Das liest man in Deutschland
Christian Kracht bringt Krieg in die Schweiz
Seit 100 Jahren wird gekämpft. Die Schweiz ist eine kommunistische Diktatur. Der Schriftsteller Christian Kracht macht Ernst. Sein Roman «Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten» ist ein grandioses Schauer-Panorama. Der rätselhafte Titel geht auf einen berühmten Sänger zurück.
«Ich bin an diesem Ort. Verloren», sagt die Stimme des Dichters aus dem Off. Man sieht einen gelben Schmetterling mit zwei Augen auf den Flügeln sich auf eine schöne rosablütenblättrige Blume setzen. Er ist gerade knapp eine Minute lang über Seen und Flüsse, über die Steppe, über Afrika geflogen. Von den Augenbrauen eines Eingeborenen weg. Trommeln sind gegangen. Man hat Marschtritte gehört. Von Vögeln und Bergen hat der Dichter gesprochen. Und davon, dass er nur kurz hierher kommt. Der Falter flattert auf der Blume. Da kommt ein Soldatenstiefel anmarschiert. Tritt auf Blume und Schmetterling. Ein Schuss fällt.
Der Dichter, der da aus dem Off des Animationsfilms dunkle Sätze raunt, die im Kino und im Netz Werbung machen sollen für seinen neuen, seinen dritten Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, heißt Christian Kracht. Und den Eindruck, dass er auf dieser Welt verloren ist, hatte man schon lange.
Keine Spur von Popliteratur
So sehr randalierte der Millionärssohn aus Bern gegen die Wände seiner Gegenwart, verrannte sich im Zynismus, dass man ihn manchmal einfach gern in den Arm genommen hätte. Was er dann aber mindestens genauso missverstanden hätte, wie er missverstanden wurde. Dass er ein Popliterat sei, behaupten Flachköpfe immer noch gern, dabei hat er – zumindest in seinen drei Romanen – das komplette Gegenteil unternommen.
Kracht tanzte nicht auf der Oberfläche der Welt, wie das Popliteraten gerne tun, er bestätigt die Warenwelt nicht, auch wenn er sie gern herbeizitierte (sein Namedropping ist legendär). Kracht affirmiert nicht, er stülpt um. Kracht holt als Radikalster seiner Zeitgenossen unter der Oberfläche hervor, was er (und ein nicht geringer Teil seiner Generation) darunter verbirgt: Hass, auf eine ungenügende Welt, auf ihre beleidigende Hässlichkeit. Die Sehnsucht nach einem reinigenden Gewitter, das alles das wegspült (was – außer Gestörtheit – möglicherweise seine sehr, sehr seltsame, zynische Fasziniertheit von Nordkorea und dem dortigen Diktator Kim Jong-Il erklärt). Und die schizophrene Angst davor, dass genau das geschieht, weil es all seine Lebensgrundlagen zernichten würde.
Krachts Romane sind der leisere Teil dieses Randalierens. Fluchtstücke, die immer weiter weg zu führen scheinen, aber immer tiefer hineingelangen in die gefühlte Gegenwart. Immer wieder war er dabei allen seinen Kritikern und den meisten seiner Fans mindestens eine Nasenlänge voraus.
Johnny Cash stiftet den Romantitel
Faserland – die Geschichte der Irrfahrt eines sich auskotzenden Junior-Ästheten durchs leere, wahre Warendeutschland – war nicht die Geburt der Popliteratur in Deutschland, es war dessen Abtreibung. 1979 – die Geschichte eines Architekten, der am Vorabend der islamischen Revolution durch die letzten Partys Teherans fällt und am Ende im chinesischen Arbeitslager eine merkwürdige Form von Glück findet – erzählte vom Ende des hedonistischen Zeitalters nach dem 11. September, bevor das erste Flugzeug ins World Trade Center gekracht war und das Zeichen dafür setzte, dass die Party vorbei war. Und jetzt, während wir uns noch beginnen über den Zustand unserer westlichen Demokratie zu ärgern, schafft Kracht sie in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten einfach ab.
Dazu bedarf es relativ wenig. Im Roman. Denn es hat sie nie gegeben in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (die Zeile stammt aus Oh, Danny Boy, einem sehr moribunden irischen Abschiedslied von 1913, dessen unerbittliche Interpretation durch Johnny Cash hier als besonders passend empfohlen sei).
Kracht betreibt kontrafaktische Geschichtsschreibung. Sein grandioser Schauerroman spielt in einer Schweiz, die Lenin 1917 nicht im plombierten Zug Richtung Russland verlassen hat. Stattdessen – das russische Reich ist durch die Tunguska-Katastrophe verstrahlt – hat er seine Revolution in der Eidgenossenschaft veranstaltet und mit Bakunin und Kropotkin in Meiringen (ganz in der Nähe kam es zum finalen Kampf zwischen Sherlock Holmes und Professor Moriarty) die Schweizer Sowjet Republik (SSR) gegründet.
Seit 96 Jahren befindet sich die SSR nun im Krieg gegen die deutschen und britischen Faschisten, gegen Großaustralien und die Hindustanier (die Vereinigten Staaten halten sich raus, heißen Amexiko, haben sich wegen eines blutigen Bürgerkrieges eingeigelt auf ihrem Kontinent).
Die Geschichte beginnt ungefähr dort, wo 1979 aufgehört hat. In einem Lager. Man hört Artilleriefeuer, die Flöhe beißen, das grauwollene Nachthemd kratzt den Erzähler, die Laken sind schmutzig. Er riecht Menschentalg. Der Erzähler stammt aus dem heutigen, besser: aus unserem Malawi. Er ist einer jener Söldner aus Afrika, mit denen die kleine SSR (eine Art Alpen-Nord-Korea) ihre Armee verstärkt, verstärken muss, um sich gegen die Feinde zu behaupten. Ein Politkommissär, der noch an den Kommunismus glaubt, die goldenen Dörfer und Städte, die gebaut werden, sobald der Feind geschlagen ist. Und der sich auf die Suche nach dem konterrevolutionsverdächtigen polnisch-jüdischen Oberst Brazhinsky begibt, der sich ins Réduit, das 1886 tatsächlich begonnene, bei Kracht ins Gigantomanische ausgebaute Schweizer Alpentunnelverteidigungsbollwerk, zurückgezogen hat.
Schwarze Romantik und Albtraumlogik
Die Jahreszeiten sind abgeschafft – unser Erzähler reitet, stapft von Neu-Bern aus durch eine Ruinenlandschaft, an verbrannten Dörfern, vernichteten Kirchen im ewigen Winter dem Réduit zu, das nichts weniger als ein Labyrinth gewordenes Ebenbild des SSR-Systems ist. Fahrzeuge gibt es keine, jedenfalls keine intakten. Die Zeit steht still seit 96 Jahren, technisch entwickelt hat sich auf der Oberfläche fast nichts, höchstens militärisch, immer wieder sirren Bomben aus deutschen Langstreckenkanonen durch die Luft und der Himmel hängt voller bewaffneter Luftschiffe. Eine Zeit am Ende der Gutenberg-Galaxis.
Man hat eine Gedankenübertragungssprache entwickelt, Schrift spielt keine Rolle mehr – am Anfang sieht man noch ein paar herausgerissene Seiten aus (deutschen!) Büchern. Und dass der Kommissär sich Notizen macht, macht ihn unter der verbliebenen, afrikanisches Hirse-Bananen-Bier saufenden Bevölkerung noch verdächtiger als seine Hautfarbe.
Christian Krachts Erzählung steht auf keiner Buchpreisliste. Was unter anderem damit zu tun hat, dass sie den absoluten Gegenentwurf zum grassierenden Neorealismus darstellt. Ich werde hier sein... stülpt die dunkle Gegenwelt aus der Gegenwart.
Kracht menetekelt eine Geschichte hin, die einer Albtraumlogik folgt, in der deswegen alles möglich ist und alles merkwürdig plausibel, so irre wie es scheint. Eine Traumgeschichte, unter der sich wie im Schachteltraum immer wieder Subträume öffnen. Eine schwarzromantische Geschichte vom Ende aller Moral, aller Gesellschaft.
Das Ende von 1979
Und man gibt sich diesem Albtraum hin. Man kann nicht anders. Mit kantigen, kalten Sätzen stanzt Kracht eines jener Bücher in die Literaturlandschaft, die es braucht, damit man den Kopf frei bekommt. Ein Rätselbuch, an dem man sich das Hirn wund denkt. Das eine ganz eigene Welt entwirft aus einer ganz eigenen Sprache – einer mit den Kriegsjahren mitgealterten eidgenössisch gefärbten, stahlgehärteten Sprache.
Mit Bret Easton Ellis hat das nun endgültig nichts mehr zu tun (wenn es das je hatte), was Kracht schreibt. Alle Marken sind aus diesem Roman verschwunden. Vielmehr als mit Ellis verbindet den weltumtriebigen Weltflüchtling Kracht mit Paulo Coelho und Peter Handke – Kracht ist sozusagen die komplett säkularisierte Mischung aus beiden Pilgerpredigern.
Außerdem im Mixer für Ich werde hier sein... waren: Friedrich Glauser und Joseph Conrad und Ludwig Wittgenstein und Ernst Jünger, ein paar Comic-Hefte, Gothic Novels, drei Bände Sprachtheorie, afrikanische Mythen, ein bisschen Steampunk und Bergliteratur, Kitsch, ein paar Drogen, versteckte Witze, die afrikanischen Tagebücher Krachts unter anderem vom Aufstieg auf den Kilimandscharo und Unmengen literarische Eiswürfel.
Frostig war Krachts Sprache schon am Ende von 1979. In Ich werde hier sein... steht sie phasenweise kurz vor ihrem eigenen Kältetod. Dass man keine Frostbeulen bekommt beim Lesen, liegt am merkwürdigen poetischen Glühen zwischen den eisigen Satzkuben, und daran, dass der geläuterte, erlöste Parteikommissär die Eiszeit der Dekadenz über Europa am Ende verlässt und mit einer blonden Frau unter gleißend blauem Himmel davonfährt.
Kracht, inzwischen verheiratet und angeblich los vom Alkohol, hat sich in einem seiner gefürchteten Interviews gerade von seinem Zynismus verabschiedet, der ihn, sagt er, beinahe umgebracht hätte. Statt auf Osama setzt er jetzt auf Obama und die Macht der Liebe. Das ist schön. Dass er aber mit dem Romaneschreiben Schluss machen könnte, wie er da andeutet, hoffen wir gerade nach der Lektüre dieses neuen Klassikers wirklich nicht. Kracht würde uns sehr fehlen. Uns und jeder Liste für Schweizer und Deutsche Buchpreise.
Von Elmar Krekeler
Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008.
Der Text ist entnommen aus: http://www.welt.de