Das liest man in Deutschland
Sie nannten es Arbeit
Große Verrisse, kleine Honorare, Schnaps um 8.45 Uhr: Alice Schmidt hielt in ihrem «Tagebuch aus dem Jahr 1955» die Arbeitsbedingungen ihres Ehemanns fest.
Literaturkritiker sind böse Leute. Da sitzen die Schriftsteller zu Hause und rackern sich ab, um ein Werk zu erschaffen. Und dann gehen diese blasierten Nichtskönner hin und schreiben ahnungslose Verrisse! So ungefähr lautet der uralte Vorwurf, den gerade auch kritisierte Autoren gerne erheben.
Das war in der frühen Nachkriegszeit auch schon so. Alice Schmidt, die Ehefrau des damals unter Literaten wie Alfred Andersch und Martin Walser noch als Geheimtipp gehandelten Prosa-Innovators Arno Schmidt, führte Tagebuch. Wer ihre Notate aus dem Jahr 1955 liest, die Susanne Fischer jetzt als Fortsetzung des bereits 2004 erschienenen Tagebuchs aus dem Jahr 1954 herausgegeben hat, erhält privates Anschauungsmaterial aus der Werkstatt ihres Mannes satt.
Dabei war Arno Schmidt selbst im Abkanzeln befreundeter Kollegen schnell bei der Hand. Als ihm etwa Martin Walser Anfang 1955 seinen Text Beschreibung meiner Lage zusendet, hält Ehefrau Alice die Reaktion fest: «A sagt: ganz wie Kafka, gar nichts eigenes. Aufguss Kafka!»
Doch auch die eigene Lage war nicht einfach. Am 10. Februar 1955 rezensierte der konservative Kritiker Karl Korn in der FAZ Alfred Anderschs neue Literaturzeitschrift «Texte und Zeichen». Darin war Arno Schmidts Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas erschienen – wie wir heute wissen, einer der progressivsten Prosatexte jener Zeit. Das sah Korn anders. Alice Schmidt notiert in ihr Tagebuch, der Rezensent habe den Text «dumm, geil und provinziell» genannt. Korn bewertete die Erzählung als «zu zahm, alltäglich, unexistentiell». Das «Pathos» früherer Arbeiten Schmidts sei weg, geblieben sei «nur der Unflat».
In dem Moment, als die Schmidts diesen Rezensionsbeleg per Post erhalten, sitzen sie als schlesisches «Umsiedler»-Paar in dem Bauernkaff Kastel, hoch über der Saar, in einer fußkalten Bude. Sie leben von 100 Mark im Monat und ernähren sich aus den Care-Paketen von Schmidts Schwester Lucy Kiesler, die in den USA lebt. Schmidts haben kein Auto und kein Telefon, auch keine ordentliche Schreibmaschine – und Zeitung lesen sie schon gar nicht. Die beiden schwanken zwischen Optimismus und Verzweiflung. Und jedes Mal, wenn der Postbote kommt, hoffen sie auf Honorare, auf gute Nachrichten, auf neue Veröffentlichungsmöglichkeiten. Es ist der einzige Kontakt zur Welt.
Und nun also diese, von dem Darmstädter Schriftstellerkollegen Ernst Kreuder zur Kenntnis geschickte Pöbelei aus der FAZ. Schmidt gehe «böse in seine Stube und dort im Kalten brütend auf u. ab», notiert die Ehefrau. «Kommt dann: er will nie mehr was mit Literatur zu tun haben. Wos denn so was gäbe ein Beruf wo man das Beste leistet und dafür von Jedem Öffentlichen angehangen kriegt (Recht hat er!) In keinem Beruf wärs so! – Dann: soll alle seine geschriebenen Bücher wegnehmen, will nichts mehr davon sehen. (Tue es schweigend, damit er sie nicht zerreißt. Was wird er nun ausbrüten?)»
Das Selbstverständnis, als Schriftsteller nur «große» Prosa zu verfassen, gegenüber der das freie journalistische Schreiben, das das Ehepaar als eine Art Duo-Ich-AG in jener Zeit bereits zaghaft auszuprobieren beginnt, eine ausschließlich nichtswürdige «Brotarbeit» sei, ist nachhaltig erschüttert: «A. hat geschlafen. Beim Aufwachen: will keine guten Sachen mehr schreiben, ich soll jetzt auch Zeitungsversand machen, will noch ein paar Artikel schreiben und da wollen wir das versuchen. Wills auch mit kleinen Geschichten versuchen à la Kreuder.»
Was Alice Schmidt hier mit «Zeitungsversand» meint, das haben die Schmidts zu diesem Zeitpunkt gerade erst von Ernst Kreuder gelernt. Der im Literaturbetrieb erfahrenere Autor hatte dem Ehepaar eine Liste von Tageszeitungsredaktionen übergeben und ihnen eingeschärft, kurze literarische Handübungen in möglichst großer Quantität zu verschicken.
«7 %, sagt Kreuder», würden von den Blättern in der Regel gedruckt und honoriert. «Von 20 abgesandten würden demnach also bestenfalls 2 angenommen», folgert Alice Schmidt. «30 leidlich zahlende Adressen hat Kreuder gegeben. 30 wären also – ja auch nur 2–3. Hm. Na, mal anfangen!»
Was damit seinen Lauf nimmt, dürfte nicht nur die Germanistik faszinieren, die sich gerade für das Thema der Verknüpfung von Literatur und Ökonomie ganz neu zu interessieren beginnt. Auch die «digitale Boheme» mag aufhorchen angesichts eines solchen verblüffend nüchternen Fließbandsystems, wie es hier von den Schmidts aufgegriffen wird. Ohne dass es der Autor selbst bemerkt, beginnt es sein Schreiben zu durchdringen und produktiv zu verändern. Er erprobt plötzlich die kleine Form, schreibt Kurzgeschichten und versucht sogar, Funk-Essays über «vergessene Kollegen» zu verfassen. Besonders dieses dialogische Schreiben entpuppte sich später als Keimzelle jener mehrspaltigen Typoskriptform, die Schmidt in Zettels Traum (1970) entwickelte und die sein gesamtes Spätwerk prägen sollte.
Selbst finanziell funktioniert es gut. Immer mehr kleine Honorare, die sich in der Regel um die 30 Mark bewegen, bringt der Briefträger an, und Schmidts gewinnen an Zuversicht: «Haben wir 159 bisher den Monat eingenommen. Also ‹Soll› erfüllt», stellt die Gattin im Juni zufrieden fest. «A: Ist doch aber ein recht mühsames Brot, ein Leben
v. d. Hand in den Mund. I: man muss halt ab u. zu Rundfunk dazu machen.»
Gesagt, getan: Bald winken, durch den Redakteursposten des befreundeten Alfred Andersch beim Süddeutschen Rundfunk Stuttgart, sogar vergleichsweise astronomische Honorare. Bereits nach Darmstadt übergesiedelt, lässt das Ehepaar im Oktober 1955 wie schon so oft bereits am frühen Vormittag (8.45 Uhr) die Fünfe gerade sein: «Erklärung des Südd. Rundfunks über 450 DM sofort nach Unterschrift zahlbar für: Anachronismus als Vollendung, Sendung über Fouqué, im
4. Quartal 55 zu bringen! Wir sind fertig! A schreit: Schnaps her! I eile zur Schnapsflasche. Dies für Arno für michn Apricot. prächtig! schön warm und schwummrig. Das ist ne Freude!»
Insgesamt wurden für so eine Sendung damals etwa 900 Mark in zwei Raten gezahlt. Das war eine Summe, die man heute vor dem Hintergrund einordnen muss, dass die Schmidts auch in der konsumverlockenden «Metropole» Darmstadt immer noch mit 200 Mark im Monat auszukommen versuchten, inklusive einer vergleichsweise teuren Miete von 94 Mark. Aber noch etwas anderes frappiert aus heutiger Sicht, da die E-Mail-Kommunikation einen Versand, wie ihn Schmidts noch per Post zu organisieren gezwungen waren, unglaublich erleichtert hat: Es ist das erstaunliche Niveau der damaligen Lokalzeitungen. Hier verbarg sich für angehende Schriftsteller eine Chance, die es so schon lange nicht mehr gibt – und die auch durch noch so munteres Bloggen kaum wieder wettzumachen ist. In jeder zweiten Stadt mittlerer Größe, sei es im Raum Oberhessen oder in Fulda, an der Weser, in Erlangen, Darmstadt oder Hannover – überall gab es voneinander noch vollkommen unabhängige Zeitungen, die es nicht einmal störte, wenn der eingesandte Text schon einmal ein paar Dörfer weiter erschienen war.
Die zuständigen Redakteure antworteten meist sogar mit freundlichen Briefen und Verbesserungshinweisen auf Schmidts Einsendungen, wie man dem Tagebuch minutiös entnehmen kann. Bei aller Originalität waren das Texte, nach denen in den Feuilletonredaktionen des neuen Jahrtausends kein Hahn mehr krähen würde, selbst wenn sie Günter Grass einschickte. Wo man jetzt als freier Autor bestenfalls noch Gehör finden kann, wenn man auf aktuellste Bucherscheinungen schnell reagiert – da freuten sich zu Schmidts Zeiten sogar kleinere Blätter über vergleichsweise sperrige Artikelversuche, in denen sich Schmidt etwa ohne aktuellen Anlass mit Karl Philipp Moritz’ Figur Anton Reiser, dem Alltag der Weimarer Klassiker oder gar einer gewissen «langen Grete» beschäftigte, deren Idee der Autor kurzerhand aus Sir Walter Scotts Roman The Heart of Midlothian geklaut hatte.
Karl Korns Kritik deutet allerdings ein zeitbedingtes Problem an, das Schmidts Autorschaft ein jähes Ende bereiten, ja ihn sogar ins Gefängnis hätten bringen können: die katholische Prüderie der restaurativen Ära Adenauer. Rheinländische Buchhändler zeigten Schmidt und seinen Herausgeber Andersch wegen «Pornographie und Gotteslästerung» in Seelandschaft mit Pocahontas an. Als die Nachricht Anfang Juni bei Schmidts wie eine Bombe einschlägt, werden verzweifelte Fluchtpläne geschmiedet. Sollte man in die «Ostzone» auswandern? Oder doch besser in die Schweiz? Dazu entfährt es Schmidt: «Was soll ich denn in der Schweiz? Und die liefern mich dann doch aus. Andersch scheint dableiben zu wollen. Der war doch schon mal im KZ. Dem ist Gefängnis nichts weiter.»
Eine bezeichnende Entgleisung, die den Autor noch dazu in absurde Selbstvorwürfe stürzt, seine «große Schnauze» sei daran schuld, dass er fortan «gesiebte Luft» atmen müsse. Am Ende will er dann aber nicht einmal mit dem Ehepaar Michels in den Urlaub nach Jugoslawien fahren, weil er jetzt doch auf den Gerichtstermin warten müsse. Das ist alles sehr widersprüchlich, vor allem aber deutsch und autoritätshörig. Wer an dieser Charaktereigenschaft Schmidts noch irgendwelche Zweifel hegte – mit dieser Edition werden sie endgültig beseitigt.
Die Schmidts hatten aber auch hier Glück im Unglück: Dass sie auf Vermittlung Kreuders und des Malers Eberhard Schlotter aus Kastel ins liberalere Darmstadt übersiedeln konnten, führte mit dazu, dass das Verfahren später eingestellt wurde. Doch das ist dann schon eine andere Geschichte. Alice Schmidts Tagebuch wurde nur noch bis zum 3. Juli 1956 geführt, schreibt die Herausgeberin Susanne Fischer im Nachwort. Die offizielle Einstellung des Verfahrens wurde Schmidt am 26. Juli 1956 gemeldet – und damit war auch das bereits Literaturgeschichte.
Von Jan Süselbeck
Alice Schmidt: Tagebuch aus dem Jahr 1955. Herausgegeben von Susanne Fischer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
Der Text ist entnommen aus: http://www.taz.de