Wissenschaft und Technik
Im Schatten Galileis
Vor 400 Jahren richtete Galilei das erste Teleskop zum Himmel. Heute jagen Astronomen mit Riesenspähern im All und auf entlegenen Bergen nach Exoplaneten und fernen Galaxien. Das «Jahr der Astronomie 2009» erinnert an die revolutionären Entdeckungen der Himmelsforscher.
Es ist der 26. Juli 1609. Ein langes Rohr ist auf den Nachthimmel gerichtet. Hastig malt eine Hand einen Kreis und in ihn eine gebogene Linie – malt das noch nie Gesehene, das ein Auge durch das Rohr zum allerersten Mal erblickt hat. Die gebogene Linie ist der «lunar terminator», die Grenzlinie zwischen dem beleuchteten und dem dunklen Teil des Mondes.
Das Auge gehört nicht Galileo Galilei, der gemeinhin als Urvater der modernen Astronomie gilt. Es ist Thomas Harriot, britischer Philosoph und Mathematiker, der als erster Mensch Details der Mondoberfläche erblickt – Monate vor Galileis bahnbrechenden Himmelsbeobachtungen.
Dieser ersten, noch recht groben Skizze, folgen weitere, immer bessere Karten: Harriot sieht und zeichnet die Mondmeere, das Mare Crisium, das Mare Tranquillitatis und das Mare Fecunditatis. Auf zwei Karten aus dem Jahr 1613 zeichnet Harriot sogar Mondkrater, die er in ihrer relativen Position zueinander exakt festhält. Eine beachtliche Leistung, denn die frühen Teleskope besaßen nur ein sehr enges Sichtfeld. Harriot konnte immer nur einen kleinen Ausschnitt des Mondes auf einmal sehen. Dennoch werden seine Karten für Jahrzehnte unübertroffen bleiben.
Harriot lebte unter der Patronage Henry Percys, des 9. Earls von Northumberland, im britischen Sion House bei Isleworth. Er konnte sich das teure Wunderinstrument leisten, das nur ein Jahr zuvor in Holland erfunden worden war. Galileo Galilei hingegen, der vom italienischen Padua aus den Nachthimmel erforscht, war zu arm, um sich ein eigenes Teleskop leisten zu können. Das wissenschaftliche Allround-Genie baut es einfach nach. Die ersten astronomischen Erfolge lassen nicht lange auf sich warten: Galilei entdeckt die vier größten Monde des Jupiter, erkennt den Aufbau der Milchstraße aus einzelnen Sternen, und auch er studiert die Oberfläche des Mondes. Astronomen feiern Galilei als ihren Helden. Die moderne Astronomie, so die gängige Meinung, begann vor 400 Jahren. In Padua.
Nun, anlässlich dieses Jubiläums und des ausgerufenen Internationalen Jahres der Astronomie, kommt aus Großbritannien eine Offensive, die historischen Verdienste ins rechte Verhältnis zu rücken. Für Allan Chapman, Historiker von der University of Oxford, begann die neue Ära ein paar Monate vor Galilei und in Großbritannien. «Die Zeichnungen Thomas Harriots markieren den Beginn der modernen Astronomie», meint Chapman. «Thomas Harriot ist ein unbesungener Held der Wissenschaft.»
Wohl auch nicht ganz ohne eigenes Verschulden: Harriot veröffentlichte im Gegensatz zu Galilei seine Mondzeichnungen nie. Wahrscheinlich weil er es nicht nötig hatte, spekuliert Chapman. Er war ein wohlhabender Mann, erhielt ein großzügiges Jahreseinkommen und lebte auf dem Anwesen des Earls.
Dennoch sollte seiner Leistung nun Anerkennung gezollt werden, meint auch Andy Fabian, Präsident der Royal Astronomical Society. «Die Welt soll im Internationalen Jahr der Astronomie Galileo feiern – aber Harriot sollte nicht vergessen werden.»
Der Text ist entnommen aus: http://www.spiegel.de