Das liest man in Deutschland
Patriarch einer Patchworkfamilie
Günter Grass’ Erinnerungsbuch «Die Box»
Wie Günter Grass’ Erinnerungsbuch Beim Häuten der Zwiebel trotz aller Eigenwilligkeit der Gattung «Autobiografie» zugerechnet werden kann, so hat auch sein neues Buch Die Box autobiografischen Charakter und ist eine Art Fortsetzung. Es beginnt etwa im Jahr 1960, schließt also an den Lebensabschnitt an, mit dem Beim Häuten der Zwiebel endet, und führt bis zum Ende des Jahrhunderts. Auch Die Box präsentiert den Stoff, ohne auf faktische Zuverlässigkeit Wert zu legen. Vielmehr wird auf die Fiktionalität des Erzählten deutlich, ja überdeutlich hingewiesen. Was aber nichts daran ändert, dass Grass von sich selbst spricht und von seiner Familie. Deren Einbeziehung ist der Versuch, auf die eigene Person aus der Perspektive anderer zu blicken.
Grass ist Patriarch einer Patchworkfamilie: drei Söhne und eine Tochter aus erster Ehe, zwei Töchter aus zwei außerehelichen Beziehungen, zwei von der zweiten Frau mit in die Ehe gebrachte nicht leibliche Söhne. Die acht Kinder, die offenbar gut miteinander auskommen, fungieren als Erzähler. Auf Wunsch des Vaters treffen sie sich reihum in den jeweiligen Wohnungen, essen einfach und trinken bescheiden, wobei sie «erinnerungsmäßig alle drauflos quasseln, freiweg, ohne große Rücksicht zu nehmen». Die Quasselei wird von einem Tonband aufgezeichnet, und, sieht man von einleitenden und abschließenden Passagen ab, so präsentiert sich Die Box als Druckfassung dieses Tonbandprotokolls. Doch damit kein naiver Irrtum aufkommt, heißt es: «Womöglich sind auch wir, wie wir hier sitzen und reden, bloß ausgedacht? oder was?»
Die Erinnerungen gelten den Erlebnissen der Kindheit. Psychologisch wichtiger jedoch als das tatsächlich Erlebte sind die Kindheitsträume, ins Bild gesetzt durch Schnappschüsse, die eine eng mit der Familie befreundete Fotografin namens Marie macht. Für sie stand die Fotografin Maria Rama Modell, was schon aus der Widmung des Buchs hervorgeht: «In Erinnerung an Maria Rama.» «Knipsmalmariechen» besitzt eine Agfa-Box, einen Fotoapparat mit märchenhaften Eigenschaften: Er fotografiert nicht nur Gegenstände und Situationen, sondern macht die damit verbundenen Emotionen sichtbar, meistens Wünsche. So erzählt eine der Töchter, wie sie Maria und zwei Freundinnen auf dem Kudamm aufgenommen habe: «Und einmal, als sie uns knipste, und zwar ganz normal in Jeans und unseren Schlabberpullis, kam aus der Dunkelkammer was raus, was wir uns heimlich auch noch gewünscht hatten: nämlich echt nackt, aber in Stöckelschuhen liefen wir auf dem Kudamm zwischen all den Leuten rum, die nur geglotzt haben.» Aber die Agfa-Box kann noch mehr als nur die exhibitionistischen Fantasien einer Vierzehnjährigen illustrieren; sie ermöglicht Blicke in Vergangenheit und Zukunft. Werden zum Beispiel Räume fotografiert, dann erfährt man etwas über ihr einstiges Aussehen und ihre Geschichte. So zeigt eine Aufnahme von Grass’ Atelier in seinem Berliner Haus den Marinemaler Bohrdt vor der Staffelei, daneben dessen Mäzen, den letzten deutschen Kaiser. «Oben bei mir unterm Dach hat Wilhelm Zwo den Marinemaler Hans Bohrdt besucht.» Eine hübsche Pointe. Doch alle Fotos, die eine Art von virtueller Welt vor Augen bringen, werden nicht aufbewahrt. Als «Wunder» bleiben sie außerhalb der Realität.
Die Fotografin versorgt Grass auch mit Material für sein künstlerisches und schriftstellerisches Œuvre. Sie knipst für ihn «besondere Sachen und gefundenes Zeug»: «Muscheln, die er von Reisen mitbrachte, kaputte Puppen, krumme Nägel, ne unverputzte Mauer, Schneckenhäuser, Spinnen im Netz, plattgefahrene Frösche, sogar tote Tauben», später Fische und halbe Kohlköpfe; also Gegenstände, die weite Teile von Grass’ grafischem Werk charakterisieren. Dem Erzähler verhilft die Agfa-Box durch ihre Fähigkeit, Vergangenes zu evozieren, zur konkreten Anschauung historischer Details. Durch Fotografieren eines heute betonierten Parkplatzes in Telgte kann er sich zurückversetzen in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, weil an der Stelle des Parkplatzes der Brückenhof stand, der Ort des Geschehens vom Treffen in Telgte. Kurz: die Box wird zum Symbol künstlerischer und literarischer Imaginationskraft, die den alltäglichen Dingen die Banalität nimmt und ihnen durch magische Verwandlung zu überraschender Wirkung verhilft. Leider gewöhnt sich der Leser an die Kamera und ihre Wunder. Von dem reizvollen Einfall wird so oft und so voraussehbar Gebrauch gemacht, dass er im Laufe der Lektüre an Faszinationskraft verliert und schließlich nahe daran ist zu langweilen.
Zur Eintönigkeit des Erinnerungsbuchs trägt bei, dass der Erzähler zwischen den acht Kindern nicht genug differenziert. Zwar erfahren wir Geschlecht, Alter und Beruf der Sprechenden, aber alles in allem ist die Individualisierung dürftig, und erst recht lassen sich keine ausgeprägten Charaktere ausmachen. Die Kinder bleiben ein Chor, geleitet von dem Vater-Dirigenten, dessentwegen sie ihr Lied anstimmen. Einmal fordert eine Nebenperson sie auf: «Haltet nicht Gericht über euren Vater. Seid froh, daß es ihn noch gibt.» Erst diese Aufforderung bringt einen auf den Gedanken, dass hier überhaupt Gericht gehalten werden könnte. Gewiss, manches, was erinnert wird, zum Beispiel das lange Verschweigen der zweiten außerehelichen Tochter, die anscheinend unter der weitgehenden Abwesenheit des Vaters gelitten hat, wirft ein unvorteilhaftes Licht auf ihn. Doch ein Vater, dessen Nähe gewünscht wird, erweist sich allein dadurch als geliebter Vater und als das Gegenteil eines herzlosen Monstrums. Das Gericht, letztlich ein Selbstgericht, ist nicht frei von Koketterie.
Liest man zwischen den Zeilen, kann man vielleicht hin und wieder Schuldgefühle gegenüber den Ehefrauen und den Geliebten vermuten. Doch wenn es Gewissensbisse gegeben haben sollte, geht Grass mit ihnen glimpflich um. Harmoniebedürftig, wie er ist, sähe er sich mit seinen vier Frauen gern auf einem «Paschabild» – eine Potenzierung des Grafen von Gleichen.
Die vier Mütter der Kinder treten zwar nicht unmittelbar in Erscheinung, sind jedoch mittelbar sehr präsent. Sie geben Aufschluss über Grass’ Frauenwunschbild. Er will starke Frauen, «jede anders und stark». Die Fotografin Marie, selbst eine starke Frau, kommt mit ihrer Box dem Wunsch nach: Die erste Frau tanzt mit ihm über Wolken, die zweite beschützt den schwer verwundeten Grass in wildwestlicher Prärie bei einem Indianerüberfall, die dritte kämpft neben ihm und roter Fahne auf einer Barrikade, die vierte steht, «nen halben Kopf größer», vor einem Zeppelin, dessen Kapitän sie ist. Zu den amüsanten Stellen gehört die Begegnung zwischen Grass’ erster Frau und einer Geliebten. Er kocht für die beiden ein Fischgericht und hört dem Gespräch, das sich natürlich um ihn dreht, anfangs ruhig zu, dann aber wird er heftig: «Mich kriegt ihr nicht auf die Couch!» und «An meinem Mutterkomplex verdiene nur ich!»
Die Erinnerungen bieten manche Hinweise auf die autobiografischen Implikationen im Grass’schen Werk. Schon deshalb lohnt die Lektüre. Trotzdem ist offenkundig, dass Die Box nicht die Aufmerksamkeit verdient, die Beim Häuten der Zwiebel gefunden hat. Das liegt nicht am Ausbleiben «sensationeller» Mitteilungen, sondern daran, dass der Stoff zum einen die private Sphäre selten verlässt und zum anderen trotz aufwändig markierter narrativer Konstruktion, die Selbstzweck zu werden droht, zu gleichförmig präsentiert wird. Zu früh erlahmt das Interesse.
Es ist zu wünschen, dass Grass sein literarisches Lebenswerk mit einem Text abschließt, der mehr imponiert. Dass er weiterschreiben will, erfahren wir am Schluss. Nachdem Marie gestorben oder, der fantastischen Version zufolge, zum Himmel aufgefahren ist, lautet der letzte Satz: «Schon regt sich flüsternd Verdacht, er, nur er habe Mariechen beerbt und die Box – wie anderes auch – bei sich versteckt: für später, weil immer noch was in ihm tickt, das abgearbeitet werden muß, solang er noch da ist...».
Von Alexandra Pontzen
Günter Grass: Die Box. Dunkelkammergeschichten. Steidl Verlag, Göttingen 2008.
Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de