Bildung und Erziehung
Warum die Dauer-Kritik an Lehrern falsch ist
Angriffe auf Lehrer haben eine lange Tradition. Mal werden sie als dumm und faul beschimpft, dann wieder als schlecht ausgebildet und pädagogisch unfähig. Dabei ist an den Vorwürfen nicht viel Wahres dran. Und noch schlimmer: Die Kritik schadet weniger den Lehrern als den Schülern.
Mit der Kritik an den Schulen ist es wie mit dem Dart-Spiel: Man sammelt Pfeile, versucht zu zielen und freut sich, wenn sie auf der Scheibe haften bleiben oder gar in der Mitte landen. Das heißt in diesem Fall: Wenn man es geschafft hat, die Pfeile «Unsere Lehrer sind viel zu alt» oder «Unsere Lehrer sind zu schlecht» oder «Unsere Lehrer hatten selbst schlechte Abi-Noten» so zu platzieren, dass ein kollektives Kopfschütteln einsetzt, ein paar Hauruck-Sätze von Politikern ertönen und anschließend jeder wieder zu seinem Tagesgeschäft übergeht – und die Schule weiterhin denen überlässt, die damit angeblich überfordert sind.
Wie die Folgen des Wurfspiels aussehen, ob wieder einmal frustrierte Lehrer, misstrauische Eltern und verunsicherte Schüler zurückbleiben, interessiert niemanden mehr. Es herrscht so lange Ruhe, bis der nächste Pfeil fliegt.
Dabei ist Kritik an den Schulen so alt wie die Schule selbst. Mit dem berühmten Satz «Non vitae, sed scholae discimus» (Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir) übte schon der römische Philosoph Seneca Kritik an den Philosophenschulen seiner Zeit. Sie würden den Schülern einerseits etwas vermitteln, was sie im Leben gar nicht brauchen, und andererseits nichts beibringen, was sie fürs Leben tauglich mache.
Erst Pädagogen der Neuzeit haben den Seneca-Spruch auf den Kopf gestellt, um Schüler zu motivieren. Dass ein zeitgenössischer Bildungsforscher den modernen Umkehrspruch «Non scholae, sed vitae discimus» nun aber für «den alten lateinischen Spruch» hält und mit ihm sogar die Forderung verbindet, Lehrer sollten sich gefälligst ein Jahr lang im Wirtschaftsleben umtun, um etwas von der rauen Wirklichkeit da draußen kennenzulernen, hätte Pfeilspitzen von Lateinlehrerseite provozieren können.
Aber die sind erstaunlicherweise ausgeblieben. Vornehm haben sie über den Fauxpas hinweggesehen. Pädagogen sind offenbar einiges gewohnt, erst recht im Einstecken. Dabei zeigt doch dieses Beispiel, dass es Bildungsforschern, die sich in den Elfenbeintürmen wissenschaftlicher Institute kluge Konstrukte zum Thema Schule überlegen, umgekehrt auch guttäte, sich wieder einmal mit den konkreten Inhalten von Schule zu befassen.
Völlig zu Recht fragt der Lernpsychologe Manfred Spitzer, warum Pädagogik-Professoren nicht auch in der Schule unterrichten. «Die Vorstellung, dass ein Professor nach dem Studium für ein paar Monate in eine Klinik geht, um sich dann der Didaktik der Medizin und der Ausbildung der Ärzte (und sonst nichts!) zuzuwenden, ist in der Medizin absurd. Genau dies geschieht jedoch in der Pädagogik», beklagt Spitzer.
Eine Erklärung für dieses Phänomen war bislang nirgends zu hören, stattdessen hagelt es Pfeilspitzen auf Lehrer und Schulen. «Deutschlands Lehrer sehen alt aus», «Deutschlands Schulen vergreisen»: Die Schlagzeilen sollen klarmachen, dass an Deutschlands Schulen viele Lehrer unterrichten, die in ihrer zweiten Lebenshälfte stehen. Ja und? Ist es denn erwiesen, dass ältere Lehrer die schlechteren und jüngere die besseren Lehrer sind? Sind ältere Eltern weniger wert als jüngere und ältere Ärzte unfähiger als jüngere Kollegen? Warum erlaubt man sich aber, an reifen Lehrern zu zweifeln und zu mäkeln?
Unser Ältester hatte Unterricht bei einem Lateinlehrer, der schon pensioniert war. Er gehörte damit der gescholtenen Generation 65 plus an. Was wir mit diesem Lehrer verbinden? Hoch motiviert kam er dreimal die Woche acht Kilometer zur Schule geradelt, um in eben dieser Klasse zu unterrichten. Vermutlich nicht nach den neuesten, pädagogisch korrekten Lernmethoden – aber wen interessiert das, wenn die Schüler vom Unterricht begeistert sind? Wenn sie spüren: der kann was, der mag uns, der will uns mit seiner Leidenschaft für sein Fach anstecken? Der Pensionär machte mit den Schülern eine Exkursion nach Xanten mit Übernachtung in der Jugendherberge. Das stand nicht im Lehrplan, wurde auch nicht evaluiert oder zertifiziert. Der Pensionär tat es gern, weil er frei war.
Auch für die Pfeilspitze «nicht richtig als Lehrer ausgebildet» lässt sich sagen: Mir sind nur Quereinsteiger bekannt, die sich mit 150-prozentigem Einsatz ins Zeug legen. Zum Beispiel der Mittdreißiger-Physiklehrer: Er war zunächst einige Jahre in einer großen Getränkefirma beschäftigt, bis er merkte: Ich will lieber mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Er macht den besten Physikunterricht, den unsere Kinder jemals hatten. Weil er eben nicht nur sein Fach mit Begeisterung vertritt, sondern auch die Schüler liebt. Und weil er vergleichen kann: hier der lebendige Schulbetrieb (den viele «normale» Lehrer als Last empfinden), für den er sich aber bewusst entschieden hat, dort das trockene Firmengeschehen.
Der Lehrer führt die Schüler hin zu «Jugend forscht»-Wettbewerben, unternimmt mit ihnen Einkehrtage im Kloster (um dort über Physik zu sinnieren) und initiiert Betriebsbesichtigungen: Kontakte zur regionalen Wirtschaft fallen ihm leichter als anderen Lehrern, weil ihm die Abläufe in den Firmen geläufig sind. Die Klage der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) über zu viele «Quer- oder Seiteneinsteiger» ist daher nur insofern halbwegs legitim, als die DPG sich verpflichtet fühlt, die Interessen der Physikstudenten zu vertreten.
Die haben Sorge, dass dann, wenn sie fertig sind, die offenen Stellen schon mit Quereinsteigern besetzt sind. Nur: Gilt dieses Problem nicht in jeder Branche? Auch ein Betriebswirt, Germanist oder Jurist muss damit rechnen, nach seinem Studium erst mal nicht recht weg vom Fleck zu kommen, weil der Arbeitsmarkt sich gerade wieder mal gedreht hat. Warum sollten Lehrer davon verschont bleiben? Vielleicht sind die jungen Physiklehrer umgekehrt ja dann auch so flexibel wie die Quereinsteiger und versuchen ihr Glück in der Wirtschaft? Wer hat heutzutage Anspruch auf eine konkrete Stelle bei Antritt seines Studiums? Weinerlichkeit, gepaart mit einer Diffamierung engagierter Quereinsteiger (die in der Regel ja über ein mindestens so anspruchsvolles Physikstudium verfügen wie die Lehramtsstudenten), ist jedenfalls völlig unangebracht.
Und nun zur letzten Pfeilspitze: «Viele Lehrer hatten selbst schlechte Abi-Noten.» Wer an seine eigene Schulzeit zurückdenkt, wird feststellen, dass er nicht von dem Lehrer am meisten profitiert hat, der das meiste Wissen besaß, sondern von dem, der sein Wissen am besten zu vermitteln wusste. Und das kann ein Lehrer, der selbst Probleme in der Schule hatte, womöglich besser als ein Einserkandidat. Auch in der Medizin hat man doch längst erkannt: Der Einserkandidat ist nicht zwangsläufig ein guter Arzt. Deshalb fahnden viele Universitäten in den Medizinstudiengängen jetzt auch nach anderen Kriterien als nur nach Noten.
Der Lehrer, der sich selbst in der Schule anstrengen musste, wird geduldiger sein und mehr Verständnis für die Probleme der Schüler aufbringen als der Überflieger. Auch sagt die Durchschnittsnote im Abitur, die sich ja aus mehreren Fächern zusammensetzt, noch lange nichts darüber aus, ob ein Lehrer sein später gewähltes Fach nicht doch souverän beherrscht. Hat denn jeder BWL-Student ein Einserzeugnis gehabt? Gibt es nicht auch Zweier- und Dreierkandidaten, die zu kompetenten Geschäftsführern aufgestiegen sind?
Die besten Lehrer sind die, die sich von all dem öffentlichen Getöse nicht irremachen lassen. Die sich im Interesse der Kinder auch mal von amtlichen Zwängen befreien zugunsten eines individuellen, am Heranwachsenden orientierten Unterrichts. Ob der Lehrer alt oder jung, dick oder dünn, reich oder arm, Einser- oder Dreierkandidat ist: Was spielt denn das für eine Rolle?
Der Text ist entnommen aus: http://www.welt.de