Wissenschaft und Technik
Die gerechten Rüpel
Seeräuber machen wieder die Meere unsicher. Zwei Forscher zeigen, wie Menschen einst mit den Gesetzlosen umgingen, und sind sicher, dass Piraten wahre Freunde der Demokratie waren.
Die Branche boomt; vor allem am Horn von Afrika erlebt das vermeintlich längst ausgestorbene Handwerk der Piraterie eine neue Blütezeit. Allein im Jahr 2008 verzeichnete die Internationale Seefahrtsbehörde an die 60 Piratenangriffe im Golf von Aden und im Indischen Ozean östlich des somalischen Festlands. Halbherzig und bislang vergeblich versuchen die multinationalen Seestreitkräfte vor Ort, der Plage Herr zu werden. Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie man es anfangen müsste. Vor rund 300 Jahren war es den Seefahrernationen einst gelungen, dem damaligen Seeräuber-Unwesen ein Ende zu machen – durch Beharrlichkeit und Gewalt.
«Oh! Dieser Wahnsinn. Oh! Diese Tollheit boshafter Männer!» Diese Worte des Priesters waren die letzten, die der Piratenkapitän William Fly am 12. Juli 1726 zu hören bekam. Kurz danach baumelte sein Körper leblos am Galgen. Mit ihm endete die sogenannte goldene Periode der Seeräuber, die etwa vier Jahrzehnte gedauert hatte. Die Zunft der Korsaren war wohl nie so erfolgreich und gefürchtet wie gegen Ende des 17. – Anfang des 18. Jahrhunderts.
Auf den Piratenschiffen herrschten Demokratie und eine Verfassung
Die europäischen Seemächte England, Frankreich und Spanien hatten eine lange Konfliktperiode hinter sich, in der auch Piraten «Dienst taten»: Mit dem Segen ihres jeweiligen Königs plünderten sie die Schiffe feindlicher Nationen. Jetzt jedoch waren die ehemaligen «Staatspiraten» den Herrschenden nicht mehr genehm. Sie verlegten sich daher auf illegale Beutezüge. Ihre Mannschaften rekrutierten die Freibeuterkapitäne aus dem Heer der Seeleute, die nach Ende der Seekriege aus dem Marinedienst entlassen worden waren. Beute gab es reichlich: die Schiffe, auf denen die Schätze der Kolonialmächte aus deren Besitzungen in Übersee nach Hause geschippert wurden.
Die Mächtigen antworteten mit der Marine und Massenexekutionen. Sie brandmarkten die Piraten als «Feinde der Menschheit» und stellten sie als verrückte Banditen dar, wie es auch der Pfarrer bei William Flys Hinrichtung in Boston tat. Dessen Figur prägt bis heute das Bild von den Seeräubern: ehr- und rechtlose wilde Gesellen ohne Skrupel. Doch diese Vorstellung ist falsch. Vor allem zwei US-Wissenschaftler haben sie gründlich revidiert: der Historiker Marcus Rediker und der Ökonom Peter Leeson, der die Piratengesellschaften in einer Serie von neuen Veröffentlichungen mit wirtschaftswissenschaftlichen Prinzipien erklärt. Rediker und Leeson haben gezeigt, dass die Mannschaft auf einem Piratenschiff des goldenen Zeitalters nach strengen Regeln lebte, die stark an eine Demokratie erinnern – und das zu einer Zeit, als auf dem europäischen Festland der Absolutismus seine Blüte erlebte. Während das Gros der Menschheit unter der Fuchtel von Kaisern, Königen oder anderen Potentaten litt, segelte man unter dem schwarzen Banner mit einer Verfassung und einer gewählten Führung.
Das könnte längst bekannt sein, denn die Kunde von der erstaunlichen Organisation der Seeräuber um 1720 ist schon in zeitgenössischen Berichten versteckt. So schreibt der Kapitän Charles Johnson 1728 in seiner Allgemeinen Geschichte der Piraten: «Diese Männer, die wir nicht ohne Grund einen Skandal der Natur nennen, die nur dem Laster frönten und vom Raub lebten, sie waren unter sich äußerst gerecht.»
Johnson berichtet, dass die Piraten ihren Kapitän demokratisch wählten und jederzeit absetzen konnten, wenn er sich als autokratisch erwies oder als feige im Gefecht. Absolute Befehlsgewalt hatte der Chef nur, wenn es auf militärische Disziplin ankam: beim Angriff auf ein Beuteschiff. In der übrigen Zeit führte der ebenfalls demokratisch gewählte Quartiermeister das Schiff. Er wachte darüber, dass kein Kapitän ungebührliche Machtgelüste entwickelte, schon weil er selbst auf diese Position hoffte. «Diese Organisation erzeugte einen Wettbewerb, der Machtmissbrauch einschränkte», sagt der Piratenforscher Leeson von der George-Mason-Universität in Fairfax. Meist habe das auch gut funktioniert.
Festgeschrieben waren diese Regeln in einer Art Verfassung, auf die sich die Besatzung des Schiffes geeinigt hatte und die auch die Aufteilung der Beute regelte. Dabei ging es ebenfalls ziemlich egalitär zu. Der Kapitän erhielt nur das Doppelte eines gewöhnlichen Besatzungsmitglieds, der Quartiermeister das Eineinhalbfache. Oftmals wurde das Beutegut offen aufbewahrt, damit der Quartiermeister, der es verwaltete, nichts abzweigen konnte. Als sich einmal ein Piratenkapitän feine Gewänder aus dem noch nicht verteilten Beuteschatz auslieh, um damit an Land Eindruck zu schinden, reagierte seine Crew mit Empörung.
Diese demokratische Organisation ist umso erstaunlicher, als damals auf den Meeren ganz andere Gesetze galten. Auf den Handelsschiffen herrschte eiserne Disziplin, die der Kapitän mit der Peitsche, der neunschwänzigen Katze, durchsetzte. «Auf einem Schiff gibt es keine Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, nur Pflicht oder Meuterei», erklärte ein Seemann im 18. Jahrhundert einem Grünschnabel. «Alles, was dir befohlen wird, ist Pflicht; alles, was du verweigerst, ist Meuterei.» Manche Kapitäne prellten ihre Untergebenen gar um ihre magere Essensration. Und die schlecht bezahlte Schufterei an Bord war sehr gefährlich; viele Matrosen erlitten schwere Verletzungen. Doch anders als bei der christlichen Seefahrt blieben die Opfer bei den Piraten nicht sich selbst überlassen; die Verfassungen legten Entschädigungen fest für Verletzungen und Verstümmelungen.
Kein Wunder, dass so mancher mit fliegenden Fahnen zu den Freibeutern überlief und das als Akt der Befreiung empfand. Fortan aßen und tranken die ehemaligen Hungerleider «auf übermütige und zügellose Weise», vermerkt der Chronist Charles Johnson. Ein Handelskapitän, der längere Zeit als Gefangener unter Piraten lebte, berichtete davon, wie die Seeräuber sich nach einem Beutezug sogleich auf die Fässer voller Brandy und Wein stürzten. Ein Pirat, der zu häufig nüchtern war, geriet in den Verdacht, einen Umsturz zu planen. Hier trifft das Klischee von zügellosen Saufgelagen auf See tatsächlich zu. «Das Leben auf dem Schiff geriet manchmal außer Kontrolle. Aber genau darum ging es auch, denn die Piraten waren unter der Kontrolle von niemandem – außer unter ihrer eigenen», schreibt der Historiker Rediker in seinem Buch Bösewichte aller Nationen.
Die Piraten bildeten also ein rüpelhaftes, demokratisches Gegenmodell zu den autokratischen Handelsmarinen. Bei der Frage, wie es dazu kam, sind sich die Wissenschaftler allerdings nicht einig. Historiker Rediker von der Universität Pittsburgh sieht in den Seeräubern frühe Sozialrevolutionäre, die sich gegen die Ausbeutung der Seeleute auflehnten. Der Wirtschaftswissenschaftler Leeson dagegen hält in seiner Analyse, die im Journal of Political Economy erschienen ist, die Piraten für Kriminelle, die allein aus ökonomischen Gründen ihre visionären demokratischen Strukturen entwickelten.
Seine Erklärung lautet: Die Handelsschiffe waren autoritär organisiert, weil ihre Besitzer weit entfernt auf dem Land residierten und keinerlei Einfluss auf das Geschehen an Bord hatten. Die Kapitäne fungierten als allmächtige Statthalter, ausgestattet mit allen Mitteln, um die Crew davon abzuhalten, mit der Fracht durchzubrennen. Der Staat unterstützte dies, indem er Seeleute selbst für kleine Vergehen drakonisch bestrafte. Die Piraten hingegen konnten sich nicht auf den Staat verlassen, um die auf Schiffen unabdingbare Ordnung durchzusetzen. Unter diesen Umständen war – so Leeson – Demokratie die beste Organisationsform, weil sie das einzelne Crewmitglied am effektivsten dazu brachte, mitzukämpfen.
Der Wissenschaftler findet mit seinem ökonomischen Ansatz für viele Details des Piratenlebens einleuchtende Erklärungen. So erklärt er die flache Lohnskala damit, dass die cleveren Seeräuber erkannten, wie sich damit verhängnisvolle Konflikte an Bord vermeiden ließen. «Auch ein traditionelles Motiv, wie die Maximierung des Profits eines ist, kann unter besonderen Umständen zu außergewöhnlichem Verhalten führen», sagt Leeson, «genau so war es bei den Piraten.»
Rediker dagegen wertet in seinem Werk die freiheitliche Ordnung an Bord als Antwort auf die autoritären Strukturen auf den Handelsschiffen und in den europäischen Gesellschaften insgesamt. Mutige Anklagen gegen die ungerechten Zustände selbst in Sichtweite des Galgens – wie jene von William Fly – machen diese Deutung plausibel. Genauso wie der Brauch der Piraten, auf einem gekaperten Schiff eine Art Tribunal abzuhalten: Wenn die Besatzung des Schiffes ihren Kapitän als gerecht einstufte, dann kam er mit dem Leben davon. Andernfalls starb er oft einen grausamen Tod. Die Piraten misshandelten und töteten auch Besatzungen, die sich ihnen widersetzt hatten.
Solche Gewaltexzesse entsprangen keineswegs roher Grausamkeit, sondern beruhten auf einem Kalkül. Die Brutalität sollte künftige Opfer zur kampflosen Aufgabe bewegen. Für den schrecklichen Ruf der Freibeuter sorgten die Zeitungen, die schon damals gerne boulevardesk in grausigen Details schwelgten. Die Totenkopfflagge tat ein Übriges: Wurde sie vor dem jeweiligen Gefecht gehisst, ergaben sich die Beuteschiffe meist ohne Gegenwehr.
Die modernen Piraten sind nur Teilzeitganoven
Die berüchtigte Flagge habe aber nicht nur der Abschreckung gedient, sagt Rediker. Neben Totenkopf und Knochen habe sie oft eine Sanduhr gezeigt – ein Symbol für die Vergänglichkeit, die der Feinde, aber auch die der Piraten selbst. Die Seeräuber hätten sich stets durch einen doppelbödigen Galgenhumor ausgezeichnet. Als der Freibeuter Philip Lyne 1721 auf einem englischen Schiff Dokumente der Admiralität fand, wischten er und seine Crew sich damit den Hintern ab.
Viele Gemeinsamkeiten mit den modernen Freibeutern sieht der Piratenforscher Peter Leeson allerdings nicht. Die alten Piraten lebten als Minigesellschaft für längere Zeit auf dem Schiff zusammen und waren auf Gedeih und Verderb voneinander abhängig. Darum brauchten sie Strukturen und Regeln, um sich auf diesen langen Beutezügen zu organisieren. Ihre modernen Spießgesellen dagegen lebten meist an Land und unternähmen nur kurze Raubzüge mit dem Schnellboot, sagt Leeson. Oft hätten die Seeräuber sogar andere Jobs an Land. Diese Gelegenheitspiraten brauchten darum keine komplexen Regeln zum Zusammenleben wie ihre Vorgänger vor 300 Jahren.
Ob deren Gemeinschaft nun ein sozialrevolutionäres oder ein ökonomisches Experiment war – um 1726 ging es zu Ende. Etwa 2500 Seeräuber hatten in den vier Jahrzehnten zuvor den Handel Europas erheblich beeinträchtigt. Zeitweise ließen ihre Aktivitäten den Sklavenhandel von Westafrika nach Amerika um die Hälfte einbrechen. Jetzt antworteten die europäischen Staaten. 1722 brachte die englische Flotte die beiden Schiffe des berühmten Freibeuters Bartholomew Roberts vor Westafrika auf. Über 250 Piraten wurden gefangen genommen. 40 wurden in einem Schauprozess zur Sklaverei, 52 weitere zum Tod verurteilt und hingerichtet. Ihre mit Ketten gefesselten Leichen hängte man an den Einfahrten von sechs afrikanischen Häfen auf.
Die unbarmherzige Offensive gegen die Freibeuter verfehlte nicht ihre abschreckende Wirkung. William Fly war einer der letzten Piraten, die am Galgen starben.
Von Thomas Häusler
Der Text ist entnommen aus: http://www.zeit.de