Wissenschaft und Technik
19 Stunden in der Hölle
Der Ausbruch des Vesuv hat Pompeji ausgelöscht – doch viele Leichen und Gebäude haben die Jahrhunderte überdauert. In einem einmaligen Projekt ist es Forschern jetzt gelungen, den letzten Tag einer Familie zu rekonstruieren: Mit beklemmender Präzision zeigen sie, wie qualvoll die Menschen starben.
Haus des Kaufmanns Julius Polybius an Pompejis Hauptstraße Via dell’ Abbondanza: Für eine Familie wurde die Villa beim Ausbruch des Vesuvs zur Todesfalle. Forscher haben jetzt ihre letzten Stunden rekonstruiert.
Der 24. August 79 war in Pompeji ein sonniger Spätsommertag. In den Gassen der Stadt am Golf von Neapel herrschte geschäftiges Treiben. Als gegen 13 Uhr die Erde zu grollen begann, ahnte kaum jemand etwas von der drohenden Katastrophe. An Erdbeben waren die Bewohner der Stadt fast gewöhnt: Das letzte große lag erst 17 Jahre zurück. Die Handwerker verdienten noch immer gutes Geld damit, hier ein beschädigtes Dach zu flicken und dort einen eingestürzten Schuppen wieder aufzubauen.
Doch diesmal war es anders. Aus dem nahen Vesuv, von dem die alten Legenden noch erzählten, er habe einst Feuer auf die Felder regnen lassen, stieg eine Rauchwolke auf. Sie hatte die Form einer Pinie, deren Äste sich am oberen Ende des Stammes ausfächern. Im Garten der luxuriösen Villa von Julius Polybius, direkt an der Hauptstraße Via dell’ Abbondanza, stand eine junge Frau. Sie war hochschwanger mit dem Kind des Neffen des reichen Kaufmanns. Vielleicht hatte sie Angst, als sie die bedrohliche Rauchsäule sah. Vielleicht war ihr das Spektakel auch gleichgültig – man wird es nie erfahren.
Doch wie die junge Frau gestorben ist, wissen Forscher jetzt. Der Vulkanologe Claudio Scarpati von der Universität Neapel Federico II hat gemeinsam mit seinen Kollegen Giuseppe Luongo und Annamaria Perrotta die letzten Stunden der werdenden Mutter und ihrer Familie rekonstruiert. Die Forscher untersuchten die vulkanischen Ablagerungen in der Villa des Polybius. Den Zeitplan der Katastrophe kannten sie bereits: Minutiös hatte der Schriftsteller Plinius der Jüngere in seinen Briefen an den Geschichtsschreiber Tacitus darüber berichtet. Er schildert darin das Ende seines Onkels, Plinius des Älteren, der in dem Glutregen das Leben verlor.
Verbindung von Vulkanologie und Archäologie
Was genau in der Villa des Polybius geschah, haben die Forscher dank einer Kombination aus Archäologie und Vulkanologie rekonstruieren können. «Wir haben eine Methode entwickelt, mit der wir nachvollziehen können, welche Gebäudeschäden von welchen Eruptionsphasen verursacht wurden», sagt Scarpati. Dazu mussten sich die Forscher die Abfolge der verschiedenen Schichten anschauen: Stürzte eine Mauer ein, bevor ein pyroklastischer Strom darüber hinwegfegte? Oder liegen seine Ablagerungen darunter? Brach das Dach unter dem Gewicht des Ascheregens zusammen? Wie viel Asche liegt dann unter den Trümmern und wie viel darüber?
Auch Erbgutanalysen flossen in die Untersuchung ein. Die neapolitanische Molekularbiologin Marilena Cipollaro untersuchte die mitochondrische DNA der toten Familie, die aus drei Männern, drei Frauen zwischen 16 und 18 Jahren, vier Jungen und einem Mädchen bestand. «Die Kinder waren vermutlich Geschwister», fand Cipollaro heraus. «Einer der Männer, zwischen 25 und 30 Jahre alt, könnte ein Cousin gewesen sein. Die drei älteren Frauen aber waren nicht verwandt.» Wer waren diese Menschen? Aller Wahrscheinlichkeit nach ein Ehepaar mit seinen Kindern, einem Cousin mit seiner jungen Frau und zwei Sklaven.
Seit sechs Jahren forschen Scarpati und seine Kollegen in Pompeji und haben außer dem Haus des Polybius auch den Friedhof an der Porta Nola sowie die sogenannte Region III mit weiteren Wohnhäusern untersucht. «Die Ausgrabungen an diesen Stellen bestätigen unsere Beobachtungen im Haus des Polybius über den Ablauf der Katastrophe», sagt Scarpati.
Demnach hatte die Familie noch etwas mehr als 19 Stunden zu leben, nachdem der Ausbruch begonnen hatte. «Die Bewohner entschlossen sich in dieser ersten Phase, im Haus zu bleiben – wahrscheinlich weil es sicherer war für die hochschwangere Frau. Unter den Umständen war das auch die richtige Strategie», sagt Scarpati.
Flucht in die Todesfalle
Viele andere Einwohner Pompejis versuchten derweil, aus der Stadt zu fliehen – und liefen in eine tödliche Falle. Denn inzwischen gingen über Pompeji nicht nur heiße Asche, sondern auch größere Gesteinsbrocken nieder. Mit 200 Kilometern pro Stunde regneten die glühenden Geschosse herab. 38 Prozent der bisher gefundenen Toten starben während dieser ersten Stunden. «Die Skelette, die im Freien lagen, haben oft eingeschlagene Schädel», sagt Scarpati.
Wahrscheinlich lag der Blutzoll des Gesteinsregens noch viel höher. Denn außerhalb der Stadt fanden bislang nur wenige archäologische Untersuchungen statt, und gerade dort waren die Fliehenden dem steinigen Regen schutzlos ausgeliefert. Niemand weiß, wie viele Tote noch unter der meterdicken Tuffschicht über den einstigen Ausfallstraßen Pompejis ruhen.
Was hätte der Vulkanologe Scarpati selber an jenem Morgen getan?
Der letzte Akt des Untergangs – wie das Ende Pompeji besiegelt wurde und warum es für die Menschen kein Entkommen gab
«Die Einwohner von Pompeji sahen die Eruptionssäule 32 Kilometer hoch aufsteigen», sagt Scarpati. «Eine riesige Wolke verdunkelte die Sonne. Bimsstein regnete vom Himmel und bedeckte alles unter sich. Auch ich hätte meine Familie, meine Kinder genommen und versucht, so schnell wie möglich vor dem Vulkan zu fliehen.»
Immer dichter fiel das vulkanische Material. Mit jeder Stunde wuchs der Belag auf den Straßen um 15 Zentimeter. Bald konnten die Dächer der Häuser das Gewicht nicht mehr tragen. Gegen 19 Uhr, so die Berechnungen der Forscher, gab das Dach im vorderen Teil von Polybius’ Villa nach. Die Familie flüchtete in den hinteren Teil. Dort war das Dach steiler, sodass die Asche herunterrutschen konnte. Die Geräuschkulisse muss beängstigend gewesen sein. Unter dem Brüllen des Vesuvs hörte man die ganze Nacht das Krachen einstürzender Häuser.
Minutiöse Rekonstruktion dank Plinius
Dank der Aufzeichnungen des Plinius konnten die Wissenschaftler die Schäden an Polybius’ Villa in ein zeitliches Raster einordnen und das Verhalten der Bewohner nachvollziehen. «Wir verstanden erst dann, warum die Leichen ausgerechnet in den hinteren Räumen unter dem steilen Dach lagen», sagt Scarpati. «Die Familie hatte sich in den sichersten Teil des Hauses zurückgezogen.»
Als sich die Katastrophe ihrem Finale näherte, kauerten die werdende Mutter und ihr Mann in der nordwestlichen Ecke des Raumes. Zwei weitere Personen befanden sich auf Liegen. Vielleicht versuchten sie noch, trotz des Lärms ein wenig zu schlafen.
Der Tod kam in den frühen Morgenstunden des 25. August. Die feurige Eruptionssäule über dem Vulkan brach in sich zusammen. Pyroklastische Ströme schossen ins Tal. Der bis zu 800 Grad heiße Gluthauch aus heißen Gasen und geschmolzenem Gestein löschte alles Leben in seinem Weg aus. «Der erste pyroklastische Strom kam von Norden und rollte über den hinteren Teil des Hauses hinweg», sagt Scarpati. «Er rauschte in den Garten und zur Vorderseite des Hauses. Es gab kein Entkommen. Die Asche drängte sich in jede Ritze und erstickte die Bewohner.»
Einige Menschen haben selbst diese Hölle noch überlebt. «Wir fanden Opfer draußen auf den Straßen, die deutlich über der Schicht aus der Basaltasche des ersten pyroklastischen Stroms lagen», sagt Scarpati. Sie starben erst in einer der fünf weiteren Glutwalzen, die bis zum Morgengrauen folgten.
Die Sonne ging nicht auf an jenem Tag. Zu dicht war der feine Ascheregen, der immer noch auf die Stadt niederging. Zwischen 7 und 8 Uhr kollabierte auch das Dach über dem hinteren Teil der Villa des Polybius. Erst dann wurde es still.
Von Angelika Franz
Der Text ist entnommen aus: http://www.spiegel.de