfiebern bei einer Gruselgeschichte oder bei der Tour mit der Achterbahn geraten die Hormone so richtig in Wallung. Nach dem Höhepunkt der Spannung belohnen sie uns mit einem wohligen Glücksgefühl und machen keinen Unterschied zwischen realer und fiktiver Angst. Horrorgeschichten und Psychothriller, aber auch Aktionen, die unseren Mut auf die Probe stellen wie Fallschirmspringen oder Bungee-Jumping, werden wohl immer Abnehmer finden. Vielleicht kommt das daher, dass der Mensch in der heutigen Welt kaum mehr von wilden Tieren gejagt wird, und er sich seinen «Angstkick» und die erlösende Entspannung danach nun woanders suchen muss.
Von Nicole Silbermann
Der Text ist entnommen aus: http://www.welt.de