Wissenschaft und Technik
Eine Depression kann jederzeit jeden treffen
Manchmal taucht eine Depression buchstäblich aus dem Nichts auf: Es beginnt mit Schlafstörungen, hinzu kommen Gefühle des Versagens, nicht erklärbare Ängste und Antriebslosigkeit. Mit herbstlicher Melancholie hat das nichts zu tun. Das Erbgut und Lebenskrisen spielen die größte Rolle.
Eine Depression kann jeden treffen. Manchmal kommt sie wie aus dem Nichts, manchmal gibt es traumatische Ereignisse im Leben eines Menschen, die sie zum Vorschein treten lassen.
Oft suchen die Erkrankten nach Gründen, warum ausgerechnet sie betroffen sind. Kann die globale Finanzkrise, die Bedrohung des Arbeitsplatzes oder der Verlust von Ersparnissen der Grund für die Krankheit sein? Oder nur der Auslöser, während die Ursache woanders liegt? Dann wäre die Depression möglicherweise in einer anderen Lebensphase ausgebrochen.
Erklärungen für das seelische Tief gibt es noch immer nicht allzu viele – jeder legt sich seine eigene zurecht. Aber es gibt Möglichkeiten, das Seelenleiden ebenso wirksam zu behandeln wie andere Krankheiten auch. Dies wollen die Mediziner klarmachen, die zum fünften Mal den «Europäischen Depressionstag» ausgerufen haben.
In den Industriestaaten gehören Depressionen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen zu den häufigsten Krankheiten. Schätzungsweise vier Millionen Deutsche leiden unter Depressionen, doch nur jeder Zehnte wird richtig behandelt. «Bei der Hälfte der Betroffenen bleibt die Krankheit unerkannt», sagte Professor Detlef E. Dietrich von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) bei der Auftaktveranstaltung zum Europäischen Depressionstag in Berlin. «Und nur jeder fünfte, der zum Arzt geht, wird adäquat behandelt.»
Dabei stehen heute rund 30 hoch wirksame Antidepressiva zur Behandlung zur Verfügung, begleitet von zahlreichen psychotherapeutischen Möglichkeiten oder biologischen Therapien wie Licht- oder Ergotherapie. Für die Ärzte in den Depressionsnetzwerken, die sich zum Europäischen Depressionstag in 13 Ländern zusammengeschlossen haben, steht es deshalb im Vordergrund, die Versorgung Depressiver deutlich zu verbessern.
Doch sowohl gegen das seelische Leiden als auch dessen Behandlungsmöglichkeiten gibt es gesellschaftlich noch immer viele Vorbehalte. Zum einen ist die Depression ihr Image als Kellerkind der Volkskrankheiten noch nicht los. Depression ist trotz jahrelanger Aufklärung ein Tabuthema geblieben.
Oft scheuen sich Patienten, die Krankheit zu offenbaren, weil sie eine Stigmatisierung fürchten. Mit psychischen Leiden halten sie hinter dem Berg, zumal sie sich häufig als Schwächling und schuldig an ihrer Krankheit fühlen. «Aber Geheimhaltung gelingt nie», stellt Psychiater Michael Freudenberg fest, der als Betroffener auf dem Podium vom Verlauf der Krankheit erzählte. «Vermeidung führt zu Gerüchten – und die sind nie positiv.»
Zum anderen stünden die verfügbaren Antidepressiva immer wieder in der Kritik, sagt Hinderk Emrich, emeritierter Professor für Psychiatrie und Psychotherapie der MHH. «Dabei gibt es eine enorme Pluralität an Medikamenten und Therapieformen, die nur sinnvoll eingesetzt werden müssen.»
Meist kündigt sich eine Depression langsam an. Sie beginnt mit Schlafstörungen, frühem Erwachen, nächtlichem Grübeln. Hinzu kommen Gefühle des Versagens, nicht erklärbare Ängste und Antriebslosigkeit. «Mit herbstlicher Melancholie hat das nichts zu tun», sagt Professor Ulrich Hegerl, Chef der Klinik für Psychiatrie der Universität Leipzig. «Es ist ein innerlich kalter, toter Zustand.»
Wer länger als zwei Wochen unter den Frühsymptomen einer Depression leidet, sollte zum Arzt gehen, rät der Psychiater. Betroffen sind nach den Erfahrungen Hegerls oft Menschen, die besonders verantwortungsbewusst, leistungsbereit und streng mit sich selbst seien. Es ist eine tiefe Freud- und Gefühllosigkeit, die depressive Menschen schwer belastet. «Keine Krankheit führt so häufig zum Suizid wie Depressionen», stellt Hegerl fest.
Seiner Einschätzung nach erfolgt ein Großteil der jährlich etwa 10 000 Selbsttötungen und rund 150 000 Suizidversuche in Deutschland vor dem Hintergrund nicht optimal behandelter depressiver Erkrankungen. «Würde die Krankheit rechtzeitig erkannt und behandelt, könnten viele Suizide verhindert werden», ist sich der Vorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe sicher.
Wann eine Depression eintritt, ist nicht vorhersehbar
Viele Betroffene haben eine genetische Disposition, bei anderen spielt die psychosoziale Seite, beispielsweise traumatische Ereignisse oder große Belastungen, eine Rolle. Dass die derzeitige Finanzkrise oder auch der Verlust von Geld durch die Bankencrashs zu einer Zunahme depressiv Kranker führt, erscheint Hegerl nicht sicher. «Wer krank wird, sucht immer nach den Ursachen, und die schlechte finanzielle Situation ist eine willkommene Erklärung.»
Auch wenn es nun Meldungen gebe, dass vermehrt Banker und Betroffene der Finanzkrise den Weg in die Psychiaterpraxen suchten, bezweifelt der Mediziner, dass es sich dabei um wirklich depressiv Kranke handelt. «Depressionen brauchen nicht immer einen äußeren Auslöser», sagt er. Doch durch die dunkle Brille der Krankheit erscheinen Probleme unüberwindlich, die ohne sie schlicht als Problem und Teil eines schwierigen Lebens wahrgenommen würden. «Je mehr depressiv Kranke man gesehen hat, umso vorsichtiger wird man mit nahe liegenden Erklärungen», sagt der Mediziner. «Der Drang, eine äußere Ursache zu finden, kann sehr in die Irre führen.»
In die Irre führen nach Ansicht der Mediziner auch sogenannte Meta-Analysen, die die Wirksamkeit antidepressiver Medikamente in Zweifel ziehen. «Ein frühzeitiger Einsatz von Medikamenten hilft, spätere Rückfälle in schwere Depressionen zu vermeiden», sagt Professor Jürgen Fritze, gesundheitspolitischer Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. Die Schlagzeilen, die solche Studien immer wieder produzierten, seien nicht hilfreich. «Denn den Patienten interessiert es eigentlich nur, welche Chancen er hat, wieder gesund zu werden.»
Und die stehen bei der richtigen Behandlung nicht schlecht. Bei stationär behandelten Patienten beispielsweise liege die Besserungsrate bei etwa 80 Prozent, berichtet Professor Manfred Wolfersdorf von der Psychiatrischen Klinik des Bezirkskrankenhauses Bayreuth. Dabei seien die besten Ergebnisse durch eine Kombination von medikamentöser und psychotherapeutischer Behandlung erzielt worden. Daneben gibt es ein ganzes Paket unterstützender Möglichkeiten: Bewegung, Licht oder auch Massagen helfen vielen depressiven Menschen aus dem Tief.
Der Einfluss nichtmedikamentöser Therapien ist bei der Behandlung nicht zu vernachlässigen, denn nach Einschätzung der Mediziner hat Depression auch immer mit der Vergangenheit des Erkrankten zu tun. Bei Menschen mit einem besonders schweren Schicksal kann auch ein modernes Medikament die Depression nicht einfach auflösen. «Wir dürfen da nicht eindimensional schauen», sagt Professor Emrich. «Wir sind die Historiker unserer Patienten.»
Dabei geht es nicht nur um Aufarbeitung, sondern auch um einen Blick in die Zukunft. Es ist entscheidend, krank machende Verhaltensmuster zu erkennen und zu verändern. Nur so könne man dauerhaft der Depression entkommen.
Von Sabine Schmitt
Der Text ist entnommen aus: http://www.welt.de