Das liest man in Deutschland
Strindbergeln für Lion
Die sportlichste aller Dichtergattinnen: Manfred Flügges Biografie über Marta Feuchtwanger.
St. Anton, Arlberg, am 30. Januar 1933: Nach einer anstrengenden Skitour erreicht Marta Feuchtwanger endlich eine Hütte. Drinnen geht es fröhlich zu, schließlich wird mit Adolf Hitler jetzt alles besser. Auch Marta soll mitfeiern. Erst gibt sie vor, zu erschöpft zu sein, dann trinkt sie, aus Angst aufzufallen, doch mit, liegt nach dem achten Himbeergeist betäubt auf ihrer Pritsche und schämt sich, nicht offen ihre Meinung gesagt zu haben.
Mit dieser Szene ließ 2007 Michael Lentz seinen Emigrantenroman Pazifik Exil beginnen. Ort und Zeit stimmen; von ihrem jährlichen Skiurlaub konnte diese wohl sportlichste aller Dichtergattinnen später nicht einmal der Kriegsausbruch abhalten. Das einzig Fiktive an der Szene ist Martas Mimikry, und diese erscheint wenig überzeugend, so legendär ist die Courage dieser Frau. Schon die Schülerin schrie, nach einer entsprechenden antisemitischen Beleidigung von Klassenkameraden, «Ihr Sauchristen!» zurück, um sich in der anschließenden Prügelei prompt als die Stärkere zu erweisen.
Nachzulesen ist das in der jetzt von Manfred Flügge vorgelegten Biografie über Marta Feuchtwanger, die 1891 in München als Tochter von Reformjuden geboren wurde und 1987 als Weltbürgerin und Repräsentantin des deutschen Exils in Los Angeles starb. Ihre eigene, überaus versöhnlich gestimmte Lebensbeschreibung trägt den Titel Nur eine Frau (1983): Ironisch war das nicht gemeint, sah sie sich doch zeitlebens vor allem als Dienerin ihres Mannes. «Mein Leben begann mit dem Tag, an dem ich Lion das erste Mal traf», sagte sie einmal. Erst im Alter°– sie überlebte den Romancier um fast 30 Jahre – wunderte sie sich darüber, dass sie so lange davon überzeugt gewesen war, Männer seien Frauen überlegen, physisch wie intellektuell.
Diese faszinierende Frau und Lion Feuchtwanger, das muss schon ein seltsames Paar gewesen sein: Marta, hochgewachsen, durchtrainiert (sie schwamm, lief und turnte täglich) und mit ihrem dunklen Teint von exotischer Schönheit, und Lion, gerade mal 165 Zentimeter groß, schmächtig, mit kindlich-zerknautschtem Gesicht und heller Stimme. Sie lebensklug und souverän, zumal als Gastgeberin inmitten weltberühmter Autoren, er weltfremd und im Praktischen hilflos wie ein Kind. Natürlich war sie es, die in dieser Beziehung nachts den geplatzten Reifen wechselte (für ihre rasante Fahrweise war Marta berüchtigt), während er die Taschenlampe hielt.
Ohne Marta wäre Lion Feuchtwanger, dieser Spieler und Hallodri, «im Dunstkreis des Hofbräuhauses geblieben, eine Dilettantenfigur wie manche seiner Romanhelden», ist Manfred Flügge überzeugt. Marta sozialisierte das Dichtergenie nicht nur, sie war auch seine «Ernährungsberaterin und Fitnesstrainerin»: «Iss viel Salat und Orangen, turn täglich, geh viel und schnell spazieren», schrieb sie ihm noch im Oktober 1933 aus dem Krankenhaus, wo sie nach einem Autounfall zwischen Leben und Tod schwebte. Vor allem aber schuf sie dem Autor immer wieder ein Zuhause, fand und möblierte traumhafte Villen und gestaltete zauberhafte Gärten: erst im Berliner Grunewald, später im Exil im Fischerdorf Sanary-sur-Mer und in Los Angeles.
Manfred Flügge nutzt für seine glänzend geschriebene Darstellung alle verfügbaren Quellen, darunter auch Martas Interviews, die sie in ihren letzten Lebensjahren als gefragte Zeitzeugin gab. Wo sich ihre Erinnerungen im Detail widersprechen, entscheidet sich der Biograf für die jeweils plausibelste Version. Eine besondere Rolle spielt dabei Lion Feuchtwangers unveröffentlichtes Journal intime aus den Jahren 1906 bis 1940. Über dessen pikanten Inhalt war man zwar bereits seit Wilhelm von Sternburgs großer Feuchtwanger-Biografie (1994) informiert, aber das ganze Ausmaß der – akribisch vermerkten – Eskapaden dieses Schriftstellers überrascht denn doch. Sich Feuchtwanger überhaupt als Womanizer vorzustellen, fällt schwer, doch entwickelte er zumindest in diesem Bereich ein erstaunliches Geschick. Manchmal führte Feuchtwanger ein halbes Dutzend Beziehungen gleichzeitig, in einigen Fällen regelrechte Nebenehen. Überschaubar war dabei die Bewertungsskala, mit der der Erotomane seine Erlebnisse quittierte: Sie reichte von «fad» über «mittel» bis «nett».
Manfred Flügge sieht in Feuchtwangers Dauererregung einen Schlüssel fürs Werk: Die private Untugend war nur die Kehrseite für Feuchtwangers Gespür für Zeitströmungen, machte ihn zum lebenden Seismografen. Und Marta? Die war, wie sie in Interviews später stets betonte, über alles informiert. Die Feuchtwangers führten eine «offene Ehe», und auch Marta mit ihren vielen Verehrern war kein Kind von Traurigkeit.
Ganz so einfach war es aber offenkundig doch nicht. Im Spiegel von Lions Tagebuch jedenfalls erscheint Marta als ewige Nervensäge, die den Dichter mit den Kalamitäten des Alltags konfrontiert. Vor allem aber galt es, ihre Launen zu ertragen. «Marta strindbergelt», notiert der genervte Dichter ein ums andere Mal. Wobei zwischen Martas Rumgezicke und Lions Eskapaden offenkundig eine positive Korrelation bestand. Die untergründige Asymmetrie dieser Beziehung begann schon mit ihrem ersten Date im Januar 1910: «Mit [...] einem Fräulein Löffler, einer nicht eben gescheiten, aber recht temperamentvollen jungen Jüdin», schreibt der junge Lion Feuchtwanger, damals eher eine Skandalnudel der Münchner Gesellschaft als eine ernstzunehmende literarische Hoffnung. «Sie hernach ins Café geschleppt und schließlich tüchtig abgeküsst.»
Aus dem Faschingsflirt wurde, zu Lions unverhohlener Überraschung, mehr. Zur Schicksalsgemeinschaft wurde das Paar, nachdem Marta in der Schweiz die Geburt einer (nur wenige Tage überlebenden) Tochter beinah das Leben gekostet hätte. Nach diesem Schock reiste das inzwischen verheiratete Paar einfach immer weiter in den Süden, wanderte zwei Jahre lang durch Italien, überstand in Neapel nur mit Glück eine Typhusinfektion und gelangte schließlich im Sommer 1914 nach Tunis, wo Lion nach Kriegsausbruch als Deutscher in französische Schutzhaft geriet.
Ohne Martas tollkühne Befreiungsaktion wäre Lion dort wohl auch geblieben. Nach dem Krieg begann dessen Karriere als international gefeierter Romancier, natürlich auch dank Marta, zeit seines Lebens seine wichtigste Kritikerin: Sie war es, die ihm riet, aus dem Jud Süß-Stoff einen Roman zu machen. Die schönste Zeit erlebte das Paar nach 1933 an der Côte d’Azur. Nur dass Lion aus dem heute legendenumwobenen Sanary, wo sich alle versammelten, Thomas Mann und die Seinen ebenso wie Bertolt Brecht oder Arnold Zweig, den Schauplatz einer «Seifenoper» (Flügge) machen musste. Seine diversen Amouren, vor allem aber seine Leidenschaft für die Malerin Eva Herrmann, beschäftigten den Autor am Ende so sehr, dass er darüber alle Gelegenheiten zur Überfahrt in die USA versäumte.
Bis er schließlich im Juni 1940 erneut von den Franzosen interniert wurde und wieder von seiner Frau befreit werden musste – nachdem Marta zuvor die Flucht aus einem anderen Internierungslager geglückt war. Das alles hinderte den Autor nicht, sich während ihres Marsches über die Pyrenäen im September 1940 über die «vielen kleinen geschäftigen Torheiten Martas» zu ärgern, ja, sie sogar als «Bürde» zu empfinden. Tatsächlich musste sie dann auch erst das folgende Schiff nach New York nehmen, während Lion schon dem Wiedersehen mit Eva Herrmann entgegenfieberte.
Kein Wunder also, dass einem an dieser Beziehung am Ende vieles rätselhaft bleibt. Was auch daran liegt, dass über Martas außereheliche Aktivitäten viel weniger bekannt ist als über die ihres Mannes, sodass sich Flügges Darstellung streckenweise eher wie eine Lion-Feuchtwanger-Biografie liest. In die Rolle der betrogenen Ehefrau schlüpfte Marta jedenfalls nie, hielt sogar über Lions Tod 1958 hinaus zu ihren Rivalinnen freundschaftlichen Kontakt.
In den 1960er Jahren wurde sie endgültig zur umschwärmten «Partylöwin»; ihre Villa, heute als «Villa Aurora» ein Stipendiatenzentrum, wurde ein Mittelpunkt des kulturellen Lebens von Los Angeles. Eine ganz individuelle, paradoxe Form der Emanzipation will Flügge daher in Martas Leben erkennen: Schließlich hätte ihr allein das Zusammensein mit Lion, der ihr alle Freiheiten ließ, ein abenteuerlich-glanzvolles Leben auf internationaler Bühne ermöglicht.
Von Oliver Pfohlmann
Manfred Flügge: Die vier Leben der Marta Feuchtwanger. Biographie. Mit Abbildungen. Aufbau Verlag, Berlin 2008.
Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de