Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №7/2009

Sonderthema

Bettine von Arnim: «Ich selber zu bleiben, das sei meines Lebens Gewinn!»

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Bettine von Arnim mit dem Entwurf ihres Goethedenkmals, Radierung im Kupferstichkabinett Dresden

Bettine von Arnim, «die jüngste und am wenigsten angenehme Enkelin der Frau von La Roche. Sie wurde stets als ein grillenhaftes, unbehandelbares Geschöpf angesehen. Ich erinnere mich, dass sie auf Apfelbäumen herumkletterte und eine gewaltige Schwätzerin war.» So beschrieb 1801 der Engländer Henry Crabb Robinson die 16-jährige Bettine.
Bettine war das 13. Kind des aus dem italienischen Tremezzo nach Frankfurt eingewanderten Großhandelskaufmanns Peter Anton Brentano, der übrigens einmal einen allzu stürmischen Verehrer seiner jungen Frau Maximiliane, namens Johann Wolfgang von Goethe, aus dem Hause geworfen hatte. Maximiliane starb, als ihre Tochter Bettine acht Jahre alt war. Bald darauf verfügte der Vater, dass sie und drei ihrer Schwestern in das Erziehungsinstitut des
St. Ursula-Ordens in Fritzlar bei Kassel übersiedelten, wo sie vier Jahre bis zum Einmarsch der Franzosen 1797 blieben. Danach kommt Bettine, da auch der Vater zwischenzeitlich verstorben ist, in das Haus ihrer Großmutter Sophie von La Roche, der Frau, die als erste deutsche Schriftstellerin einen Briefroman veröffentlichte: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, einer bekannten Herausgeberin einer Zeitschrift und anderer Schriften.
Drei junge Mädchen, umarmt von ihrer Großmutter, stehen vor einem Spiegel. «Ich erkannte alle, aber die eine nicht, mit feurigen Augen, glühenden Wangen, mit schwarzem, fein gekräuseltem Haar; ich kenne sie nicht, aber mein Herz schlägt ihr entgegen, ein solches Gesicht habe ich schon im Traum geliebt... diesem Wesen muss ich nachgehen...» So schildert Bettine Brentano den Augenblick, in dem sie sich als Dreizehnjährige in einem Spiegel betrachtet. Sie hat mit ihren beiden Schwestern bis zu diesem Zeitpunkt im Kloster gelebt, wo es, so berichtet sie, keinen Spiegel gegeben habe. Jetzt also begegnet sie sich selbst zum ersten Mal.
Die selbstbewusste alte Dame, die von nun an Bettines Erziehung überwacht, ist befreundet mit vielen Literaten der damaligen Zeit. Eines Tages läutet ein Fremder an der «Grillenhütte», wie Bettines Großmutter ihr Haus nennt. Bettine öffnet, wird mit einem Kuss begrüßt – und antwortet dem Fremden mit einer schallenden Ohrfeige. Dann erst tritt die Großmutter auf, die höchst erfreut ruft: «Ist es möglich? Herder, mein Herder! Dass euer Weg euch zu dieser Grillentür führt? Seid tausendmal umarmt!» Merkt Bettine, wen sie soeben geohrfeigt hat? Sie merkt sich das Erlebnis. Sie schreibt es später auf, schreibt das auf, was für sie wichtig gewesen ist. Der berühmte Dichter und Philosoph Johann Gottfried Herder hat nämlich beim Abschied die Hand auf ihren Kopf gelegt und gesagt: «Diese da scheint sehr selbstständig, wenn Gott ihr diese Gabe für ein Glück zugeteilt hat, so möge sie sich ihrer ungefährdet bedienen, dass alle sich ihrem kühnen Willen fügen und niemand ihren Sinn zu brechen gedenke.»
Natürlich ist die junge Bettine davon beeindruckt. Aber nicht nur davon. Alles, was um sie herum geschieht, formt sie um zu ihrem eigenen Erleben. Sie will sich selbst finden und sich selbst verstehen lernen, sie will ihrer eigenen Stimme folgen, sich von niemand etwas vorschreiben lassen. Das sind unerhörte Gedanken zu einer Zeit, in der junge Mädchen nach dem Grundsatz erzogen werden: «Es muss sich die ganze Erziehung der Frauen im Hinblick auf die Männer vollziehen.» Als Bettine eines Tages einen sehr ungewöhnlichen Berufswunsch äußert – «Könnte ich denn nicht auch ein Wolkenschwimmer werden?» –, findet die Großmutter das zwar «wunderlich», aber halt typisch Bettine. Von ihren Geschwistern wird sie «der Hauskobold» genannt; diese Rolle gibt ihr Narrenfreiheit.
Bettine beginnt zu schreiben, Geschichten über ihre Begegnungen mit der Jüdin Veilchen, der sie beim Sticken aus Liedern von Goethe vorliest, Briefe an ihren älteren Bruder Clemens, den künftigen prominenten Lyriker der Heidelberger Romantik, der sich um ihre Erziehung zur Dichterin bemüht und ihr empfiehlt zu lesen «meistens Goethe und immer Goethe». Vor Goethe noch schwärmt sie für Mirabeau, dessen Revolutionsblätter die Großmutter ihr nach seinem Tode zu lesen gibt.
Der Bruder Clemens macht die kleine Schwester zu seiner Vertrauten. Clemens Brentano, Student und zukünftiger Dichter, beschäftigt sich mit den Gedanken und Utopien der Jenaer Romantik. In Gesprächen und vor allem in vielen Briefen berichtet er Bettine darüber. Über den Briefwechsel von Clemens und Bettine urteilt Joseph von Eichendorff so: Clemens spielt hier den «altklugen Hofmeister gegen seine jüngere Schwester; das steht ihm seltsam zu Gesicht und wird ihm offenbar herzlich sauer, weshalb er denn auch oft genug aus der Rolle fällt und von Bettine derb ausgelacht wird». Aus dieser Beschreibung lässt sich erkennen, dass Bettine sehr lebhaft war und sich schon in diesem Alter nichts gefallen ließ.

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Ludwig Achim von Arnim

Und noch ein Einfluss prägt die Heranwachsende: ihre Freundschaft zu der Dichterin Karoline von Günderrode. Die Günderrode lebt in einem Damenstift in Frankfurt. Gleich beim Kennenlernen ist Bettine von der um fünf Jahre Älteren fasziniert. Wann immer es möglich ist, besucht sie sie in ihrem Stiftszimmer oder schreibt ihr seitenlange Briefe. Geschichte, Mythologie und Kunst, das sind Themen, mit denen die beiden Freundinnen sich auseinandersetzen. Bälle, Modeneuheiten, Rendezvous – für solche Dinge hat Bettine nicht das geringste Interesse, und das schreibt sie auch unbekümmert an ihren großen Bruder. Clemens reagiert mit wachsender Besorgnis. Clemens mahnt, droht, rügt; doch Bettine, so sehr sie den Bruder auch vergöttert, wehrt sich gegen seine Bevormundung. «Über meine Neigungen kannst Du nicht disponieren!», schreibt sie ihm zurück. Und: «Ich selber zu bleiben, das sei meines Lebens Gewinn, und sonst gar nichts will ich von irdischen Glücksgütern!» Als Clemens schließlich ihr einen Mann wünscht, reißt ihr die Geduld: «Ich weiß, was ich bedarf! Ich bedarf, dass ich meine Freiheit behalte!» Mag man sie verstiegen, närrisch, mondsüchtig nennen, ihr ist es einerlei.
Ihre enge Beziehung und ihre schwärmerischen Gefühle zu Karoline hat sie später in einem Briefroman festgehalten. Karoline war der Typ der unglücklich Liebenden und hatte sich, nach studentischen Liebeleien, als Liebespartner ausgerechnet den verheirateten Heidelberger Professor Creuzer auserwählt, der sich jedoch für seine Ehefrau entschied, worauf sich Karoline das Leben nahm. Es trifft Bettine tief, als sie vom Selbstmord ihrer Freundin erfährt: «Unser Zusammenleben war schön; es war die erste Epoche, in der ich mich gewahr ward... Bei ihr lernte ich die ersten Bücher mit Verstand lesen... Ich werde den Schmerz in meinem Leben mit mir führen.»
Die 21-jährige Bettine findet im Haus ihrer Großmutter Briefe, die Goethe in den Jahren 1772–1776 an Sophie La Roche geschrieben hat. Bettines Neugier ist geweckt. Was erfährt sie da: Goethe ist in ihre Mutter, als die noch ein junges Mädchen war, verliebt gewesen? Bettine verehrt ihn, diesen großen Dichter, und nun scheint er ihr plötzlich näher gerückt. Lebt nicht seine Mutter, die Frau Rat Goethe, in Frankfurt? Sie, Bettine, wird Goethes Mutter kennenlernen. Das ist ihr fester Entschluss, und daran kann niemand sie hindern.
1806 sucht sie in Frankfurt Elisabeth Goethe auf, der die schwärmerische Verehrerin ihres Sohnes auf Anhieb sympathisch ist. Ja, sie hat die Aufmerksamkeit, mehr noch: Zuneigung und Vertrauen von Goethes Mutter errungen. Noch kennt Bettine ihren Sohn nicht persönlich. Doch sie hört fast täglich Neues über ihn. Sie lauscht den Erzählungen seiner Mutter. In ihrem Schreibebuch hält sie möglichst wortgetreu fest, was sie zu hören bekommt. Sie hütet ihre Aufzeichnungen wie einen Schatz.
Bettine besteht darauf, den 35 Jahre älteren Goethe zu besuchen, droht, sich als Junge zu verkleiden und zu Fuß nach Weimar zu laufen, sollte ihr der Wunsch verwehrt werden. Im April 1807 verbringt sie einige Stunden mit Goethe in Weimar, sie muss Eindruck auf ihn gemacht und anschließend endgültig das Herz seiner Mutter gewonnen haben, denn die Frau Rat schreibt ihrer jungen Freundin im Juni 1807 : «Liebe – liebe Tochter! Nenne mich ins künftige mit dem mir so teuren Namen Mutter – und du verdienst ihn so sehr, so ganz und gar – mein Sohn sei dein innig geliebter Bruder – dein Freund – der dich gewiss liebt und stolz auf deine Freundschaft ist. Meine Schwiegertochter hat mir geschrieben, wie sehr du ihm gefallen hast – und dass du meine liebe Bettine bist, musst du längst überzeugt sein.» Schon wenige Monate später weilt Bettine noch einmal – diesmal mit ihrer Familie und zehn Tage lang in Weimar bei Goethe, auch ihrer beider Briefwechsel hat bereits eingesetzt.
Jahrzehnte später, wenn Bettine als Schriftstellerin an die Öffentlichkeit tritt, werden wir in ihren Werken all den Personen wieder begegnen, die in ihrer Jugend wichtig für sie waren. Der Bruder Clemens. Die Freundin Karoline. Die Rätin Goethe. Und schließlich er selbst: der von Bettine verehrte, angebetete Johann Wolfgang von Goethe. Der Briefwechsel, den sie von nun an mit ihm führt (ja, sie führt ihn in erster Linie, denn er schreibt nicht gerade häufig zurück, und meistens sehr karg), dieser Briefwechsel also wird später die Grundlage ihres ersten dichterischen Werkes bilden. Ein Satz sei hier nur erwähnt, mit dem Goethe in einem Brief Bettines Wesen im Kern erkennt: «Eigentlich kann man Dir nichts geben, weil Du Dir alles entweder schaffst oder nimmst.» Das schreibt er an die Fünfundzwanzigjährige. Kurz darauf bittet er sie, ihm «Märchen und Anekdoten» aus ihrer Kindheit aufzuschreiben. Denn er arbeitet an seinen Bekenntnissen. Da Bettine die letzten beiden Jahre mit seiner Mutter verbracht habe (sie starb 1808), könne sie ihm doch sicher aus dem Gedächtnis noch vieles mitteilen. Bettine lässt sich nicht lange bitten. Viele Szenen und Erinnerungen, die in Goethes Dichtung und Wahrheit auftauchen, hat Bettine ihm berichtet. «Fahre fort, so lieb und anmutig zu sein!», ermuntert er sie hin und wieder.
In den Jahren bis 1810 reist Bettine zu und mit ihren zahlreichen Verwandten, knüpft Kontakte zu bedeutenden Philosophen und Schriftstellern, so z. B. zu Ludwig Tieck in München, den Heinrich Heine als einen der «tätigsten Schriftsteller der alten romantischen Schule» bezeichnet hatte. Sie liebte seine Werke und nannte ihn einen der wenigen Menschen, die durch ihren Geist einen bestimmenden Einfluss auf sie gehabt hatten. Sie besuchte ihn manchmal tagelang, was sein Neffe später kritisierte: «dass sie schon am frühen Morgen in wunderlichem Aufzug durch die Straßen und den Leuten ins Haus gelaufen und nicht wieder wegzubringen gewesen sei.» Als sie in das Haus ihres Schwagers, Professor Savigny, nach Landshut übersiedelt, wird sie speziell den Studenten gegenüber «unbestrittener weiblicher Mittelpunkt des geselligen Lebens». Auch dem damaligen Jurastudenten und späteren stellvertretenden Bayerischen Innenminister Max Prokop von Freyberg, der sie ein Leben lang verehrte, schwor sie ewige briefliche Treue. Neben Literatur beschäftigt sie sich mit Musik. Sie hat eine gute Altstimme, schreibt einige kleinere Musikstücke, vor allen Dingen aber knüpft sie Kontakte zu den Größen der Musikszene. Sie trifft Beethoven, der 1809 bis 1810 den Auftrag ausführt, Goethes Egmont zu vertonen, in Wien und hat ihn wohl beeindruckt.

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Emilie Linder: Clemens Brentano (nach 1833)

Im Traumland eines Salons trifft Bettine 1810 die Jüdin Rahel Levin, damals noch mit selbstgewähltem Nachnamen Robert, mit der sie eine lange, nicht ganz spannungsfreie Freundschaft verbindet, geknüpft durch das gemeinsame Interesse an sozialen und politischen Problemen und die Verehrung Goethes. Einige Briefe, die Rahel ihrem späteren Mann Karl August Varnhagen von Ense über Goethe schreibt, werden von diesem pseudonym publiziert. Bettine erscheint Rahel von allen, die sie kennt, die geistreichste Frau und umgekehrt bekennt Bettine, dass sie von Rahel zu tieferem Eindringen in ihr Wesen gereizt worden sei. Nach Rahels Tod hilft sie Varnhagen beim Zustandekommen des Buches Rahel: Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde, das auch zur Inspiration ihres eigenen Goethe-Brieferomans beiträgt.
Sie ist inzwischen 25 Jahre alt. Andere Frauen in diesem Alter sind längst verheiratet. Sie aber hat sich bis jetzt energisch dagegen gesträubt. Achim von Arnim, Dichter und Freund ihres Bruders Clemens, bemüht sich schon längere Zeit um sie. Noch vor der Verlobung widmet Achim Bettine sein berühmtestes Frühwerk, die Novellensammlung Der Wintergarten; gemeinsam mit Clemens stellt er 1806–1808 die dreibändige Sammlung Des Knaben Wunderhorn mit 600 deutschen Volksliedern zusammen.
Übermütig beschließen Bettine und Achim von Arnim eine heimliche Hochzeit, eine, die einen «poetischen Zauber» haben soll. Tatsächlich lassen sie sich, ohne Verwandte und Bekannte zu informieren, im Zimmer eines 80-jährigen Predigers trauen. Erst Tage später «gestehen» sie ihre Hochzeit.
Bettine, jetzt also Ehefrau, bald auch Mutter – hat sie sich verändert? «Ich wohne hier wie im Paradies», schreibt sie zwei Monate nach der Hochzeit an Goethe aus Berlin, wo sie jetzt lebt. Vorübergehend scheint es so, als genüge ihr ein «kleines Glück». Jenes Glück, in dem Frauen, wie es heißt, «ihre Erfüllung finden».
Zu einem neuen Treffen mit Goethe kommt es im Sommer 1811. Bedingt durch Schwangerschaftsbeschwerden verzögert sich ihre Abreise aus Weimar, sie verbringt einige Zeit im Hause Goethes, was zu Spannungen speziell mit seiner Frau Christiane führt. Da kommt es in einer Gemäldeausstellung Johann Heinrich Meyers, eines Freundes von Goethe, zum Krach. Der Weimarer Klatsch wusste anschließend zu berichten, Bettine habe sich abfällig gegenüber den Werken von «Kunschtmeyer» geäußert, worauf ihr Christiane die Brille von der Nase gerissen und Bettine die zwanzig Jahre ältere und etwas füllige Frau Geheimrat als «wahnsinnige Blutwurst» tituliert habe. Tatsache ist, dass Goethe Bettine und ihrem frisch angetrauten Ehemann Achim von Arnim fortan das Haus verbietet. Als er das Ehepaar ein Jahr später in Bad Teplitz trifft, nimmt er von ihnen, wie er an seine Frau schreibt, nicht die mindeste Notiz. «Ich bin sehr froh», so schreibt er, «dass ich die Tollhäusler los bin.» Flehentliche Briefe, in denen Bettine ihn um erneute Kontaktaufnahme bittet, lässt er unbeantwortet.
Eigentlich hatte Bettine in den folgenden Jahren genug zu tun. Bettine von Arnim ist zwanzig Jahre verheiratet gewesen und siebenmal Mutter geworden. Ein zwei Bände umfassender Briefwechsel zwischen ihr und ihrem Mann gibt ein deutliches Bild davon, wie aus dieser Ehe, die mit «poetischem Zauber» begann, Alltag wurde. Bettine, die Gespräche, Menschen, Anregungen brauchte, ging immer wieder für Monate nach Berlin, während ihr Mann sein Gut in Wiepersdorf verwaltete. Bettine führt den Haushalt selbst. Sie lernt weben und Kuchen backen und Pfeffergurken einlegen und Fliedermus kochen. Die Kinder haben Fieber, Krämpfe, Ausschlag, Keuchhusten, Zahnschmerzen, und Bettine wacht nächtelang an ihren Betten. «Arm und Beine müde, die Augen voll Schlaf, die Kehle voll Wiegenlieder, werde ich selbst zum Kind, das sich wundert, in dieser geheimnisvollen Welt zu sein», so beschreibt sie sich, zweiundvierzig Jahre alt, nach der Geburt ihres letzten Kindes in einem Brief an ihre Schwester Gunda. Ein paar Jahre vorher hat sie sich bei ihrem Mann entschuldigt: «Lange Briefe kann ich Dir nicht schreiben, denn das Geschrei der Kinder und Müdigkeit halten mich ab.» Zwanzig Jahre Eheleben und Mutterpflichten: «Als Schriftstellerin ist sie in diesen zwanzig Jahren nicht hervorgetreten», bemerkt der Dichter Rudolf Alexander Schröder in seiner Einleitung zu Achim und Bettina in ihren Briefen.
Im Januar 1831 stirbt Achim von Arnim, ein paar Tage vor seinem 50. Geburtstag. Der Tod ihres Mannes traf Bettine schwer. Doch auch diesmal zeigte sie die Kraft, die sich auch alle späteren Krisen überstehen ließ. Lange verdrängte Fähigkeiten und Bedürfnisse blühten auf und sie gründete ihren eigenen Salon, in dem sich der junge Heinrich Heine, Jacob Burckhardt und viele andere trafen.
Im Hochsommer 1831 bricht in Berlin die Cholera aus. Während die Reichen fluchtartig die Stadt verlassen, besucht Bettine das Berliner Armenviertel «Vogtland» (über dessen Zustände sie im Anhang ihres Königsbuches später berichtet); sie sorgt für Kleider, Arznei und ärztliche Hilfe. Nein, nie könnte sie «an einem Unglück teilnehmen», sie will «die Dornen aus dem Pfad reißen». In dieser Phase ihres Lebens baut sie sich eine neue Laufbahn auf. Sie ist künstlerisch produktiv und politisch engagiert. Unbeirrt von äußeren Einflüssen, tastet sie sich zu ihrer eigenen Arbeit als Schriftstellerin vor. Nach dem Tod ihres Mannes kümmert sie sich gleichzeitig um die Herausgabe seines und ihres Werkes.

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Karoline von Günderrode, Anonymes Gemälde, um 1800 Historisches Museum,
Frankfurt am Main

Nach Ablauf des Trauerjahres für ihren verstorbenen Mann trifft Bettine im Berliner Salon des Verlegers Varnhagen auf den ihr gleichaltrigen Hermann Fürst Pückler, der durch seinen Roman Briefe eines Verstorbenen Ruhm als Schriftsteller erlangt hatte. Er animiert sie zur Veröffentlichung ihrer Goethe-Briefe. Das fertige Manuskript schickt sie ihm – mittlerweile 50-jährig und drei Jahre nach dem Tod von Goethe. «Goethes Briefwechsel mit einem Kinde – so ist der Titel meines Buches», schreibt Bettine 1834 an den Fürsten Pückler. «Ach, es ist so zierlich, so unschuldig, so feurig, so bescheiden, so kühn, so naiv, so inspiriert, wie sollte das nicht erfreuen!» So war es auch in der Tat. Die erste Auflage von schätzungsweise 5000 Exemplaren wurde innerhalb des ersten Jahres fast ganz abgesetzt. Eine Übersetzung ins Französische glückt, auch in Russ­land entflammen einige Intellektuelle für Bettines Werk.
Durchaus nicht jeder ihrer Leser reagiert erfreut. Der große Bruder Clemens beispielsweise, der vor Erscheinen die ersten vier Bogen gelesen hat, tadelt (wieder einmal...) die Schwester. Da hat Bettine doch tatsächlich beschrieben, wie sie als junges Mädchen auf Goethes Schoß saß. Clemens fürchtet einen Skandal: «Wird dem Ganzen dadurch irgendein Nutzen gebracht, dass alle Menschen in Europa wissen, dass Du nicht wohlerzogen auf dem Sofa sitzen kannst und Dich übel erzogen auf eines Mannes Schoß setzest? ... Mich ängstigen Deine Kinder, die Söhne in der Fremde, in ordentlicher Stellung, gezwungen, die Ehre der Familie zu erhalten, können durch irgendeine Schmähung... gezwungen werden, in Händel und Duelle zu geraten, die Töchter können in schiefe Richtung geraten oder die Achtung für Dich verlieren...» Hören wir Bettines Antwort darauf: «Lieber Clemente... Dass ich zwar auf Deine gute Meinung alle Rücksichten nehme, nicht aber auf Deine Ansichten Rücksicht nehmen kann, das wirst Du einsehen, wenn Du das Ganze haben wirst. Dass dieses Buch etwas Außerordentliches ist, was in diesem Jahrhundert und wohl auch in den vergangenen kein gleiches finden wird, ist meine wahre Meinung – und da irre ich nicht...» Kühne Sätze. Bettine-Sätze.
Es wird sie sicher enttäuscht haben, dass ihre Söhne – besonders Siegmund, der zweitälteste – ihre Karriere gefährdet sehen wegen einer solchen «ungehörigen Veröffentlichung» der Mutter. Umgeschrieben oder geändert hat sie dennoch nicht ein Wort ihres Manuskriptes. Goethes Briefwechsel mit einem Kind ist ein Briefroman, in dem sie ihre wirklich geführte Korrespondenz mit Goethe überarbeitet und weitergedichtet hat. Sie hat Erinnerung und Fantasie miteinander verwoben, wenn sie ihr Zusammensein mit Goethe schildert. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, dass Briefe eine Kunstform waren, in der sich insbesondere Frauen übten. Briefe richteten sich an einen bestimmten Adressaten, gleichzeitig aber auch an eine literarische Öffentlichkeit. Von Bettine von Arnim erscheinen in den folgenden Jahren weitere Briefromane: Die Günderode (1840) basiert auf dem Briefwechsel, den sie mit ihrer Jugendfreundin geführt hat. Clemens Brentanos Frühlingskranz (1844) enthält den Gedankenaustausch zwischen den Geschwistern Clemens und Bettine Brentano. Hier soll, um einen kleinen Eindruck von Bettines lebhaftem Erzählstil zu vermitteln, eine Stelle aus dem Frühlingskranz folgen: «Es ist wahr, Clemens, in mir ist ein Tummelplatz von Gesichten, alle Natur weit ausgebreitet, die überschwenglich blüht in vollen Pulsschlägen, und das Morgenrot scheint mir in die Seele und beleuchtet alles. Wenn ich die Augen zudrücke mit beiden Daumen und stütze den Kopf auf, dann zieht diese große Naturwelt an mir vorüber, was mich ganz trunken macht. Der Himmel dreht sich langsam, mit Sternbildern bedeckt, die vorüberziehen; und Blumenbäume, die den Teppich der Luft mit Farbenstrahlen durchschießen. Gibt es wohl ein Land, wo dies alles wirklich ist? Und seh ich da hinüber in andre Weltgegenden?»
Bettine betätigt sich politisch. Im Sommer 1837 war die Personalunion zwischen dem Königreich Großbritannien und Hannover beendet. Der neue hannoversche Herrscher löste die Ständeversammlung auf und schaffte das Grundgesetz ab. Sieben Göttinger Professoren, unterstützt vom Göttinger Studentenbund, protestierten gegen den Verfassungsbruch, wurden abgesetzt und verbannt. Es ist ihr Verdienst, dass die zu den «Göttinger Sieben» gehörenden Jacob und Wilhelm Grimm nach ihrer Verbannung und späteren Rehabilitierung 1840 wieder einen Ruf an die Berliner Universität annehmen. Die Fäden dazu spinnt sie aus ihrem Berliner Domizil.
Zu Bettines Spätwerk gehören die beiden Bände ihres Königsbuchs. Der erste Band, dessen Titel die Widmung enthält: «Dies Buch gehört dem König», war adressiert an den Bettine bekannten Kronprinzen, der 1840 König Friedrich Wilhelm IV. wurde. Er galt damals noch als liberaler König. Bettine lässt in ihrem Buch Goethes Mutter, die Frau Rat, Wahrheiten aussprechen, die sehr viel weiter reichen als eine Kritik des feudalen Staates. Die Frau Rat zum Beispiel «hält den Staat für den größten, ja für den einzigen Verbrecher am Verbrechen».
Im Brief, mit dem Bettine das Königsbuch an Friedrich Wilhelm IV. schickt, steht: «Du musst Dein Bürgertum auslösen.» Der König soll erster Bürger einer Gemeinschaft von Bürgern sein und mit ihnen den Staat erschaffen, in dem sie leben wollen. Dass eine Frau ihrer Herkunft solche Gedanken veröffentlichte, war absolut neu.
Als Bettines zweiter Band des Königsbuchs erscheint (Gespräche mit Dämonen, 1852), wird sie als «Communistin» beschimpft – in Bayern und Österreich wird das Königsbuch verboten.
Bettine von Arnim ist eine Frau geworden, die im öffentlichen Blickfeld steht. In den letzten Jahrzehnten ihres Lebens kämpft sie – unerschrocken, aber nie verbittert – gegen polizeiliche Bevormundung, gegen Not und Ungerechtigkeit, setzt sich für die Juden ein, für die schlesischen Weber und wehrt sich gegen fast jede Form von Unterdrückung. «Fast» darum: Gegen die Unterdrückung «der Frauen» wendet sie sich nicht. Nur gegen ihre eigene. Sobald jemand sie einengen oder maßregeln will, begehrt sie auf. Als «Kobold Bettine» (auch als Erwachsene blieb ihr dieses Klischee) nimmt sie eine Sonderstellung ein. Vielleicht ist die französische Schriftstellerin George Sand ihr von allen Zeitgenossinnen am ähnlichsten. Mit ihr wollte sie auch Kontakt aufnehmen. Sie schickte ihr die französische Übersetzung ihres Goethe-Briefromans. George Sand war begeistert von der Lektüre und antwortete umgehend. Doch ihr Brief wurde von der Polizei abgefangen und geöffnet. Man witterte «gefährliche Tendenzen» in der Korrespondenz der beiden Schriftstellerinnen.

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Ludwig Emil Grimm:
Bettine von Arnim

Glücklicherweise bescheren ihr in diesen Zeiten die künstlerischen Seiten auch angenehme Momente: 1853 trifft sie in Düsseldorf den jungen Johannes Brahms, der ganz verliebt war in sie und ihre Tochter Gisela, und Bettine bald darauf ein Liederheft widmete. Zur gleichen Zeit begegnet sie Robert Schumann, der sich von ihr so beeindruckt zeigt, dass er ihr seine Gesänge in der Frühe, sein letztes Werk für Klavier widmet. Als Schumann bald darauf in den Wahnsinn verfällt und sich am Rosenmontag 1854 in den Rhein wirft, kümmert sie sich nach seiner Einweisung in die Irrensanstalt in Endenich bei Bonn um ihn und bittet für ihn um einen Ort, wo er Musik hören und seine Kinder sehen kann. Seine Frau Clara lehnt das Gesuch ab.
Wann ist Bettine von Arnim, die fast vierundsiebzig Jahre alt wurde, eigentlich «alt» geworden? Alt – wenn damit Müdesein und Resignieren gemeint ist – wurde sie nie. Jacob Grimm spricht von ihr als der «alten, immer jungen Bettine». Karl August Varnhagen schrieb 1850 Folgendes über sie: «Häufen Sie Widersprüche auf Widersprüche bergehoch, überschütten Sie alles mit Blumen, lassen Sie Funken und Blitze he­rausleuchten und nennen Sie’s Bettina.»
«Wär ich auf dem Thron, so wollt ich die Welt mit lachendem Mut umwälzen», steht in ihrem Briefroman Die Günderrode. Alle ihre Texte, und gerade auch die Briefromane, strahlen das aus: Bettine von Arnim lebte und schrieb mit «lachendem Mut».
Sie war voll von enormer menschlicher Kraft und Intelligenz, deswegen drängte sie ihr Leben lang nach Erfüllung ihrer selbst. «Immer mehr werden, als ich bin», war einer ihrer Leitsprüche. Durch ihr ungewöhnliches Verhalten für eine Frau ihrer Zeit wurde sie zu einer tatkräftigen, selbstbewussten Weltverbesserin der aufrührerischen Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts.
Sie selbst sagte einmal: «Ich möchte König von Preußen sein. Wo so Großes durch mich könnte bewirkt werden. Wo ich könnte den bösen Zauber von der Welt heben und die Fundamente legen eines Paradieses, weit größer und gewaltiger und himmelreichender als alle Mächte.»

Bettine von Arnim
Schriftstellerin
Zeittafel

1785 Am 4. April in Frankfurt am Main als 13. Kind eines Kaufmanns geboren. Vater: Peter Anton Brentano (1735–1795) stammte aus einem altitalienischen Adelsgeschlecht, war ein reicher Kaufmann und Resident des Kurfürsten von Trier. Mutter: Maximiliane Brentano (geb. La Roche).
1793–1811 Nach dem Tod der Mutter wird Bettine mit ihren Schwestern in Fritzlar bei Ursulinerinnen erzogen. 1797, nach dem Tod des Vaters, zieht sie zu ihrer Großmutter Sophie von La Roche nach Offenbach, lebt später an wechselnden Orten bei ihren verheirateten Schwestern. 1801 schließt sie Freundschaft mit Karoline von Günderrode. 1802 lernt sie Achim von Arnim, den Freund ihres älteren Bruders Clemens Brentano, kennen. 1807 erster Besuch bei Goethe.
1811–1831 Sie heiratet Achim von Arnim; der Ehe entstammen sieben Kinder. 1814 Übersiedlung auf Arnims Gut Wiepersdorf in der Mark Brandenburg, wo Bettine, von zeitweiligen Aufenthalten in Berlin abgesehen, bis zu Arnims Tod 1831 lebt. Danach lässt sie sich mit ihren Kindern in Berlin nieder.
1835 Bettines erstes Buch Goethes Briefwechsel mit einem Kinde erscheint.
1839 In einem zuerst an ihren Schwager Savigny, später direkt an den Kronprinzen gerichteten Schreiben protestiert sie gegen die Entlassung der Brüder Grimm, die zu den «Göttinger Sieben» gehören. Sie erwirkt, dass der preußische König Friedrich Wilhelm IV. die beiden 1840, unmittelbar nach seiner Inthronisation, nach Berlin beruft.
1840 Der Briefroman Die Günderrode erscheint.
1843 Mit der an Friedrich Wilhelm IV. adressierten Schrift Dies Buch gehört dem König tritt Bettine als politische Schriftstellerin in die Öffentlichkeit. Der 2. Band des Königsbuches, Gespräche mit Dämonen, erscheint erst 1852.
1844 Clemens Brentanos Frühlingskranz erscheint, der auf Bettines Briefwechsel mit ihrem Bruder aus den Jahren 1801–1803 basiert. – Sie plant ein Armenbuch, das jedoch Fragment bleibt und erst 1962 veröffentlicht wird.
1859 Am 20. Januar stirbt Bettine in Berlin und wird neben ihrem Gatten in Wiepersdorf beigesetzt.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.dichterinnen.de
http://www.kollektiveautorschaft.uni-koeln.de
http://www.krref.krefeld.schulen.net