Wissenschaft und Technik
«Sie haben Krebs»
Noch immer tun sich Ärzte schwer, wenn sie einem Patienten die bittere Wahrheit sagen müssen. Dabei ist einfühlsames Verhalten lernbar.
Die gute Nachricht zuerst: Kurt Gmeiner heißt gar nicht so. Er spielt diesen «standardisierten Patienten» bloß für einen Kurs an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dort können Medizinstudenten seit 2007 in Kleingruppen lernen, schlechte Nachrichten zu überbringen. Bei Kurt Gmeiner ist dies ein fortgeschrittener Krebs der Bauchspeicheldrüse. Die durchschnittliche Überlebenszeit mit einem solchen Pankreaskopf-Karzinom beträgt wenige Monate. In acht Minuten muss der Probe-Arzt dem ahnungslosen Bauunternehmer den Ernst seiner Lage klarmachen. Anschließend schätzt er sich selbst ein, bekommt die Rückmeldung seines Übungspatienten und der Gruppe. Die Teilnehmer sind sich bis auf wenige Ausnahmen einig: Es ist wichtig für angehende Ärzte, auf solche Anforderungen vorbereitet zu werden. Und: Die Studenten haben die simulierten Schicksale als realistisch erlebt, sie lösten bei ihnen echte Gefühle aus.
Wie ein Todesurteil
Bis 2003 stand dazu in München gar nichts im Lehrplan, und an vielen Unis ist es noch immer so. Denn Mediziner alter Schule sind es gewohnt, Krankheiten «technisch» zu bekämpfen, ohne den Kranken einzubeziehen. Sein «individuelles Erleben hat für das ärztliche Erkennen und Handeln weiterhin kaum Bedeutung», bemängelt der Kölner Professor Karl Köhle im Lehrbuch «Psychosomatische Medizin».
Ein Beispiel aus dem realen Leben: Uwe C., 53 Jahre alt, nimmt scheinbar ungerührt zur Kenntnis, dass die Gewebeprobe den Verdacht auf ein Prostatakarzinom bestätigt hat. Sein Urologe hält das Schweigen nicht lange aus. Bei dem lokal begrenzten Tumor, beteuert er, könne die Entfernung der Vorsteherdrüse mit großer Wahrscheinlichkeit zur Heilung führen. Seine Befunde erlauben dem Arzt die geäußerte Zuversicht. Das Befinden des Patienten richtet sich aber nicht nach der Statistik. Für Uwe C. klingt die Diagnose wie ein Todesurteil. Sein Schwager sei kürzlich «ziemlich rasch und elend» an so einem Krebs gestorben, berichtet er später. «Ich konnte das bedrohliche Wort aus dem Mund des Doktors zunächst gar nicht auf mich beziehen.» Zu Hause bricht die Haltung des Mannes zusammen. Angst schnürt ihm die Kehle zu. Schlaflos ins Dunkel starrend, sieht Uwe C. sich dahinsiechen, impotent werden, auf Windeln angewiesen.
Krebskranke, das ergaben zahlreiche Befragungen, wollen fast immer umfassend im Bilde sein. Und Ärzte befürworten inzwischen eine Offenheit, die viele noch in den Achtzigerjahren als unverantwortlich ablehnten. Dennoch ist stets genau auszuloten, was der oder die Kranke jeweils wissen möchte und verkraften kann. Fünf Prozent der Patienten, so Köhle, lehnen Informationen ausdrücklich ab. «Das sollte der Arzt akzeptieren, trotzdem Unterstützung zusichern und im Fall einer geänderten Einstellung verfügbar sein.»
Es fehlt an Vertrauen
Meist handle es sich um recht einsame Menschen, die durch Verleugnen der Fakten ihre seelische Stabilität zu bewahren versuchten. Leider isoliere Nichtwissen aber zusätzlich, während Mitteilen verbinde. Wer über seine Krankheit reden kann, wird meist verständnisvoll aufgefangen. Doch zuvor muss er wissen, was ihm genau fehlt. Und das zu erfahren, ist schwierig. Bei einer Befragung von Brustkrebspatientinnen war beinahe ein Drittel der Frauen unzufrieden mit dem, was ihnen die Ärzte über ihren Krebs, die Behandlungsmethoden und deren Begleiterscheinungen mitgeteilt hatten. Rund die Hälfte wünschte sich mehr Zeit für Gespräche. Dass hier in Deutschland Defizite bestehen, bestätigte zuletzt die PASQOC-Studie (Patient Satisfaction and Quality of Life in Oncology Care) an etwa 3400 Patienten, die in onkologischen (auf Tumorerkrankungen spezialisierten) Einrichtungen ambulant behandelt wurden: Mangelhaft unterrichtete Patienten fühlen sich insgesamt schlechter und eher von der Krankheit überwältigt. Sie sind unsicherer, ängstlicher und verstärkt depressiv. Sowohl ihre psychischen Belastungen als auch ihre körperlichen Beschwerden, Schmerzen oder Nebeneffekte der Therapie werden häufig übersehen. Außerdem ist jemand, dem der Arzt keine befriedigenden Auskünfte erteilt, weniger zur Mitarbeit bei der empfohlenen Behandlung bereit – ein Teufelskreis. Diese Mitarbeit – Ärzte sprechen von «Compliance» – setzt Vertrauen voraus, und da hapert es. Fehlende Information ist nämlich «eng verbunden mit dem Empfinden mangelnder Unterstützung», erklärt Andrea Gaisser vom Krebsinformationsdienst (KID) Heidelberg. Er wurde 1986 nach dem Vorbild des National Cancer Institute in den USA am Deutschen Krebsforschungszentrum eingerichtet. Kernstück ist die Telefonberatung. Über vier Leitungen, die werktags von 8 bis 20 Uhr besetzt sind, beantworten speziell geschulte Mediziner bundesweit Anfragen. Obwohl der KID jedem offen steht, nutzen ihn überwiegend Patienten und ihre Angehörigen. Sie möchten sich vor allem vergewissern, ob das Richtige vorgeschlagen oder getan wird und was im konkreten Fall am besten ist. Die mittlere Gesprächsdauer beträgt 18 Minuten – rund das Doppelte der vom Arzt üblicherweise bewilligten Zeit.
Experten in eigener Sache
In der Heidelberger Fernsprechstunde klärten sich auch für Uwe C. einige Fragen, die er unter dem Diagnoseschock nicht zu stellen vermocht hatte: Wie «radikal» muss die Prostata-Operation sein? Wäre eine Strahlentherapie schonender? Kann hinterher das Glied noch steif werden? Verliert man unwillkürlich Harn? Da er anonym bleiben konnte, hatte Uwe C. keine Scheu vor den heiklen Themen. Die Experten vom KID wollen die Informationen des behandelnden Arztes ergänzen, nicht hintertreiben. Ziel ist der Dialog «auf Augenhöhe». Die einst wie Kinder fürsorglich bevormundeten Patienten haben sich inzwischen emanzipiert – «von stummen Empfängern schlechter Nachrichten zu aktiv Fragenden, von Behandelten zu Handelnden, von Betroffenen zu Beteiligten». So umreißt Hilde Schulte, Bundesvorsitzende der 1976 gegründeten «Frauenselbsthilfe nach Krebs», den damals einsetzenden Wandel. Als medizinische Laien, aber «Experten in eigener Sache» wehrten sich die Betroffenen dagegen, von der «Schulmedizin» menschlich in Stich gelassen zu werden. Sie kritisieren, dass Ärzte mit dem Aufklärungsgespräch hauptsächlich die Zustimmung zu medizinischen Eingriffen erlangen wollen, um sich vor Regressansprüchen zu schützen. Die ärztliche Verantwortung werde so auf die Patienten abgeschoben.
Deren Fähigkeit zur Selbstbestimmung ist freilich bei einer lebensbedrohlichen Krankheit eingeschränkt. Patienten in dieser Lage sind «mit der Notwendigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen, überfordert», warnt Monika Keller. Die Fachärztin für Innere und Psychotherapeutische Medizin leitet an der Universitätsklinik Heidelberg die Sektion Psychoonkologie. Unter diesem Begriff fasst man die Bestrebungen zusammen, seelischen und zwischenmenschlichen Problemen der Krebskranken die gleiche Aufmerksamkeit zu widmen wie den körperlichen Vorgängen. «Psychoprofessionelle», wie Keller ihre Berufsgruppe bezeichnet, seien zwar mittlerweile an der Versorgung der Krebskranken beteiligt. Sie könnten jedoch «eine patientenorientierte Betreuung durch onkologisch tätige Ärzte nicht ersetzen».
4000 heikle Gespräche jährlich
Ein solcher Arzt muss Jahr für Jahr rund 4000 Gespräche mit emotional aufgewühlten Menschen in existenziellen Krisen führen. Aber selbst langjährig praktizierende Onkologen sind oft dem Umgang mit Schwerkranken nicht gewachsen. Die Ausbildung vernachlässigt die dafür nötigen Fertigkeiten, nicht zuletzt aufgrund des Mythos, dass sie der «geborene» Arzt ohnehin mitbringe oder sie im Laufe des Berufslebens von selbst erwerbe. Doch den «geborenen Arzt» gibt es nicht. Gesprächsführung muss und kann gelernt werden.
Eine erprobte Methode für die ärztliche Weiterbildung sind Rollenspiele – anhand eigener Fälle mit versierten Patientendarstellern und Videoaufnahmen als Feedback. Zwei Studien haben nachgewiesen, dass Ärzte nach einem solchen Intensivkurs deutlich und sogar auf Dauer bessere Gespräche führen können als eine Vergleichsgruppe ohne Kurs. Die Gruppen waren aufs Geratewohl zusammengestellt worden. Auf ähnliche Weise bringt man Medizinstudenten in England seit Langem bei, schlimme Diagnosen oder Fehlschläge der Therapie schonend zu übermitteln. Seit Kurzem ist britischen Onkologen überprüftes Kommunikationstraining bei der Ausbildung zwingend vorgeschrieben. Diese Qualifikation ist auch in der Schweiz verbindlich.
Obwohl es in Deutschland verschiedene freiwillige Aktivitäten gibt, hat sich da bisher keine einheitliche Schulung durchgesetzt. Ehe ein Programm in der ärztlichen Weiterbildung zur Pflicht werden kann, muss dessen Wirksamkeit nachgewiesen sein, fordert Monika Keller. Anders sei der Aufwand an Zeit (mindestens 20 Stunden), Geld und persönlichem Engagement schwer zu rechtfertigen. Sie ist davon überzeugt, dass sich effektive Kommunikation in der beruflichen Praxis auszahlt, weil der Arzt schneller begreift, worum es dem Patienten wirklich geht. Als Beleg nennt Keller ein Experiment, bei dem bereits ein Minimum einfühlsamer Anteilnahme die Angst von Brustkrebspatientinnen messbar verringerte.
Gerade die wachsende Arbeitsbelastung der Ärzte macht Nachhilfe in der Gesprächsführung unverzichtbar, argumentiert die Heidelberger Privatdozentin. Ein von ihr geleitetes Projekt, das die Deutsche Krebshilfe an sieben Zentren fördert, soll ein zweckmäßiges Training standardisieren, seinen Nutzen untersuchen und zusammen mit aufgeschlossenen Onkologen Richtlinien für die Praxis einführen. Gemessen am europäischen Niveau bestehe «fraglos ein Nachholbedarf». Das bekräftigt Hilde Schulte aus Sicht der Selbsthilfebewegung. Sie erinnert an Paracelsus, der vor 500 Jahren schrieb: «Die Kraft des Arztes liegt im Patienten.»
Jürgen-Peter Stössel
Der Text ist entnommen aus: http://www.bild-der-wissenschaft.de