Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №8/2009

Das liest man in Deutschland

Der lange Weg nach Westen

Kaum ein Autor trifft den Ton des ost-west-deutschen Dialogs besser als Ingo Schulze. In seinem neuen Roman rückt er die Flucht aus der DDR in die Nähe einer Vertreibung aus dem Paradies.

Die große Erlösung1. Was sonst soll es gewesen sein, als hunderte DDR-Bürger im Sommer 1989 über die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest gen Westen flohen. Als die Mauer von Hunderttausenden in den Novembertagen 1989 stimmgewaltig2 niedergerissen wurde. Es lockte schließlich das vermeintliche3 Paradies der unbeschränkten Konsummöglichkeiten sowie die große Freiheit der weiten Welt. Der Weg aus dem Leben in der nominal demokratischen, jedoch vielmehr volksfernen Republik war plötzlich geebnet4 und offen. In dem begeisterten Taumel5 der Deutschen ging jedoch viel zu schnell die Sensibilität für die Befindlichkeiten der Ost- und Westdeutschen verloren, die das zuweilen immer noch schwierige Zusammenwachsen zwischen «Ossis» und «Wessis» prägen. Wenn in diesem Jahr das 20-jährige Jubiläum des Mauer­falls allerorten zelebriert6 wird, werden die Geschichts- und Polit­apologeten des Landes erneut Weisheiten verbreiten, die wenig mit dem tatsächlichen Leben im Hier und Jetzt zu tun haben. Das Innenleben der Menschen bleibt denjenigen verborgen, die vor der Realität in pseudowissenschaftliche Zahlenwerke und Faktensammlungen flüchten.
Wie es um Deutschland steht, weiß allein derjenige, der sich mit den Menschen in Ost und West befasst, der mit ihnen gelebt und sich mit ihnen ausgetauscht hat. Ingo Schulze ist ein solcher «Menschenfänger», einer, der aufmerksam durch sein Land und auf Menschen zugeht und Sensibilität zeigt für die Freuden und Sorgen des Alltags. Diese Gabe macht ihn zu einem der meistgelesenen der in der ehemaligen DDR geborenen Autoren. Seine Romane Simple Stories und Neue Leben waren wahre Publikumserfolge und sein Erzählband Handy – Dreizehn Geschichten in alter Manier erhielt 2007 den Belletristikpreis der Leipziger Buchmesse. Als Leser gerät man in Ingo Schulzes Geschichten immer wieder in einen Strudel aus Raum und Zeit.
Ingo Schulze dreht nun mit seinem zweiten Wenderoman Adam und Evelyn das Rad der Geschichte erneut sanft zurück und versetzt den Leser in den Sommer 1989, in eine Zeit, in der die Menschen die Geschichte und die Geschichte das Leben der Menschen durcheinander gewirbelt hat. Im Jahr des großen politischen Umbruchs lässt Ingo Schulze seine Romanhelden Adam und Evelyn nach Ungarn reisen. Die politisch und gesellschaftlich angespannte Lage, die eine Reise an den Plattensee alles andere als zufällig erscheinen lässt, heizt Schulze noch durch die privaten Eskapaden7 des Paares auf. Adam ist ein begnadeter Schneider und Evelyn hat ihn in flagranti mit einer seiner Kundinnen erwischt. Sie beschließt, diesem verlogenen Leben zu entfliehen und fährt gemeinsam mit ihrer Freundin Simone und deren Westcousin Michael zum Balaton. Adam fährt ihr hinterher und damit unbewusst einem neuen Leben entgegen. Die Ereignisse überschlagen sich und Adam und Evelyn geraten in den Sog der sozialistischen Endzeit, die 1989 in Ungarn ihren Ausgangspunkt hatte.
Es sind weniger die auf dem furchtbaren Buchcover verkitschten fleischlichen Gelüste, die Ingo Schulze veranlasst haben, seinen Wenderoman im Titel an die Schöpfungsgeschichte anzulehnen. Adam und Evelyn durchlaufen die biblische Geschichte unter den Vorzeichen der weltenwandelnden Moderne. Die für den Ostblock nahezu paradiesischen Zustände der Offenheit, Toleranz und Weltgewandtheit in Ungarn stehen metaphorisch für den Baum der Erkenntnis, von dem beide – einmal dessen Früchte gekostet – nicht mehr lassen können. Und auch bei Schulze nimmt Adam den vom Schicksal getriebenen passiven Part seines biblischen Namensvetters ein, während die ostdeutsche Eva das Geschehen und ihr Leben aktiv vorantreibt.
Wie schon in seinem ersten Wiedervereinigungsroman Neue Leben imaginiert Ingo Schulze eine fesselnde Geschichte aus der Realität heraus. Schulze praktiziert die Geburt der Fiktion aus der realen Geschichte und transformiert diese in die Gegenwart. Es ist die gelebte Erfahrung, die seine Erzählungen und Romane unverwechselbar authen­tisch und zugleich brandaktuell erscheinen lassen. In seinem neuen Roman sind es neben der historischen Kulisse insbesondere die ost- und westdeutschen Stereo­type, die er auf geradezu famose Art und Weise beschreibt.
Schulze zwingt so den Leser, sich längst verdrängte, aber weiterhin existierende Pauschaleindrücke erneut anzuhören und mit respektablem Abstand ihren Untertönen zu lauschen. Insofern ist Adam und Evelyn auch ein Beitrag zum Zusammenwachsen der deutsch-deutschen Gesellschaft, denn nur das aufmerksame Zuhören auf beiden Seiten lässt deutlich werden, dass es immer zwei Wahrheiten gibt. Sätze wie «Bei uns lebst Du einfach besser und länger.» (Michael zu Evelyn über die Verhältnisse in der BRD) oder «Ich denke immer, die wollen was von einem.» (Adam zu Evelyn über die westdeutsche Zuvorkommenheit) lassen dann plötzlich erkennen, dass hinter solchen Aussagen doch eine lang erworbene Sicht auf die Dinge steckt, die immer noch im deutsch-deutschen Dialog mitschwingt. Doch Schulze hebt keinesfalls mahnend den Zeigefinger. Vielmehr zaubert dem Leser auch so manches Schmunzeln auf die Lippen. So scheint der Name Evelyn keineswegs eine willkürliche Abwandlung der biblischen Eva zu sein, sondern vielmehr eine Persiflage auf die amerikanisch anmutenden Vornamen zahlreicher Kinder, die in ostdeutsch sozialisierten Familien aufwachsen. Die unzähligen Kevins, Owens und Justins, Samanthas, Cindys oder Pamelas leben nur wenige Autominuten nordöstlich von Schulzes Quartier im Berliner Prenzlauer Berg. Tagtäglich könnte Schulze eine Evelyn über den Weg laufen.
Adam und Evelyn schafft Erkenntnis über die deutsch-deutschen Zustände, indem er in angenehm leichter Manier Befindlichkeiten offenlegt, die zu lange unberücksichtigt geblieben sind. Wer etwas über die Tage der Wiedervereinigung und über den Zustand einer vereint-gespaltenen Gesellschaft erfahren möchte, greife zu Schulzes neuem Roman. Er legt die Hoffnungen und Erwartungen ebenso offen wie die Bedenken, Ängste und Sorgen der Menschen – die der Wendezeit und die gegenwärtigen. Der Leser kann sich nicht gegen die Wirkung dieses Romans verwehren, der nicht nur Erkenntnis schafft, sondern auch Lust auf mehr macht. Adam und Evelyn ist nicht der Höhepunkt des Schulz’schen Werkes. Doch Schulze ist zweifelsohne einer der besten Geschichtenerzähler Deutschlands. Seine Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2008 macht dies einmal mehr als deutlich.

Von Thomas Hummitzsch

Ingo Schulze: Adam und Evelyn. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2008.

Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de

 

 

1 Er|lö|sung [mhd., ahd. irlosunga], die; -, -en <Pl. selten>: das Erlösen; das Erlöstwerden; Befreiung: E. von seinen Qualen; der Tod war für sie eine E.; etw. als E. empfinden.

2 stimm|ge|wal|tig <Adj.>: (von der [menschlichen] Stimme) sehr laut u. kräftig; mit großem Volumen: ein -er Sänger; mit -em Bass singen.

3 ver|meint|lich <Adj.>: (irrtümlich, fälschlich) vermutet, angenommen; scheinbar: der -e Gangster entpuppte sich als harmloser Tourist; eine v. günstige Gelegenheit.

4 eb|nen <sw. V.; hat> [mhd. ebenen, ahd. ebanon]: eben, glatt, flach machen: einen Weg, Platz e.

5 Tau|mel, der; -s [rückgeb. aus taumeln]: a) Schwin­del[gefühl], Gefühl des Taumelns: ein [leichter] T. befiel, überkam sie; b) rauschhafter Gemütszustand, innere Erregung; Begeisterung, Überschwang: ein T. der Freude ergriff sie; er geriet in einen [wahren] T. des Glücks.

6 ze|le|brie|ren <sw. V.; hat> [lat. celebrare = häufig besuchen; festlich begehen; feiern, preisen, zu: celeber = häufig; berühmt, gefeiert]: 1. (kath. Kirche) eine kirchliche Zeremonie abhalten, durchführen: die Messe z. 2. (bildungsspr., oft scherzh.) (bewusst) feierlich, weihevoll tun, ausführen: ein Essen z. 3. (bildungsspr. selten) feiern, feierlich ehren.

7 Es|ka|pa|de, die; -, -n: 1. (Reiten) falscher Sprung eines Dressurpferdes, Sprung zur Seite. 2. (bildungsspr.) abenteuerlich-eigenwillige Unternehmung, eigenwillige Handlung (insbesondere mutwilliger Streich od. Seitensprung, Abenteuer): sich auf gefährliche politische -n einlassen; man wusste von ihrer E. mit einem italienischen Prinzen.